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Lösungsvorschlag

Panzer unter den Linden

Straßenrechtliche Aspekte provokanter Kunstaktionen im öffentlichen Raum

Hinweis: Die Klausur beruht auf einem Fall, der vom VG Berlin am 11.10.2022 (Aktenzeichen:1 L 304/22) entschieden wurde. Dort ging es allein um Genehmigungen nach § 46 StVO. Aus didaktischen Gründen wurde der Fall um einen Antrag auf Sondernutzung nach § 11 BerlStrG erweitert. Der Rechtsrahmen des BerlStrG und der Aufbau eines Anspruchs auf Sondernutzungserlaubnis sollten den Studierenden bekannt sein. Für § 46 StVO genügt es, wenn der Gesetzestext herangezogen wird. Prozessual wirft der Fall keine Besonderheiten auf. Es genügt, wenn der Aufbau eines Antrags nach § 123 I VwGO bekannt ist und die Abgrenzungsprobleme beherrscht werden. Aufbautechnisch ist es auch gut vertretbar, den Haupt- und den Hilfsantrag getrennt zu prüfen. Lediglich aus klausurökonomischen Gründen werden beide Anträge in der Lösungsskizze zusammen geprüft. In der Begründetheit ist es entscheidend, die Grundrechtsprüfung sinnvoll in den Prüfungsaufbau zu integrieren. Das konkrete Ergebnis zur Einschlägigkeit von Art. 5 I und/oder 5 III GG ist weniger entscheidend als die Argumentation im Einzelfall. Insgesamt ist die Klausur von einem mittleren Schwierigkeitsgrad.

 

Die Rechtsbehelfe des aKK e.V. haben Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet sind.

A. Zulässigkeit

Der Antrag müsste zulässig sein.

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 VwGO)

Dazu müsste zunächst der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein.

1. Aufdrängende Sonderzuweisung

Eine aufdrängende Sonderzuweisung ist nicht einschlägig.

2. § 40 Abs. 1 VwGO (Generalklausel)

a) öffentlich-rechtliche Streitigkeit

Die streitentscheidenden Normen der Straßenverkehrsordnung (§ 46 I S.1 Nr. 8) und des Berliner Straßengesetzes (§ 11) sind nach allen gängigen Theorien solche des öffentlichen Rechts.

b) nichtverfassungsrechtlicher Art

Die Streitigkeit ist nichtverfassungsrechtlicher Art, da die Beteiligten keine Verfassungsorgane sind (Lehre von der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit).

 

c) keine abdrängende Sonderzuweisung

Eine abdrängende Sonderzuweisung liegt nicht vor.

 

II. Statthafter Rechtsbehelf

Der statthafte Rechtsbehelf richtet sich nach dem Begehren des Klägers, unter verständiger Würdigung der Sach- und Rechtslage (vgl. § 88, 122 Abs. 1 VwGO).

Der aKK e.V. begehrt hier vorläufigen Rechtsschutz. Dafür kommen mehrere Anträge in Betracht.

1. Abgrenzung zu § 80 Abs. 5 S. 1, § 80 a Abs. 3 VwGO; § 123 Abs. 5 VwGO (Subsidiarität)

Ein Antrag nach § 123 VwGO ist nur statthaft, wenn in der Hauptsache keine Anfechtungsklage (§ 42 I Alt. 1 VwGO) und kein Anfechtungswiderspruch (§ 68 I 1 VwGO) statthaft wären.

Vorliegend begehrt der aKK e.V. den Erlass einer straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmeerlaubnis bzw. einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis. Insofern kommt in der Hauptsache keine Anfechtungsklage, sondern eine Verpflichtungsklage in Betracht.

Der Antrag nach § 123 VwGO ist vorliegend statthaft.

 

2. Abgrenzung von Sicherungs- und Regelungsanordnung

Weiterhin ist zwischen § 123 Abs. 1 S. 1 und S. 2 VwGO abzugrenzen.

- Beibehaltung des Status quo -> Sicherungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 1 VwGO)

- Erweiterung des Rechtskreises des Antragstellers -> Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO)

Der aKK e.V. begehrt eine Regelungsanordnung, da die begehrten Erlaubnisse den Rechtskreis des Antragstellers erweitern würden.

 

III. Antragsbefugnis

1. Anordnungsanspruch: § 42 Abs. 2 VwGO analog

Analog § 42 II VwGO müsste der aKK e.V. geltend machen können, durch die Ablehnung der Erlaubnisse möglicherweise in seinen Rechten verletzt zu sein. Ein Anspruch könnte sich hier aus den gesetzlichen Vorschriften ergeben. Zwar steht es danach grdsl. im Ermessen der Behörde eine Ausnahme zu genehmigen (§ 46 I StVO „können“; § 11 II BerlStrG sieht ein intendiertes Ermessen vor; „soll in der Regel“), das Ermessen könnte aber wegen der grundrechtlichen Bedeutung des Begehrens auf null reduziert sein.

Der aKK e.V. kann sich über Art. 19 III GG als „inländische juristische Person“ auf Grundrechte berufen. Sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Kunstfreiheit sind ihrem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar.[1] Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass diese Grundrechte vorliegend betroffen sind und durch die Ablehnung des Begehrens des Antragstellers nicht ausreichend gewürdigt wurden. Ein Anordnungsanspruch liegt damit möglicherweise vor.

 

2. Anordnungsgrund

Eine Anordnung nach § 123 I S. 2 VwGO kommt nur in Betracht „um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern“ oder wenn die vorläufige Regelung oder „aus anderen Gründen nötig erscheint.“ Für die Zulässigkeit genügt wiederrum, dass das Vorliegen dieser Voraussetzung möglich erscheint.[2]

Der weitere Verlauf des Kriegs in der Ukraine kann nicht präzise vorhergesagt werden. Insofern erscheint es durchaus möglich, dass der Zweck der „Ausstellung“ bei weiterem Abwarten nicht erreicht werden kann und damit die möglicherweise einschlägigen Grundrechte ins Leere laufen.

Ein Anordnungsgrund liegt möglicherweise vor. Die Antragsbefugnis ist damit gegeben.

 

IV. Vorverfahren (Verpflichtungssituation)

Ein Vorverfahren ist hier grdsl. nicht vorgesehen. Die ablehnende Verwaltungsentscheidung darf aber noch nicht bestandskräftig geworden sein. Das Einlegen eines Widerspruchs muss also noch möglich sein.

Hier wurde Widerspruch eingelegt. Die ablehnende Entscheidung ist nicht bestandskräftig geworden.

 

V. Antragsgegner

Die Bestimmung des Antragsgegners richtet sich nach den Bestimmungen zum Klagegegner. Klagegegner ist nach § 78 I Nr. 1 VwGO das Land Berlin. Nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 VwGO genügt jedoch die Angabe der sachentscheidenden Behörde.

Vorliegend wird der Antrag gegen das Bezirksamt Mitte eingelegt. Dies genügt den gesetzlichen Anforderungen.

 

VI. Beteiligten- und Prozessfähigkeit (§ 61, 62 VwGO)

Der aKK e.V. ist nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO beteiligtenfähig und nach § 62 Abs. 3 VwGO prozessfähig. Das Land Berlin ist nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO beteiligtenfähig und nach § 62 Abs. 3 VwGO prozessfähig.

IX. (Allgemeines) Rechtsschutzbedürfnis

Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Insbesondere hat der aKK e.V. zunächst einen Antrag bei der zuständigen Behörde gestellt.

 

X. Zuständigkeit des Gerichts 

Vor Anhängigkeit der Hauptsache ist das Gericht anzurufen, das örtlich und sachlich (= instanziell) für die entsprechende Hauptsache zuständig wäre.[3] Das Verwaltungsgericht Berlin ist hier sachlich (§ 45 VwGO) und örtlich (§ 52 Nr. 3 S. 5 VwGO) zuständig.

 

B. Begründetheit

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet, wenn der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund iSd. § 123 VwGO glaubhaft gemacht hat (Vgl. § 123 Abs. 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).

 

I. Glaubhafter Anordnungsanspruch

Zunächst müsste der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben. Das ist der Fall, wenn nach summarischer Prüfung dem aKK e.V. ein Anspruch auf die (uneingeschränkte) Erlaubnis zusteht.

1. Mittelstreifen: Erlaubnis nach § 46 StVO

Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch könnten die §§ 46 Abs. 1 Nr. 8 und 32 Abs. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) i. V. m. § 8 Abs. 6 Bundesfernstraßengesetz (FStrG) sein. Nach § 8 Abs. 6 FStrG bedarf es hierzu keiner zusätzlichen Sondernutzungserlaubnis (Konzentrationswirkung). Insofern stellt sich allein die Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis nach § 46 StVO besteht.

a) Erlaubnisbedürftigkeit

Eine solche Erlaubnis müsste zunächst erforderlich sein. Dazu müsste es sich bei dem Panzerwrack um ein Hindernis im Sinne des § 32 I S. 1 StVO handeln. Ein solches ist gegeben, wenn ein Gegenstand auf die Straße gebracht wird, durch den der Verkehr gefährdet oder erschwert werden kann. Die Vorschrift ist im Interesse der Verkehrssicherheit weit auszulegen und umfasst alle verkehrsfremden Sachen, die den Verkehr mit einiger Wahrscheinlichkeit gefährden oder erschweren.[4]

Vorliegend wird durch das Panzerwrack zumindest der Fußgängerverkehr erschwert, da diese dem Panzerwrack unter Umständen ausweichen müssen. Ein „Hindernis“ liegt vor.

b) Erlaubnisfähigkeit

Weitere tatbestandliche Voraussetzungen hat die Vorschrift nicht. Ziel der Norm ist es, besonderen Ausnahmesituationen Rechnung zu tragen, in denen bei strikter Anwendung der StVO eine unbillige Härte für die Betroffenen entstehen würde.

Im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens sind allerdings bestimmte Grenzen zu beachten. So muss die Ermessensausübung sich an sachlichen Erwägungen orientieren und dem Zweck der Ermächtigung, hier straßenverkehrs- und straßenrechtlichen Erwägungen, entsprechen.[5] Demgegenüber sind aber auch grundrechtliche Interessen der Antragsteller zu beachten.

Ein straßenrechtlicher Belang ist auch die Substanz der Straße.[6] Zudem drohen bei einem Einsturz der Straßendecke erhebliche Auswirkungen auf die übrigen Verkehrsteilnehmer*innen. Die von der Behörde vorgebrachten Sicherheitsbedenken erscheinen glaubhaft. Die grundrechtlichen Interessen des aKK e.V. würden – selbst wenn sie einschlägig sind – am Ergebnis nichts ändern, da die Kunstaktion auch auf dem „Vorplatz“ ihre Wirkung entfalten kann und im Übrigen die Sicherheitsbedenken überwiegen.

Ein Anspruch auf eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 I Nr. 8 StVO zum Aufstellen des Panzerwracks auf der Mittelinsel besteht nicht.[7]

2. Vorplatz: Straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis

Es könnte aber ein Anspruch auf eine straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis im Hinblick auf den Vorplatz bestehen.

a) Anspruchsgrundlage

Als Anspruchsgrundlage kommt nur § 11 Abs. 1 BerlStrG in Betracht. Diese Vorschrift vermittelt dem Antragsteller ein subjektives Recht gegenüber der Behörde.

b) Formelle Anspruchsvoraussetzungen

Die formellen Voraussetzungen (Zuständigkeit der Behörde und Vorliegen eines Antrags) sind gegeben.

 

c) Materielle Voraussetzungen

Fraglich ist, ob auch die materiellen Voraussetzungen gegeben sind.

aa) Erlaubnisbedürftigkeit

Zunächst muss es sich um den Gebrauch einer öffentlichen Straße handeln, der über den Gemeingebrauch hinausgeht (§ 11 Abs. 1 BerlStrG).

Nach § 2 I BerlStrG sind öffentliche Straßen auch „Plätze“, die dem Verkehr gewidmet sind. Eine Verkehrswidmung liegt vor.

Sondernutzung ist nach § 11 Abs. 1 BerlStrG i. V. m. § 10 Abs. 2 S. 1 BerlStrG die Nutzung der Straßen über den Gemeingebrauch i. S. d. § 10 Abs. 1 S. 1 BerlStrG hinaus, welche den Gemeingebrauch anderer beeinträchtigt. Keine Sondernutzung liegt damit vor, wenn es sich bei dem Vorhaben noch um Gemeingebrauch der Straße nach § 10 Abs. 2 S. 1 BerlStrG handelt. Gemeingebrauch ist nach § 10 Abs. 2 S. 1 BerlStrG der Gebrauch der Straße im Rahmen der Widmung und der Straßenverkehrsvorschriften innerhalb der verkehrsüblichen Grenzen. Der Inhalt der straßenrechtlichen Widmung wird in § 2 Abs. 1 BerlStrG näher festgelegt, nämlich dahingehend, dass die Straße dem öffentlichen Verkehr gewidmet ist. Unabhängig von der Frage, ob die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des „Gemeingebrauchsbegriffs“ des § 10 Abs. 2 S. 1 BerlStrG wirklich „echte“ Tatbestandsmerkmale der Gemeingebrauchsdefinition sind oder ob sie nicht nur die Schranken des Gemeingebrauchs umschreiben, liegt jedenfalls dann kein Gemeingebrauch, sondern erlaubnispflichtige Sondernutzung vor, wenn die vorliegende Nutzung sich nicht mehr als „Verkehr“ darstellt.

Dies ist für sog. „Straßenkunst“ durchaus umstritten.[8]

(1) Traditioneller Verkehrsbegriff

Nach dem traditionellen oder engen Verkehrsbegriff ist „Verkehr“ jede auf Ortsveränderung gerichtete Tätigkeit. Hierzu zählt das Aufstellen eines Panzerwracks auf der Straße ersichtlich nicht.

(2) Verfassungskonforme Erweiterung des Verkehrsbegriffs

In der neueren Rechtsprechung und Literatur wird ein weiterer Verkehrsbegriff vertreten, welcher insbesondere auch den sog. „kommunikativen Verkehr“ umfassen soll. Darunter wird eine Nutzung verstanden, die den öffentlichen Straßenraum auch als Stätte kommunikativer Begegnung, der Pflege menschlicher Kontakte und des Informations- und Meinungsaustausches beinhaltet. Das Aufstellen des Panzerwracks könnte dazu beitragen, dass sich Passant*innen über dessen Bedeutung unterhalten und damit zum „kommunikativen Verkehr“ beitragen.

Allerdings neigt das BVerwG dazu, in der Ausübung von Straßenkunst in Fußgängerzonen eine Sondernutzung zu sehen, da seiner Ansicht nach Art. 5 Abs. 3 GG es nicht gebiete, die Ausübung von Straßenkunst schlechthin erlaubnisfrei zu stellen, so dass auch keine verfassungskonforme Auslegung des § 10 Abs. 2 BerlStrG notwendig sei.[9] Selbst wenn man also das Aufstellen des Panzerwracks der „Straßenkunst“ zuordnet, unterfällt es damit nicht notwendigerweise dem weiten Verkehrsbegriff.

Zudem handelt es sich vorliegend nicht um Straßenkunst im klassischen Sinne. Ausmaß und Dimension des Projekts liegen weit über dem, was noch als „kommunikativer Verkehr“ aufzufassen ist.

(3) Zwischenergebnis

Die Ausstellung des Panzerwracks ist demnach eine Sondernutzung.

 

bb) Erlaubnisfähigkeit

War somit das Vorhaben als Sondernutzung nach § 11 Abs. 1 BerlStrG erlaubnispflichtig, stellt sich die Frage, ob die Verweigerung der Erteilung der Sondernutzungserlaubnis rechtswidrig war.

Dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 BerlStrG lässt sich nicht ohne weiteres entnehmen, ob die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis ein Fall der gebundenen Entscheidung oder der Ermessensverwaltung ist. Jedoch ergibt sich aus den Absätzen 2 bis 4 des § 11 BerlStrG letztlich eindeutig, dass die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis im Ermessen der Behörde steht („soll“ = intendiertes Ermessen). Da jede Sondernutzung den nach § 11 Abs. 1 BerlStrG gewährleisteten Gemeingebrauch beeinträchtigt, kann es nur sinnvoll einer Einzelfallentscheidung der Behörde überlassen bleiben, ob und inwieweit sie Sondernutzungen zulässt und die widerstreitenden Interessen der Betroffenen insoweit zum Ausgleich bringt.

Die Sondernutzungserlaubnis nach § 11 Abs. 1 BerlStrG ist als Verwaltungsakt i. S. d. § 35 VwVfG i. V. m. § 1 VwVfG Bln anzusehen. Die Verweigerung der Sondernutzungserlaubnis war somit nach § 40 VwVfG dann rechtswidrig, wenn die Behörde gar kein Ermessen ausgeübt hat oder aber bei der Ausübung des Ermessens den Zweck der Ermessensermächtigung nach § 11 Abs. 2 S. 1 BerlStrG nicht berücksichtigt oder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens missachtet hat.

(1) Ermessensfehlgebrauch

Aus § 11 Abs. 2 S. 1 BerlStrG ergeben sich allgemeine Ermessenskriterien. Danach soll die Sondernutzungserlaubnis erteilt werden, wenn überwiegende „öffentliche Interessen“ nicht entgegenstehen oder ihnen mit Nebenbestimmungen entsprochen werden kann. Öffentliche Interessen sind hier primär wegerechtliche Belange, so dass in die Abwägung vor allem Gesichtspunkte der Erhaltung der Straßensubstanz, des Ausmaßes der Beeinträchtigung des Gemeingebrauchs durch die beabsichtigte Sondernutzung und die Erfordernisse der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs eingestellt werden können.

(a) Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs

Hier war die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs grdsl. für das Ermessen relevant. Die entsprechenden Erwägungen sind grdsl. mit dem Zweck des Ermessens vereinbar. Allerdings sind die Erwägungen im konkreten Fall nicht überzeugend. Der Platz ist ausreichend groß, um auch größere Menschenansammlungen ohne erhebliche Hindernisse für Passant*innen aufzunehmen. Mit einer längeren Verweildauer vor Ort ist nicht zu rechnen, da das Panzerwrack leicht überblickt werden kann.[10]

Eine erhöhte Gefahr für den fließenden Verkehr besteht nicht. Auch eine akute Unfallgefahr wurde nicht glaubhaft gemacht. Die Verkehrsteilnehmenden sind in Berlin einer Vielzahl äußerer Einflüsse ausgesetzt (z.B. Werbung, historische Wahrzeichen etc.). Dem Panzerwrack kommt keine darüberhinausgehende Ablenkungswirkung zu.[11]

(b) Pietätsgefühl und Außenpolitik

Die in § 11 II S. 1 BerStrG genannten „öffentlichen Interessen“ sind im Lichte des Zwecks des Straßengesetzes eng auszulegen. Danach konnte sich das Bezirksamt nicht auf eine mögliche Verletzung des Pietätsgefühls sowie die Beeinträchtigung außenpolitischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland berufen.[12] Dabei handelt es sich nicht um Belange des Straßenrechts.

(2) Missachtung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (§ 40 Var. 3 VwVfG) im Hinblick auf die Kunstfreiheit

Ein Ermessenfehler könnte sich zudem aus der fehlenden Berücksichtigung der Kunstfreiheit ergeben. Im Rahmen des Ermessens könnten die Grundrechte des Antragsstellers im Hinblick auf die Kunstfreiheit nach Art. 5 III GG nicht ausreichend gewürdigt worden sein.

(a) Schutzbereich der Kunstfreiheit

Zunächst müsste der persönliche und sachliche Schutzbereich eröffnet sein.

Die Kunstfreiheit gem. Art. 5 III GG ist ein sog. Jedermanns-Grundrecht. Über Art. 19 III GG können sich auch juristische Personen auf Grundrechte berufen soweit diese „wesensgemäß“ anwendbar sind. Das Bundesverfassungsgericht greift dabei auf unterschiedliche Kriterien zurück.[13] Zunächst können sich juristische Personen nicht auf solche Grundrechte berufen, die an natürliche Qualitäten des Menschen anknüpfen (z.B. Art. 1 I GG). Nach der Rechtsprechung zum personalen Substrat, ist die Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich dann gerechtfertigt, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der dahinterstehenden natürlichen Personen ist.[14] In der Lehre wird dagegen vielfach mit dem Kriterium der grundrechtstypischen Gefährdungslage gearbeitet, die auch teilweise von der Rechtsprechung aufgegriffen wurde.[15] Danach ist zu fragen, ob die Gefährdungslage der juristischen Person der Lage einer natürlichen Person vergleichbar ist.

Die Kunstfreiheit knüpft nicht an natürliche Qualitäten des (einzelnen) Menschen an, vielmehr schließen sich häufig auch Gruppen zur gemeinsamen kreativen Entfaltung zusammen. Vorliegend ist der Zusammenschluss der Vereinsmitglieder als „Kunstverein“ gerade Ausdruck einer gemeinsamen Betätigung und Entfaltung ihrer individuellen Kunstfreiheit. Zudem ist die Gefährdungslage des Vereins der einer Einzelperson vergleichbar. Es würde keinen Unterschied machen, ob der Verein oder eine Einzelperson die „Kunstaktion“ durchführen würde. Beide Theorien kommen damit vorliegend zum gleichen Ergebnis.

Der persönliche Schutzbereich ist eröffnet.

 

Problematischer ist der sachliche Schutzbereich. Anerkanntermaßen können sich nicht nur Kunstschaffende (Werkbereich), sondern auch Aussteller (Wirkbereich) auf die Kunstfreiheit berufen. Nur so ist gewährleistet, dass das Werk auch die intendierte Wirkung entfalten kann. Vorliegend ist der aKK e.V. zugleich Kunstschaffender und Aussteller.

Fraglich ist aber, ob die Ausstellung eines Panzerwracks vom Kunstbegriff des Grundgesetzes gedeckt ist. Der Schutzbereich der Kunstfreiheit lässt sich nicht abschließend staatlich definieren. In Rechtsprechung und Lehre haben sich aber verschiedene Kunstbegriffe etabliert, die bei der Eingrenzung des Schutzbereichs herangezogen werden können.

Materieller Kunstbegriff: Kunst ist die „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden.“[16]

Formaler Kunstbegriff: Kunst liegt vor, wenn das Wesentliche des betreffenden Werkes einem bestimmten Werktyp (z.B. Malen, Komponieren, Musizieren etc.) zugeordnet werden kann.

Offener Kunstbegriff: Es handelt sich um Kunst, wenn es wegen der Mannigfaltigkeit des Aussagegehaltes möglich ist, der Darstellung im Wege der fortgesetzten Interpretation immer weitreichendere Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt.[17]

Keine der genannten Definitionen kann als abschließende Definition des Kunstbegriffs angesehen werden. Grdsl. ist eine weite Definition geboten ist, um staatliches „Kunstrichtertum“ auszuschließen. Unerheblich ist jedenfalls, ob das Objekt als künstlerisch hochwertig oder profan angesehen wird. Auf Grund historischer Erfahrungen u.a. aus der Zeit des Nationalsozialismus ist hier größte staatliche Zurückhaltung geboten.

Vorliegend spricht gegen das Vorliegen von „Kunst“, dass sich das Ausstellen eines Panzerwracks nur schwer einem „klassischen“ Werktyp zuordnen lässt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Form der Installation heute einen anerkannten Werktyp im Bereich der bildenden Kunst darstellt. Die Ausstellung des Panzerwracks vor der russischen Botschaft lässt sich als eine solche Installation begreifen. Der „Schrott“ erlangt hier seine besondere Bedeutung gerade auch durch den Kontext und seine Ausstellung vor der russischen Botschaft. Im Übrigen liegt auch eine Parallele zu Kunstformen anerkannter Künstler vor, wie denen von Joseph Beuys.

Im Sinne des offenen Kunstbegriffs lässt diese Installation auch verschiedene Interpretationen zu. Die „message“ der Ausstellung ist zwar klar gegen den Angriffskrieg gerichtet, dabei wird aber bewusst mit Irritationen gespielt, die das Panzerwrack im öffentlichen Raum provoziert.

Schließlich liegt auch Kunst im materiellen Sinne vor. Bei den Eindrücken und Erlebnissen muss es sich nicht notwendigerweise um solche von unmittelbar Betroffenen handeln (z.B. geflüchtete Ukrainer*innen). Die Mitglieder des Vereins verarbeiten hier ihre eigene Sicht auf die Geschehnisse in der Ukraine und bringen diese durch Formensprache zum Ausdruck.

Es handelt sich demnach um Kunst im Sinne des Art. 5 III GG.

 

(b) Eingriff

Nach dem neuen Eingriffsbegriff bedeutet Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder faktisch, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Dabei muss die erzielte Wirkung auf eine der öffentlichen Gewalt zuzuordnenden Maßnahme zurückführbar sein.

Die Versagung der Sondernutzungserlaubnis stellt einen solchen Eingriff dar.

 

(g) Rechtfertigung

Art. 5 III GG kennt keinen Gesetzesvorbehalt. Eingriffe in den Schutzbereich können daher allein durch kollidierendes Verfassungsrecht, d.h. durch Grundrechte Dritter und andere Güter von Verfassungsrang eingeschränkt werden (verfassungsimmanente Schranken).

Über den Begriff der „öffentlichen Interessen“ können verfassungsimmanente Schranken im Bereich der Zulassung von Sondernutzungen Berücksichtigung finden. Wie oben ausgeführt sind hier allerdings keine straßenrechtlichen Belange einschlägig.

 

(3) Missachtung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (§ 40 Var. 3 VwVfG) im Hinblick auf die Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 1. Alt. GG

Weiter könnte die Meinungsäußerungsfreiheit des B gemäß Art. 5 I 1 1. Alt. GG verletzt sein.

Fraglich erscheint aber, ob Art. 5 I 1 1. Alt. GG neben Art. 5 III GG überhaupt anwendbar ist. Das Verhältnis zwischen der Kunst- und der Meinungsfreiheit ist nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierzu ist nicht konsistent,[18] überwiegend wird aber von einem Spezialitätsverhältnis ausgegangen.[19] Danach ist Art. 5 III 1 GG lex specialis zu Art. 5 I 1 GG. Lediglich wenn die Kunst bloßes Beiwerk einer mitgeteilten Meinung ist, soll vorrangig die Meinungsfreiheit zu prüfen sein.[20]

Vorliegend ist die Installation nicht lediglich Beiwerk. Kunst und Meinung halten sich hier die Waage.

Letztlich kann das Abgrenzungsproblem aber offengelassen werden. Im Hinblick auf die Meinungsfreiheit wird es zu keinem anderen Ergebnis kommen.

 

Hinweis: Es ist auch denkbar, die Frage, ob der Schutzbereich der Kunstfreiheit betroffen ist, offenzulassen und stattdessen die Meinungsfreiheit zu prüfen (so das VG Berlin im Originalfall). Damit umgeht man aber die im Sachverhalt angelegten Probleme aus dem Bereich der Kunstfreiheit.

 

 

c) Zwischenergebnis

Da sich die Versagung der Sondernutzungserlaubnis als Verletzung von Grundrechten darstellt und die Behörde diesen Verstößen nur durch den Erlass der Erlaubnis abhelfen kann, ist das Ermessen auf null reduziert. Der aKK e.V. hat danach einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, der es dem Gericht erlaubt einen „Verpflichtungsbeschluss“ auszusprechen (vgl. §113 V S. 1 VwGO).

 

II. Glaubhafter Anordnungsgrund

Es müsste auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden sein (§ 123 I S. 2 VwGO). Dies ist dann der Fall, wenn die Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder sie aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Vorliegend erscheint es dem Antragssteller nicht zumutbar, die Hauptsache abzuwarten.[21] Die begehrte Sondernutzungserlaubnis für die Kunstinstallation und Meinungskundgabe steht in einem engen zeitlichen Kontext zum aktuellen Geschehen in der Ukraine.

Wie das VG Berlin im Originalfall ausführt:

„Die Ausübung der Meinungsfreiheit auf ungewisse Zeit zu versagen, käme einer Vereitelung der Grundrechtswahrnehmung gleich und ist nicht mit dem Stellenwert der Meinungsfreiheit in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Einklang zu bringen. Insoweit ist die Antragstellerin auch nicht auf eine andere Art und Weise der Meinungsäußerung zu verweisen, da die hier gewählte Form mit den straßenverkehrsrechtlichen Zwecken vereinbar ist.“[22]

 

III. Grenzen einer einstweiligen Anordnung

1. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache

Grundsätzlich sollen einstweilige Anordnungen die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Vorliegend kommt es aber zu einer solchen Vorwegnahme, da die Sondernutzungserlaubnis erteilt werden muss und sich damit die – nur temporär geplante – Ausstellung realisieren lässt.

Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt allerdings nicht ausnahmslos. Aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV S. 1 GG) sind Durchbrechungen dieses Verbots zulässig, wenn das Recht des Antragstellers sonst vereitelt würde, oder er sonst schwere oder irreparable Nachteile erlitte, die bei einem Obsiegen in der Hauptsache nicht mehr ausgeglichen werden könnten.[23]

Vorliegend handelt es sich um eine temporäre anlassbezogene Kunstinstallation und Meinungskundgabe. Die Ausübung der einschlägigen Grundrechte würde weitgehend vereitelt, müsste der Antragssteller auf den Ausgang des Hauptverfahrens warten. Durch ein Abwarten der Hauptsache würde effektiver Rechtsschutz vereitelt.

2. Keine Überschreitung dessen, was in der Hauptsache gewährt werden kann

In der Hauptsache könnte dem Antragssteller mit einer Verpflichtungsklage die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis gewährt werden (§ 113 V S. 1 VwGO), bzw. die Behörde zur Neubescheidung verpflichtet werden (§ 113 V S. 2 VwGO). Die einstweilige Anordnung geht darüber nicht hinaus.

C. Ergebnis

Der Antrag ist zulässig und begründet. Das Bezirksamt Mitte ist im Wege der einstweiligen Anordnung dazu zu verpflichten, dem Antragsteller die beantragte Sondernutzungserlaubnis zu erteilen.


[1] Zu Art. 5 I GG: BVerfGE 80, 124 (131); zu Art. 5 III GG: BVerfG NJW 2006, 596 (597).

[2] Kuhla, in: BeckOK VwGO, Posser/Wolff, 2022, § 123 Rn. 35.

[3] Kuhla, in: BeckOK VwGO, Posser/Wolff, 63. Edition Stand: 01.07.2022, § 123, Rn. 21-25.

[4] OLG Koblenz Verkehrsrechts-Sammlung (VRS) 72, 128; vgl. auch: BGHZ VRS 20, 337; OLG Hamm VRS 27, 62; OLG Köln VRS 63, 76.

[5] Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Auflage 2021, Rn. 1319 m. w. N.

[6] VG Berlin, Entscheidung vom11.10.2022, Aktz.1 L 304/22, Rn. 21.

[7] Im Ergebnis auch: VG Berlin, Entscheidung vom11.10.2022, Aktz.1 L 304/22, Rn. 22.

[8] Dazu umfassend: Strassenkunst_Loesungsvorschlag.pdf (fu-berlin.de).

[9] BVerwGE 84, 72 und näher: Strassenkunst_Loesungsvorschlag.pdf (fu-berlin.de).

[10] VG Berlin, Entscheidung vom11.10.2022, Aktz.1 L 304/22, Rn. 29.

[11] VG Berlin, Entscheidung vom11.10.2022, Aktz.1 L 304/22, Rn. 29

[12] Vgl. zu § 46 StVO: VG Berlin, Entscheidung vom11.10.2022, Aktz.1 L 304/22, Rn. 27.

[13] Im Überblick: Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, S. 65.

[14] Siehe etwa: BVerfGE 21, 362, 369.

[15] z.B. Mutius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2023, Art. 19 Abs. 3 Rn. 114; aus der Rechtsprechung: BVerfGE, 21, 362, 369 ff.

[16] BVerfGE 30, 173, 189 – Mephisto.

[17] BVerfGE 67, 213, 226 f..

[18] In manchen Entscheidungen wird der Eindruck erweckt die Meinungs- und Kunstfreiheit seien nebeneinander anwendbar: BVerGE 35, 202 (244); BVerGE 68, 226 (233).

[19] BVerGE 30, 173 (200) – Mephisto; BVerfGE 33, 52 (70); BVerfGE 75, 369 (377) – Strauss-Karikaturen; BVerfG, NJW 1990, 1982 ff.

[20] BVerfGE NJW 1990, 1985

[21] Vgl. VG Berlin, Entscheidung vom11.10.2022, Aktz.1 L 304/22, Rn. 29.

[22] Ibid. Rn. 33.

[23] Siehe z.B.: BVerfG NJW 2002, 3691; BVerwG NVwZ 2000, 189.

© Markus Heintzen und Heike Krieger (Freie Universität Berlin)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Dr. Andreas Buser

Stand der Bearbeitung: Mai 2025

 


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