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Kurzlösung

Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig (A.) und begründet (B.) ist.

 

A. Zulässigkeit

 

I. Zuständigkeit des EGMR (+)

Die K unterliegt als nach deutschem Recht eingetragener Verein der Jurisdiktion eines Vertragsstaates, sodass die Voraussetzung von Artikel 1 EMRK erfüllt ist und der EGMR zuständig ist.

 

II. Parteifähigkeit (+)

K ist als nichtstaatliche Organisation geeignete Beschwerdeführerin iSv Artikel 34 EMRK.

 

III. Beschwerdebefugnis/Opfereigenschaft (+)

K muss behaupten können, in einem der von der Konvention garantierten Rechte verletzt zu sein. Hier kommt eine Verletzung von Artikel 9 EMRK in Betracht. K ist durch die Maßnahme selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.

 

IV. Rechtswegserschöpfung (+)

Eine formgemäße Durchführung des Verfahrens im Mitgliedstaat nach Artikel 35 I EMRK hat stattgefunden. Die Rechtsmittel wurden von K ausgeschöpft.

 

V. Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen, Artikel 35 II, III EMRK (+)

Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor, insbesondere hat die K die Beschwerde formgerecht eingeleitet und innerhalb der 6-Monatsfrist eingereicht.

 

VI. Ergebnis

Die Beschwerde der K ist zulässig.

 

B. Begründetheit

 

Die Beschwerde ist begründet, wenn die K in ihrem Recht aus Artikel 9 EMRK verletzt ist.

 

I. Eröffnung und Eingriff in den Schutzbereich von Artikel 9 EMRK

Zwar ist Religionsfreiheit in erster Linie eine Sache des persönlichen Gewissens. Sie bedeutet aber auch die Freiheit, seine Religion einzeln, privat oder gemeinsam mit anderen, öffentlich und im Kreise der Angehörigen des gleichen Bekenntnisses zu bekennen. In Artikel 9 ist eine Reihe von Formen aufgeführt, die das Bekenntnis der eigenen Religion oder Weltanschauung zulassen, nämlich Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten. Darüber hinaus schließt sie grundsätzlich das Recht ein zu versuchen, den Nächsten z. B. durch „Lehren“ zu bekehren; ansonsten würde die in Artikel 9 normierte „Freiheit, [seine] Religion oder Weltanschauung zu wechseln“, wahrscheinlich auch ein toter Buchstabe bleiben.[1] Gleichwohl schützt Artikel 9 nicht jede durch eine Religion oder Weltanschauung motivierte oder darauf zurückgehende Handlung. Unter der Gedanken,- Gewissens- und Religionsfreiheit sind Überzeugungen zu verstehen, die ein gewisses Maß an Triftigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung erreichen.[2] Gemäß ihrer Satzung fördert K die Lehren des M. Sie betreiben Meditationszentren, organisieren Seminare, feiern religiöse Ereignisse und führen gemeinsame Arbeitsprojekte durch. Nach ihren Lehren ist das Ziel spiritueller Entwicklung die Erleuchtung. Dieser Ansatz wird von ihnen und ihrer Gemeinschaft dauerhaft geteilt. Diese Sichtweisen sind als Bekenntnis der Weltanschauung einzustufen. Daher fällt die Rüge der K unter Artikel 9 EMRK. Die in Rede stehenden Äußerungen der Bundesregierung stellen hoheitliche Akte dar, die in die nach Artikel 9 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte, ihre Religion oder Weltanschauung zu bekennen, eingreifen.

II. Rechtfertigung des Eingriffs

Der Eingriff könnte jedoch nach Artikel 9 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein. Dies ist dann der Fall, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, ein nach Artikel 9 Abs. 2 EMRK legitimes Ziel verfolgt und der Eingriff zur Verfolgung des Ziels notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ist. Die Notwendigkeit setzt ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis („pressing social need“) sowie die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes voraus.

1. „Gesetzlich vorgesehen“

Konkret handelte die Bundesregierung durch die Informations- und Aufklärungskampagnen sowie die Bezeichnungen vor dem Bundestag nicht durch gesetzliches, sondern durch faktisches Handeln. „Gesetzlich vorgesehen“ nach Artikel 9 EMRK meint jedoch, dass die gerügte Maßnahme eine innerstaatliche Rechtsgrundlage haben muss, wobei der Begriff „Gesetz“ stets „materiellrechtlich“ auszulegen ist und die geltende Bestimmung im Sinne der Auslegung durch die zuständigen Gerichte meint.[3] Der Begriff „Vorhersehbarkeit“ hängt vom Inhalt des in Rede stehenden Instruments ab, sowie der Anzahl und Rechtsstellung der Adressaten ab. Ein gewisser Zweifel in Grenzfällen bedeutet für sich genommen nicht, dass die Anwendung einer Rechtsvorschrift nicht vorhersehbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2002 festgestellt, dass die gesetzliche Grundlage des maßgeblichen Eingriffs durch das Grundgesetz in Artikel 65 vorgegeben sei. Der Gesetzgeber hat es somit nicht versäumt, angemessene rechtliche Regelungen zu erlassen, um K vor willkürlichen behördlichen Eingriffen in ihren Rechten zu schützen. Insoweit gilt der Eingriff in das Recht der K, ihre Religion zu bekennen, als „gesetzlich vorgesehen“.

2. „Legitimes Ziel“

Die K trug vor, dass die Einschränkung in der Ausübung ihres Rechts, ihre Religion oder Weltanschauung zu bekennen, kein legitimes Ziel im Sinne des Artikels 9 Abs. 2 EMRK verfolgt habe, weil sie in keiner Weise versucht hätten, die Rechte anderer zu verletzen, und ihre Satzungen ein derartiges Ziel auch nicht vorsähen. Jedoch sollen Staaten prüfen können, ob eine Bewegung oder ein Verein - angeblich zur Verfolgung religiöser Ziele - Aktivitäten nachgeht, die der Bevölkerung und der öffentlichen Sicherheit schaden.[4] Die Regierung wollte Informationen erteilen, die zu einer Debatte in einer demokratischen Gesellschaft über Themen, die die Öffentlichkeit erheblich beunruhigten, beitragen konnten, und auf die Gefahren hinweisen, die von Gruppen ausgehen, welche gemeinhin als Sekten bezeichnet werden. Im Ergebnis verfolgt der Eingriff in das Recht der K die in Artikel 9 Abs. 2 vorgesehenen legitimen Ziele, nämlich den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Rechte und Freiheiten anderer.

3. „Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“

Die K trug vor, dass die in Rede stehenden Äußerungen in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen seien. Abzuwägen ist für diese Frage die Bedeutung des Eingriffsziels mit der Schwere des Eingriffs, wobei den Staaten je nach dem betroffenen Konventionsrecht ein bestimmter Beurteilungsspielraum verbleibt. In Bezug auf Artikel 9 bedeutet das konkret eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen der Ausübung - seitens der K - des Rechts auf angemessene Achtung ihrer Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und der Pflicht der nationalen Behörden, der Öffentlichkeit Informationen über sie berührende Fragen zu erteilen.[5] Der Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) ist hier jedoch eingeschränkt. Das Grundgesetz ermächtigt die Regierung zwar, von sich aus Informationen einzuholen und zu verbreiten. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht 2002 der Befugnis der Regierung in diesem Bereich Grenzen setzt. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben muss die Regierung im Zusammenhang mit religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen für eine neutrale Informationserteilung Sorge tragen und ist an die Standards gebunden, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immanent sind.

Die besonderen Umstände des Einzelfalles zeigen, dass zur maßgeblichen Zeit die wachsende Zahl neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen in der deutschen Gesellschaft zu Spannungen führte, die Fragen von allgemeiner Bedeutung aufwarfen. Die Bundesregierung erachtete eine rechtzeitige Aufklärung der Bevölkerung für sinnvoll und strebte an, eine sehr wichtige Frage von allgemeinem Interesse zu klären. Sie versuchte so, die Bürger vor aus ihrer Sicht beunruhigenden Phänomenen wie den aufkommenden zahlreichen neuen religiösen Bewegungen und der Anziehungskraft, die sie auf junge Menschen ausübte, zu warnen. Die Behörden wollten die Menschen in die Lage versetzen, erforderlichenfalls eigenverantwortlich zu handeln und zu verhindern, dass sie selbst oder andere nur aus Unkenntnis in Schwierigkeiten geraten.

Ein derartiges präventives Eingriffsrecht des Staates stellt auch mit den positiven Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus Artikel 1 der Konvention, die Rechte und Freiheiten der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zu garantieren, im Einklang. Das Vorgehen der Regierung lässt darüber hinaus erkennen, dass es in keiner Weise einem Verbot der Freiheit der K, ihre Religion oder Weltanschauung zu bekennen, gleichkam. Die Begriffe “Sekte” oder “Psychosekte“ wurden ungeachtet einer eventuell negativen Konnotation recht unterschiedslos für jede nicht zu den großen Glaubensgemeinschaften zählende Art von Religion verwendet. Im Lichte dieser Ausführungen und unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums der nationalen Behörden, die in einer demokratischen Gesellschaft verpflichtet sind, im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch den Belangen der gesamten Gesellschaft Rechnung zu tragen, ist festzustellen, dass der in Rede stehende Eingriff grundsätzlich gerechtfertigt war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stand. Artikel 9 der Konvention ist folglich nicht verletzt worden.

III. Ergebnis

Die angegriffene Maßnahme verletzt K in ihren Rechten aus Artikel 9 I EMRK nicht. Die Beschwerde der K ist somit nicht begründet und hat keinen Aussicht auf Erfolg (a. A. vertretbar, s. u. beispielhaft folgende Argumente).

 

 

Contra-Argumente:

- Die in Artikel 9 verankerte Gedanken,- Gewissens- und Religionsfreiheit ist eine der Grundlagen einer „demokratischen Gesellschaft“ im Sinne der Konvention. Religiöser Pluralismus ist im Lichte von Artikel 9 wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Artikel 9 meint auch die Freiheit, religiösen Bekenntnissen anzuhängen oder keinen Glauben zu haben sowie eine Religion auszuüben oder davon abzusehen. Die Konvention bestimmt, dass dieses Recht auch die Freiheit umfasst, den religiösen Glauben durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

- Der Staat ist bei der Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis in diesem Bereich und im Verhältnis zu den verschiedenen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen zur Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet. Mit geeigneter Begründung kann argumentiert werden, dass die Bundesrepublik dem nicht nachgekommen ist. Beispielsweise: Obwohl K in all diesen Jahren nicht verboten war, haben die Begriffe, mit denen ihre Bewegung von den deutschen Behörden und in Verlautbarungen der Regierung bezeichnet worden war („Sekte“, „Jugendreligion“, „Jugendsekte“ und „Psychosekte“) sich nachteilig auf sie ausgewirkt.

- Im Sachverhalt finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Lehren Ms oder die der K angewandten Methoden gegen die Rechte und Freiheiten anderer verstießen oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet waren. Auch ist nicht klar, ob tatsächlich eine Schädigung jemals von der Regierung geprüft und nachgewiesen wurde.

- Es könnte auch verneint werden, dass die Weitergabe von Warnhinweisen als „präventives Eingriffsrecht des Staates“ anzusehen ist, das mit den positiven Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus Artikel 1 der Konvention im Einklang steht. Eine derart aktive Rolle des Staates in einer pluralistischen Gesellschaft als Teilnehmer an der öffentlichen Auseinandersetzung über Bekenntnisse und Weltanschauungen ist nicht gerechtfertigt und bewegt sich außerhalb des zuerkannten Ermessensspielraums. Zudem war es jahrelange Rechtsprechung des EGMR, dass jeder Eingriff in Artikel 9 den „Kern der Sache berücksichtigen muss, nämlich die Notwendigkeit, wirklichen religiösen Pluralismus, ein Merkmal, das sich aus der Vorstellung von einer demokratischen Gesellschaft ergibt, sicherzustellen“, und dass „die Aufgabe der Behörden unter derartigen Umständen nicht darin besteht, die Ursache der Spannungen durch Aufhebung des Pluralismus zu beseitigen, sondern sicherzustellen, dass die konkurrierenden Gruppen einander tolerieren“.[6]

- Die Bezeichnungen durch die Bundesregierung reichen aus, dass die K eine Behandlung erlitt, der die großen Glaubensgemeinschaften nicht ausgesetzt waren; dies wurde von der beschwerdegegnerischen Regierung nicht begründet.


[1] EGMR, Kokkinakis gg. Griechenland, Urteil vom 25.5.1993, § 31.

[2] EGMR, L. e.V. u.a. gg. Deutschland, Urteil vom 6.11.2008, § 80.

[3] EGMR, L. e.V. u.a. gg. Deutschland, Urteil vom 6.11.2008, §§ 86, 87.

[4] EGMR Metropolitische Kirche Bessarabiens gg. Moldau, Urteil aus 2001, § 113.

[5] Vgl. EGMR Sahin gg. Türkei, Urteil aus 2005, §§ 104-110.

[6] Vgl. EGMR, Kokkinakis gg. Griechenland, Urteil vom 25.5.1993, § 31.) sowie EGMR, Metropolitische Kirche Bessarabiens gg. Moldau, § 115.


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