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Die Berliner Verträge (Lösungsvorschlag)

Die Verfassungsbeschwerde Rita Rüstigs hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A) Zulässigkeit

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt sind.

I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "jedermann")

Rita Rüstig ist als natürliche Person Grundrechtsträger und damit "jedermann" i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG.

II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Akt der öffentlichen Gewalt")

Verfassungsbeschwerden können sich nur gegen einen "Akt öffentlicher Gewalt" richten. Gemeint sind damit alle Maßnahmen von vollziehender, gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt. Rita Rüstig wendet sich nach dem Wortlaut ihrer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Art. 3a EUV, Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" sowie Art. 25 II ESMV. Bei den "Berliner Verträgen" als solchen handelt es sich um einen Vertrag zur Änderung des EU-rechtlichen Primärrechts (des EUV und des AEUV). Zumindest bezüglich des Zustandekommens (und der Änderung) dieses Primärrechts wird grundsätzlich das allgemeine Völkerrecht für anwendbar gehalten, also insbesondere die Regelungen über das Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, auch wenn Art. 48 AEUV nunmehr ein besonderes Vertragsänderungsverfahren vorsieht und sich die Mitgliedstaaten mit Art. 48 AEUV wechselseitig verpflichtet haben, ihre vertragsändernde Gewalt nur in den besonderen Formen des Art. 48 AEUV auszuüben.[1]

Bei den "Berliner Verträgen" handelt es sich dementsprechend - wie bei allen anderen Verträgen über die Änderung des Primärrechts - um einen völkerrechtlichen Vertrag, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den anderen Mitgliedsstaaten der EU geschlossen wurde.[2] Der ESMV ist ebenfalls ein völkerrechtlicher Vertrag, der sich nicht unmittelbar auf EU-Primärrecht bezieht. Dennoch wurde mit Art. 136 III EUV eine EU-rechtliche Grundlage für den ESMV geschaffen.[3] Damit stellt sich die Frage, ob die "Berliner Verträge" und der ESMV als völkerrechtlicher Rechtsakt als "Akt der öffentlichen Gewalt" i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG anzusehen sind.

1. Völkerrechtlicher Vertrag als Beschwerdegegenstand

Hieran bestehen Zweifel, weil völkerrechtliche Verträge übereinstimmende Willenserklärungen mehrerer Völkerrechtssubjekte über Rechtsfolgen auf dem Gebiet des Völkerrechts sind, deren Geltungsgrund nicht das nationale Recht, sondern unmittelbar Völkerrecht ist.[4] Es handelt sich damit um das Ergebnis eines Zusammenwirkens aller beteiligten Staaten und nicht nur Deutschlands. Gegen die Handlungen von fremden Staaten ist die Verfassungsbeschwerde jedoch nicht eröffnet: Sie ist nur gegen einen "Akt der deutschen öffentlichen Gewalt" zulässig, weil auch nur die deutsche öffentliche Gewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden ist und es damit auch nur ihr möglich ist, sie zu verletzen.[5]

Anmerkung: Eine Ausweitung des Begriffs des "Akts öffentlicher Gewalt" auf Akte nicht-deutscher öffentlicher Gewalt wird allenfalls für Akte solcher supranationaler Organisationen (wie der Europäischen Union) erwogen, denen nach Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 GG die Befugnis übertragen wurde, für die Grundrechtsberechtigten in Deutschland unmittelbar verbindlich Recht zu setzen. Siehe hierzu unten A III 2.

Die "Berliner Verträge" oder der ESMV als solche bilden damit als völkerrechtliche Verträge keinen tauglichen Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde.

2. Mitwirkung der Bundesrepublik am Zustandekommen der "Berliner Verträge" als Beschwerdegegenstand

Jedoch könnte die Mitwirkung der Bundesrepublik an dem Zustandekommen der "Berliner Verträge" und dem ESMV als Akt der deutschen Staatsgewalt zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht werden. Dann wäre die Verfassungsbeschwerde jedoch jedenfalls wegen fehlender Beschwerdebefugnis unzulässig: Das Mitwirken der Bundesregierung bei Abschluss der Verträge stellt sich als Verhalten auf der völkerrechtlichen Ebene dar, das noch keine innerstaatlichen Rechtswirkungen auszulösen vermag und damit auch (unmittelbar) keine Grundrechte verletzen kann. Rechtswirkungen werden - soweit wie im vorliegenden Fall erforderlich[6] – erst durch das Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ausgelöst.[7]

3. Zustimmungsgesetz zu "Berliner Verträgen“ und ESMV als Beschwerdegegenstand

Zulässiger Beschwerdegegenstand wäre dagegen das Zustimmungsgesetz zu den "Berliner Verträgen" und dem ESMV. Dieses Bundesgesetz ist ein "Akt deutscher öffentlicher Gewalt".[8] Werden Zustimmungsgesetze nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen, prüft das BVerfG inzident auch die Verfassungsmäßigkeit des völkerrechtlichen Vertrages, dem das Zustimmungsgesetz zustimmt. Das Ziel der Überprüfung der Vereinbarkeit von Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" sowie Art. 25 II ESMV mit ihren Grundrechten durch das BVerfG kann Rita Rüstig also dadurch erreichen, dass sie nicht die "Berliner Verträge" und den ESMV als solche angreift, sondern das "Zustimmungsgesetz zu den Berliner Verträgen und dem ESMV".

Da Rita Rüstig jedoch ausdrücklich das Zustimmungsgesetz nicht angegriffen hat, stellt sich die Frage, ob ihr Vorbringen nicht so ausgelegt werden kann, dass sich ihre Verfassungsbeschwerde - entgegen dem Wortlaut ihres Antrages - "in Wirklichkeit" nicht gegen Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV als solche richtet, sondern gegen das "Zustimmungsgesetz zu den Berliner Verträgen und dem ESMV ", soweit es auch Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV zustimmt.

Bei seiner Entscheidung hat das BVerfG zwar grundsätzlich von den gestellten Anträgen auszugehen; es ist jedoch nicht gehindert, ihren Sinn und ihre Bedeutung im Wege der Auslegung zu ermitteln. Grenzen der Auslegung bilden jedoch vor allem die Form- und Begründungserfordernisse des § 23 BVerfGG und - speziell für die Verfassungsbeschwerde - des § 92 BVerfGG. Das BVerfG darf damit nicht den Verfahrensgegenstand im Wege der Auslegung beliebig austauschen.[9] Wenn sich allerdings mit Hilfe der Antragsbegründung Unklarheiten des Antrages selbst beseitigen lassen, sind die Grenzen der Auslegung nicht überschritten.[10] Hier lässt sich der Antragsbegründung entnehmen, dass sich Rita Rüstig auch gegen die Beteiligung des Bundestages an dem Zustandekommen der "Berliner Verträge" wendet und dass es ihr in der Sache darum geht, die sie unmittelbar belastende Maßnahme - also das Zustimmungsgesetz - anzugreifen. Dies legt es nahe, den Antrag als Beschwerde gegen das Zustimmungsgesetz auszulegen, soweit es Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV zustimmt. In dieser Auslegung richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen einen Akt der deutschen öffentlichen Gewalt.

4. Ergebnis zu II

Beschwerdegegenstand ist somit das Zustimmungsgesetz zu den "Berliner Verträgen" und dem ESMV nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, soweit es auch Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV zustimmt.

III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Behauptung, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")

Rita Rüstig müsste behaupten können, durch das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV in ihren Grundrechten verletzt zu sein, d.h. es dürfte nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass die beiden angegriffenen Regelungen (Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz) sie in ihren von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG genannten Rechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzen.

1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung durch das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV

Insoweit ist zunächst fraglich, ob Rita Rüstig im Hinblick auf Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz als beschwerdebefugt anzusehen ist, ob also insoweit eine Grundrechtsverletzung als möglich erscheint. Insoweit rügt Rita Rüstig eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 (Meinungsfreiheit) und Art. 14 Abs. 1 GG.

a) Möglichkeit einer Betroffenheit des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG

Dass der Schutzbereich dieser Grundrechte durch Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz betroffen ist, erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen:

Soweit eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG gerügt wird, fällt die Nutzung ihres Eigentums an dem Grundstück in den Schutzbereich des Art. 14 GG, der damit grundsätzlich auch vor der Verpflichtung schützt, sein Eigentum für bestimmte staatliche Zwecke - hier der Beflaggung - zeitweilig zur Verfügung zu stellen.

Soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG gerügt wird, ist anzunehmen, dass die Meinungsfreiheit auch vor der Verpflichtung schützt, einer bestimmten Meinung, die man nicht teilt, öffentlich zustimmen zu müssen.[11] So wie das Hissen einer Flagge eine gewisse Verbundenheit mit dem Verband zum Ausdruck bringt, für den die Flagge steht und das freiwillige Hissen einer Flagge eine geschützte Form der Meinungsäußerung darstellen kann,[12] gilt dies auch für das bewusste Nicht-Hissen einer Flagge, mit der zum Ausdruck gebracht werden soll, dass man den Anlass, zu dem das Hissen erfolgen soll, nicht für "beflaggungswürdig" erachtet.

b) Möglichkeit eines unmittelbaren und gegenwärtigen Eingriffs in Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG

Es bestehen auch keine Zweifel an der Möglichkeit, dass Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz unmittelbar und gegenwärtig in die Grundrechte von Frau Rüstig aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingreift.

Schon dem Wortlaut nach sieht Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" unmittelbar eine Belastung des Bürgers durch die Einführung einer strafbewehrten Handlungspflicht vor: Die primärrechtliche Verpflichtung, die Europafahne zu bestimmten Zeiten auf dem eigenen Grundstück zu hissen, wird auch vermittels des Zustimmungsgesetzes unmittelbar im nationalen Rechtsraum wirksam, ohne dass es weiterer "nationaler" Durchführungsrechtsakte bedarf. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist durch EUV, AEUV und ihre Vorgänger (im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen) eine eigenständige Rechtsordnung geschaffen worden, zu deren Gunsten die Staaten ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben. Die geschriebenen und ungeschriebenen Normen dieser Rechtsordnung können mit ihrem Inkrafttreten unmittelbar verbindlich werden und für den Einzelnen Rechte und Pflichten begründen.[13] Sie sind dementsprechend von den mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten ebenso zu beachten wie nationale Normen.[14]

Als Frau Rüstig selbst treffende, unmittelbar geltende Handlungspflicht wirkt die Verpflichtung zudem auch gegenwärtig (es ist also nicht abzuwarten, ob gegen Frau Igelbauer im Falle eines Verstoßes gegen Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" tatsächlich Strafmaßnahmen ergriffen werden).

c) Möglichkeit einer Verletzung der Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG

Eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG durch einen möglichen Eingriff durch Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz erscheint jedoch als von vornherein ausgeschlossen, soweit das Grundgesetz selbst den Geltungsbereich seiner Grundrechte beschränkt bzw. bestimmte Eingriffe in diese Grundrechte ausdrücklich vorsieht: Grundgesetzänderungen, welche die Grundrechte des Grundgesetzes einschränken, können mit anderen Worten nicht selbst diese Grundrechte verletzen, sofern nicht Art. 79 Abs. 3 GG berührt ist. Ein solcher Fall, dass die Verfassung selbst Eingriffe in die von ihr gewährten Grundrechte vorsieht, könnte auch vorliegen, sofern durch Änderung der Gründungsverträge der Europäischen Union unmittelbar Handlungspflichten der Unionsbürger geschaffen werden:

Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG sieht vor, dass für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union - wozu die "Berliner Verträge" gehören (s.o. A II) -, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, (nur) die Grenzen des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG gelten. Werden Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG (i.V.m. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG) beachtet, kann somit der innerstaatlichen Anwendbarkeit der so geschaffenen primärrechtlichen Regelungen nicht entgegengehalten werden, dass sie gegen nationales Verfassungsrecht und insbesondere die Grundrechte des Grundgesetzes verstoßen.

Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist im vorliegenden Fall auch anwendbar: Zwar knüpft die Bestimmung an Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG an, der ausdrücklich nur die Übertragung von Hoheitsrechten an die EU zu gestatten scheint, nicht jedoch die Begründung unmittelbarer Handlungspflichten, die nur noch von den nationalen Behörden umzusetzen wären. Der Begriff der "Übertragung von Hoheitsrechten" in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (und Art. 24 Abs. 1 GG) ist jedoch nicht eng zu verstehen: Art. 23 GG (und Art. 24 GG) soll vielmehr dazu ermächtigen, den ausschließlichen Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückzunehmen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum zu lassen.[15] Hoheitsrecht i.S.d. Art. 23 I 2 GG bezeichnet die Befugnis, Individuen einseitig, also ohne deren Zustimmung rechtlich zu verpflichten.[16] Jedenfalls soweit weitere Hoheitsrechte übertragen werden, ist das Verfahren nach Art. 23 I 3 GG durchzuführen.[17] Nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG auch schon bei jeder Änderung der Vertragstexte.[18] Die Frage kann vorliegend dahinstehen, da nach den bisher geltenden Verträgen die Union weder die Kompetenz hatte, eine Beflaggungspflicht zu erlassen noch Steuern zu erheben. Insofern wurden neue Hoheitsrechte übertragen, wodurch Art. 21 I 3 GG zum Verfahren nach Art. 79 II GG zwingt.

Das Zustimmungsgesetz zu den Berliner Verträgen entspricht in formeller Hinsicht den Vorgaben des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG, so dass es grundsätzlich geeignet ist - als letztlich verfassungsänderndes Gesetz -, den Geltungsbereich der Grundrechte einzuschränken.

Damit steht fest, dass das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" als letztlich verfassungsänderndes Gesetz nur dann Grundrechte Rita Rüstigs verletzen kann, wenn es gegen die Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG verstößt, die nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eben auch im Anwendungsbereich des Art. 23 GG zu beachten sind. Insoweit kommt hier allenfalls eine Verletzung des "Grundsatzes des Art. 1 GG" in Betracht.

Rita Rüstig könnte demnach allenfalls dann als beschwerdebefugt anzusehen sein, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass die sich aus Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" ergebende Verpflichtung sie in ihrer Menschenwürde verletzt bzw. den "Menschenwürdegehalt" der von ihr gerügten Grundrechte der Meinungs- und Eigentumsfreiheit verletzen würde. Hierbei ist die besondere Struktur von Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten: Der von Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Bereich ist "unantastbar", d.h. jeder Abwägung gegen andere Rechtsgüter oder jeglicher Rechtfertigung einer Verletzung entzogen. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass jedenfalls solche Aspekte des Grundrechtsschutzes nicht unter diesen "Menschenwürdegehalt" fallen, deren Beschränkung im Lichte des konkreten Grundrechts gerechtfertigt werden könnten. Darüber hinaus ist eine positive Beschreibung der Norm wohl nicht möglich. Hilfreich ist jedoch die von Dürig geprägte Objekt-Formel: "Die Menschenwürde ist betroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird."[19]

Die Verpflichtung des Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" überschreitet diese Grenze jedoch ersichtlich nicht:

Soweit eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG gerügt wird, fällt zwar die Nutzung ihres Eigentums an dem Grundstück in den Schutzbereich des Art. 14 GG (s. o. A III 1 a). Jedoch ist der "Menschenwürdegehalt" des Art. 14 GG erkennbar nicht betroffen: Zwar wird Art. 14 GG auch in Beziehung zu Art. 1 Abs. 1 GG gesetzt, als Art. 14 GG einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich gewährt und so den Einzelnen mit der Möglichkeit der Selbstverantwortung davor bewahrt, zum bloßen Objekt im Staat zu werden.[20] Dieser Menschenwürdegehalt wird jedoch ersichtlich nicht verletzt, wenn der Eigentümer verpflichtet wird, alljährlich 10 Stunden sein Grundstück zu beflaggen.

Soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG durch die Pflicht zum Hissen der Flagge gerügt wird (s. o. A III 1 a), wird man dagegen zwar annehmen können, dass eine staatliche Verpflichtung, an Grußbotschaften, Ergebenheitsadressen, Kundgebungen etc. teilzunehmen, den Menschenwürdegehalt der negativen Meinungsfreiheit tangieren kann, wenn der Einzelne verpflichtet werden soll, den jeweiligen Staatsführern zuzujubeln und er so - ohne Rücksicht auf die eigene Meinung - zum Instrument staatlicher Selbstdarstellung degradiert wird. Hiermit lässt sich aber die Verpflichtung (nur) zum Hissen einer Flagge, die gleichmäßig alle Gebäudeeigentümer trifft, nicht vergleichen: Ist jeder Eigentümer zur Beflaggung verpflichtet, unabhängig von seiner individuellen Einstellung zur EU, wirkt das Hissen der Flagge nicht mehr wie eine individuelle Meinungsäußerung. Damit begründet Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" nicht die Pflicht, eine europafreundliche Haltung als eigene Meinung zu verbreiten, sondern der Staat nimmt die jeweiligen Gebäude zum Zwecke der Selbstdarstellung in Anspruch. Die Meinungsfreiheit schützt aber nur vor der Verpflichtung, eine fremde Meinung als eigene zu verbreiten, nicht aber davor, dass das Privateigentum zur Verbreitung (erkennbar) fremder Meinungen herangezogen wird.[21]

Daher erscheint eine Verletzung der Art. 14 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG durch Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz als von vornherein ausgeschlossen.

d) Ergebnis zu 1

Damit ist Rita Rüstig in Bezug auf Art. 3a EUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz nicht als beschwerdebefugt anzusehen.

2. Möglichkeit einer Verletzung des Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 GG durch das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge"

Rita Rüstig meint zudem, dass Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz sie in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG verletzt. Fraglich ist daher, ob jedenfalls insoweit eine Grundrechtsverletzung als möglich erscheint.

a) Möglichkeit einer Betroffenheit des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG

Grundsätzlich können sowohl Art. 14 Abs. 1 GG als auch Art. 2 Abs. 1 GG vor verfassungswidriger Besteuerung schützen. Art. 14 Abs. 1 GG schützt nach neuerer Rechtsprechung des BVerfG zwar nicht den Erwerb des Vermögens, wohl aber den Bestand des Erworbenen. Soweit der innerhalb einer Besteuerungsperiode erfolgte Erwerb von Eigentum im Sinne des Art. 14 GG tatbestandliche Voraussetzung für Steuerpflichten sei (wie z. B. bei der Einkommensteuer), müsse der Steuerpflichtige zahlen, weil und soweit seine Leistungsfähigkeit durch den Erwerb von Eigentum erhöht ist. Zwar möge die Auferlegung von Geldleistungspflichten für sich genommen die Eigentumsgarantie grundsätzlich unberührt lassen, für die Anknüpfung von Geldleistungspflichten an den Erwerb vermögenswerter Rechtspositionen gelte dies jedoch nicht. Sei es der Sinn der Eigentumsgarantie, das private Innehaben und Nutzen vermögenswerter Rechtspositionen zu schützen, greife auch ein Steuergesetz als rechtfertigungsbedürftige Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie ein, wenn der Steuerzugriff tatbestandlich an das Innehaben von vermögenswerten Rechtspositionen anknüpfe und so den privaten Nutzen der erworbenen Rechtspositionen zugunsten der Allgemeinheit einschränke.[22] Zudem schützt Art. 14 Abs. 1 GG vor der Auferlegung von Geldleistungspflichten, wenn diese den Betroffenen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigen, dass ihnen eine erdrosselnde Wirkung zukommt.[23]

Anmerkung: Das BVerfG stellt insoweit auch klar, dass sich der hiergegen ursprünglich gerichtete Einwand, Steuern müssten dann - sinnwidrig - als Enteignung qualifiziert werden, durch die Entwicklung des Enteignungsbegriffs erledigt hätte. Die generell-abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber bleibe stets - verfassungsmäßige oder verfassungswidrige - Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG), während der Enteignungsbegriff (Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG) beschränkt ist auf die Entziehung konkreter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben, also weitgehend zurückgeführt ist auf Vorgänge der Güterbeschaffung und jedenfalls durch gesetzliche Steuerpflichten nicht berührt wird (BVerfG, 2 BvR 2194/99 v. 18.1.2006, Abs. 35 = BVerfGE 115, 97, 111 f.). Zur Kritik an dieser Zurückführung des Enteignungsbegriffs durch Statuierung der "Güterbeschaffung" als Element des Enteignungsbegriffs: Krappel, DÖV 2012, 640 ff.; Schwarz, DVBl. 2013, 133 ff.

Im Übrigen ist die Belastung des Vermögens als Ganzes durch Abgabenpflichten jedoch nicht am Maßstab des Art. 14 Abs. 1 GG, sondern am Maßstab der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen, die auch davor schützt, zu Geldleistungen herangezogen zu werden.[24]

Daher ist die Möglichkeit einer Verletzung der Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG durch Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass der Schutzbereich dieser Grundrechte im vorliegenden Zusammenhang von vorn herein offensichtlich nicht betroffen ist.

b) Möglichkeit eines Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG durch Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz

Eine Verletzung der genannten Grundrechte könnte jedoch deshalb von vornherein ausgeschlossen sein, weil das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" nicht selbst eine Besteuerung vorsieht, sondern der EU Rechtsetzungsbefugnisse, d.h. hoheitliche Regelungsgewalt auf dem Gebiet des Steuer- und Abgabenrechts überträgt. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" berührt damit unmittelbar keine Rechtspositionen von Rita Rüstig. Er überträgt nur staatliche Kompetenzen auf die EU. Dies berührt die Rechte der Bürger nicht unmittelbar. Eine mögliche Beeinträchtigung von Grundrechten kann sich erst durch die späteren Maßnahmen der EU zur Durchführung der "Berliner Verträge" ergeben, weil sie die EU ermächtigen, dem Bürger Steuern aufzuerlegen.

Jedoch könnten bereits durch den bloßen Übertragungsakt Grundrechte Rita Rüstigs verletzt sein. Dies wäre denkbar, wenn die EU als supranationale Organisation nicht selbst an die deutschen Grundrechte gebunden wäre und ihr damit Art. 113a AEUV i.d.F. der "Saarheimer Verträge" die Möglichkeit eröffnen könnte, Regelungen zu treffen, die die deutsche öffentliche Gewalt wegen ihrer Bindung an die Grundrechte nicht in verfassungsmäßiger Weise treffen dürfte.

 

aa) Die Auffassung des BVerfG zur Bindung der EU an die deutschen Grundrechte

In der Maastricht-Entscheidung hat das BVerfG allerdings angenommen, dass die Organe der damaligen Europäischen Gemeinschaft in Deutschland bei Erlass des gemeinschaftsrechtlichen Sekundärrechts und sonstiger Rechtsakte unmittelbar an die deutschen Grundrechte gebunden seien. Das BVerfG hat sich damit grundsätzlich auch für befugt gehalten, Rechtsakte der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft am Maßstab der deutschen Grundrechte zu messen und sie gegebenenfalls nach § 78, § 82 Abs. 1, § 95 BVerfGG auch aufzuheben bzw. für nichtig zu erklären. Begründet wurde dies - sehr knapp - damit, dass auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten verschiedenen, öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation die Grundrechtsberechtigten in Deutschland beträfen und damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des BVerfG berührten, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand hätten.[25]

Anmerkung: Vor der Maastricht-Entscheidung hatte das BVerfG angenommen, es könne sekundäres Gemeinschaftsrecht nicht unmittelbar selbst am Maßstab der deutschen Grundrechte messen, aufheben und für nichtig erklären, sondern allenfalls seine Anwendung durch deutsche Behörden und Gerichte. Das BVerfG hielt sich damit nur dafür zuständig, inzident die Vereinbarkeit sekundären Gemeinschaftsrechts mit den Grundrechten zu prüfen und gegebenenfalls festzustellen, dass diese Vorschrift von deutschen Gerichten und Behörden nicht angewendet werden darf (BVerfGE 22, 293, 297 ff.; BVerfGE 37, 271, 283 ff. [Solange I]; BVerfGE 58, 1, 27 [Eurocontrol I]; BVerfGE 73, 339, 387 [Solange II]).

 

 

In der Lissabon-Entscheidung setzt das BVerfG wohl ebenfalls eine grundsätzliche Bindung des EU-Sekundärrechts auch an die deutschen Grundrechte (eher stillschweigend) voraus..[26] In späteren Entscheidungen des BVerfG [27] wird das Festhalten an dieser Rechtsprechung jedoch wieder sehr deutlich.

 

Anmerkung: Ebenso ist das BVerfG der Meinung, dass Rechtsakte internationaler Organisationen, denen Hoheitsrechte nach Art. 24 Abs. 1 GG übertragen wurden, Akte der öffentlichen Gewalt i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG sind, die deutsche Grundrechte beachten müssen und vom BVerfG daraufhin überprüfbar sind. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass es zu einer Flucht in organisatorisch verselbständigte Einheiten auf der zwischenstaatlichen Ebene komme (BVerfG, 2 BvR 2368/99 v. 4.4.2001, Abs. 11 ff. = NJW 2001, 2705).

 

Folgt man dem [27.1], könnte eine Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Europäische Union durch die deutsche Staatsgewalt nach Art. 23 Abs. 1 GG die deutschen Grundrechte schon deshalb nicht verletzen, weil dies die Bindung der nun auf die EU übertragenen Rechtsetzungsbefugnisse an die deutschen Grundrechte nicht berühren würde.

 

bb) Die Rücknahme des Kontrollanspruchs des BVerfG

Allerdings will das BVerfG die Vereinbarkeit von Rechtsakten der EU mit den deutschen Grundrechten "solange" nicht (mehr) überprüfen, nimmt "solange" also seinen "Kontrollanspruch zurück", wie die EU entsprechend Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG einen mit dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste.[27.2] "Solange" dies geschehe, sei eine Verfassungsbeschwerde oder ein sonstiges verfassungsgerichtliches Verfahren, das auf die Überprüfung des Sekundärrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte gerichtet sei, unzulässig.[27.3]

In der Bananenmarkt-Entscheidung[28] hat das BVerfG insoweit ganz erhebliche Anforderungen an die Darlegung des fehlenden Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union gestellt: Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten nach Art. 100 Abs. 1 GG, die eine Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, seien von vorneherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlege, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nicht nur im Einzelfall, sondern generell unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei.[29] Diese strikten Anforderungen wurden in dem Beschluss zum Investitionszulagengesetz jüngst erneut bestätigt.[30]

Anmerkung: Dederer (JZ 2014, 313, 317 f.) hebt zu Recht hervor, dass dies die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden ausschließt, wenn nur geltend gemacht wird, dass im konkreten Einzelfall der erforderliche Grundrechtsschutz seitens der EU (einschließlich dem EuGH) nicht gesichert wurde, und fordert - mit nicht unbeachtlichen Argumenten - eine "Rückkehr zur einzelfallbezogenen Grundrechtskontrolle" durch das BVerfG.

Damit stellt sich die Frage, ob die EU einen mit dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährt. Dies ist jedenfalls seit dem Vertrag von Lissabon[31] durch die Einbeziehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in das EU-Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 EUV) und die geplante zusätzliche Bindung an die in der EMRK gewährleisteten Grundrechte (Art. 6 Abs. 3 und 4 EUV) gegeben.[32] Auch vorher gewährte der EuGH jedoch bereits Grundrechtsschutz über die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, die er rechtsvergleichend aus den gemeinsamen Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedsstaaten und der EMRK gewann.[33]

Auch ist in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH erkennbar, dass er seinen Kontrollauftrag, auch Sekundärrechtsakte der EU am Maßstab dieser Europäischen Grundrechte im Verfahren nach Art. 263, Art. 267 AEUV zu messen und ggf. auch für nichtig zu erklären, durchaus ernst nimmt.[34]

Deutsche Rechtsakte, welche vollständig durch Unionsrecht determiniert sind, werden entsprechend dem bisher gesagten im Regelfall nicht kontrolliert.[35] Besteht hingegen ein nationaler Umsetzungsspielraum, insbesondere bei Richtlinien, so kann eine Prüfung auch nach deutschen Grundrechten stattfinden. Eine vorige Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV wäre jedoch wohl angezeigt.[36]

Dementsprechend wäre gesichert, dass das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" als Übertragungsakt nach Art. 23 Abs. 1 GG nicht bereits die (deutschen) Grundrechte der Rita Rüstig aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG verletzen kann.

c) Ergebnis zu 2

Der Übertragung von Hoheitrechten als solcher kann insofern Grundrechte Rita Rüstigs aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG von vornherein nicht verletzten. Damit ist sie insoweit nicht als beschwerdebefugt anzusehen.

3. Möglichkeit einer Verletzung des Art. 38 GG durch das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und den ESMV

Rita Rüstig rügt jedoch nicht nur eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG, sondern auch die Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 GG, dessen Verletzung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann. Bei unbefangener Betrachtungsweise erscheint jedoch auch eine Verletzung dieses Rechts durch das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und dem ESMV als von vornherein ausgeschlossen, da das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag und hiermit verbunden das Wahlrecht Rita Rüstigs von diesen Bestimmungen unmittelbar nicht berührt wird.

Im Maastricht-Urteil hat das BVerfG jedoch angenommen, dass Art. 38 GG nicht nur verbürge, dass dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zustehe und bei der Wahl die verfassungsrechtlichen Grundsätze eingehalten werden. Diese Verbürgung erstrecke sich vielmehr auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts. Art. 38 GG solle den Wahlberechtigten das subjektive Recht gewährleisten, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk (Art. 20 Abs. 2 GG) auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen.[37]

Das BVerfG hat diese Überlegung in der Lissabon-Entscheidung dahingehend näher erläutert, dass der Wahlakt zum deutschen Bundestag seinen Sinn verliere, wenn das gewählte Staatsorgan nicht über ein hinreichendes Maß an Aufgaben und Befugnissen verfüge, in denen die legitimierte Handlungsmacht wirken könne. Das Parlament trage nicht nur eine abstrakte "Gewährleistungsverantwortung" für das hoheitliche Handeln anderer Herrschaftsverbände, sondern die konkrete Verantwortung für das Handeln des Staatsverbandes. Das Grundgesetz habe diesen legitimatorischen Zusammenhang zwischen dem Wahlberechtigten und der Staatsgewalt durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar erklärt.[38] Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schließe es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages auf die europäische Ebene so zu entleeren, dass das Demokratieprinzip verletzt werde.[39] Das jedem Bürger zustehende Recht auf gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung (demokratisches Teilhaberecht) könne auch dadurch verletzt werden, dass die Organisation der Staatsgewalt so verändert werde, dass der Wille des Volkes sich nicht mehr wirksam im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG bilden könne und die Bürger nicht mit Mehrheitswillen herrschen könnten. Das Prinzip der repräsentativen Volksherrschaft könne verletzt sein, wenn im grundgesetzlichen Organgefüge die Rechte des Bundestages wesentlich geschmälert würden und damit ein Substanzverlust demokratischer Gestaltungsmacht für dasjenige Verfassungsorgan eintrete, das unmittelbar nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande gekommen sei. Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen sei sogar der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt sei in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehöre zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts.[40]

In der Entscheidung zum Euro-Rettungsschirm führt das BVerfG weiter aus: Der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers auf Demokratie wäre hinfällig, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge. Das Grundgesetz habe den Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Staatsgewalt in Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar erklärt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe bei der Neufassung des Art. 23 GG deutlich gemacht, dass der Auftrag zur Entwicklung der Europäischen Union an die dauerhafte Einhaltung bestimmter verfassungsrechtlicher Strukturvorgaben gebunden sei (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) und dass hier durch Art. 79 Abs. 3 GG eine absolute Grenze zum Schutz der Identität der Verfassung gesetzt werde (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG), die jedenfalls insoweit nicht etwa erst in Fällen einer drohenden totalitären Machtergreifung überschritten sei. Gegen eine mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbare Entäußerung von Kompetenzen durch das Parlament müsse sich der Bürger verfassungsgerichtlich zur Wehr setzen können. Insofern nehme das BVerfG, neben einer „ultra vires-Kontrolle“, die offensichtliche Kompetenzüberschreitungen durch die EU verhindern soll, eine sogenannte „Identitätskontrolle“ am Maßstab des Verfassungskerns von Art. 79 III GG vor.[41] Ein weitergehendes Rügerecht sehe das Grundgesetz nicht vor. Die abwehrrechtliche Dimension des Art. 38 Abs 1 GG komme daher in Konstellationen zum Tragen, in denen offensichtlich die Gefahr bestehe, dass die Kompetenzen des gegenwärtigen oder künftigen Bundestages auf eine Art und Weise ausgehöhlt würden, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens, gerichtet auf die Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktisch unmöglich machen würde. Die Antragsbefugnis sei folglich nur dann gegeben, wenn substantiiert dargelegt wird, dass das Wahlrecht entleert sein könnte.[42]

Nach Ansicht des BVerfG enthält Art. 38 GG damit ein subjektives Recht auf Verwirklichung des in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen Demokratieprinzips gerade durch die Bundestagswahlen. Da dieses Recht nach Ansicht des BVerfG wohl nicht durch Verfassungsänderung beseitigt werden kann,[43] setzt dies voraus, dass zumindest dieser Teil des Art. 38 GG - also das subjektive Recht auf Verwirklichung der Demokratie gerade durch den Bundestag - selbst Teil der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG ist und damit (wie Art. 1 GG) auch im Wege der Verfassungsänderung nicht aufgehoben werden kann.

Anmerkung: Diese vom BVerfG vorgenommene materielle Anreicherung des Art. 38 GG bewirkt letztlich, dass zur Sicherung der Einhaltung der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG jedenfalls in Fällen mit EU-Bezug die "Popularverfassungsbeschwerde" eingeführt wird (Heun, JZ 2014, 331, 332; Ludwigs, NVwZ 2015, 537, 540; Mayer, EuR 2014, 473, 502 ff.; Schönberger, Der Staat 48 [2009], 535, 540; Schwerdtfeger, ZEuS 2015, 290, 304 f.; Ukrow, ZEuS 2014, 119, 127 f.; krit. zu dieser Kritik: Huber, ZSE 2013, 484, 493 f.; Murswiek, JZ 2010, 702, 707 f.). Es ist aber sehr zweifelhaft, ob sich diese Ausweitung des Regelungsgehalts des Art. 38 Abs. 1 GG auf Fälle mit EU-Bezug begrenzen lässt (gegen [die Möglichkeit] eine[r] solche Begrenzung etwa Heun, JZ 2014, 331, 332; Huber, ZSE 2013, 484, 492; Kube, in: Anderheiden u. a. [Hrsg.], Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013, S. 571, 597 ff.; Lehner, Der Staat 52 [2013], 535, 558 f.). Die hier bestehenden Probleme etwa deutlich bei BVerfG, 2 BvR 1390/12 v. 18.3.2014, Abs. 123 ff. = BVerfGE 135, 317, 385 ff.). Außerhalb dieses Zusammenhangs könnte dieses Recht etwa bei jeder substantiellen Verlagerung von Zuständigkeiten des Bundestages auf andere Organe relevant sein: Dementsprechend wäre auch denkbar, dass Art. 38 GG davor schützt, dass im Wege der Verfassungsänderung der Bundesregierung nach dem Vorbild der Art. 34 ff. der Verfassung der französischen Republik v. 4.10.1958 originäre Gesetzgebungszuständigkeiten zugesprochen würden, weil hierdurch Rechte des Bundestages substantiell beschnitten würden (siehe hierzu auch Gassner, Der Staat 34 [1995], S. 429, 434; Meesen, NJW 1994, 549, 550 f.). Ebenso wäre denkbar, dass Art. 38 GG auch davor schützt, dass massiv Zuständigkeiten vom Bund auf die Länder übertragen werden, so dass etwa fraglich sein könnte, ob es mit Art. 38 GG vereinbar wäre, im Wege der Verfassungsänderung weitere Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder "herabzuzonen" oder entsprechend Art. 70 Satz 2 der Reichsverfassung von 1871 die Finanzierung des Bundes weitgehend von Finanzzuweisungen der Länder an den Bund abhängig zu machen. Gerade letzteres Beispiel zeigt, dass Art. 38 GG nach Auffassung des BVerfG - weil er nach Ansicht des BVerfG die Verwirklichung des Demokratieprinzips gerade durch den Bundestag sichern soll - mittelbar auch ein subjektives Recht auf einen "starken" Bund gewährt (vgl. hierzu auch  Lehner, Der Staat 52 [2013], S. 535, 552; Sachs, in: Sachs u. a. [Hrsg.], Festschrift für Klaus Stern II, 2012, S. 597, 604 f.).   
Damit stellt sich aber die Frage, ob der Ansatz des BVerfG, gerade Art. 38 GG zum "Grundrecht auf Demokratie" auszubauen, wirklich sinnvoll ist. Ein vom BVerfG angenommenes Recht auf politische Selbstbestimmung in Form demokratischer Teilhabe schlechthin (und nicht nur durch die Bundestagswahlen) hätte sich eher unmittelbar auf Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG stützen lassen (so Kube, in: Anderheiden u. a. [Hrsg.], Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013, S. 571, 582 ff.). Geht es nicht darum, ein Grundrecht auf demokratische Teilhabe zu kreieren, sondern ein allgemeines Grundrecht auf Respektierung der "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG, hätte es näher gelegen, ein solches aus dem ebenfalls verfassungsbeschwerdefähigen Art. 20 Abs. 4 GG herzuleiten, etwa dergestalt, dass Art. 20 Abs. 4 GG nicht nur ein Recht auf Widerstand, sondern auch ein im Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzbares Recht auf "Abhilfe" gewährleistet (ausführlich zu diesem Ansatz Murswiek, in: Wittinger u. a. [Hrsg.], Festschrift für Wildried Fiedler, 2011, S. 251, 253 ff.; ausdrücklich ablehnend BVerfGE 89, 155, 180; BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 185 f. = BVerfGE 123, 267, 333; BVerfG, 2 BvR 1390/12 v. 12.9.2012, Abs. 97 = BVerfGE 132, 195, 236; BVerfG, 2 BvR 1390/12 v. 18.3.2014, Abs. 132 = BVerfGE 135, 317, 389; Sachs, in: Sachs u. a. [Hrsg.], Festschrift für Klaus Stern II, 2012, S. 597, 609 ff.).


Folgt man der Ansicht des BVerfG kann im Anwendungsbereich des Art. 23 GG das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 GG verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des deutschen Bundestages so weitgehend auf ein Organ der EU übergeht, dass die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen des Demokratieprinzips nicht mehr erfüllt werden. Dies ist nach Ansicht des BVerfG dann nicht mehr gewährleistet, wenn staatliche Hoheitsgewalt in solchem Umfang auf die EU übertragen wird, dass dem Bundestag keine substantielle Entscheidungskompetenz mehr verbleibt.

Letzteres ist hier nicht von vornherein auszuschließen, weil das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" dazu führen würde, dass das Steuer- und Abgabenrecht dem nationalen Gesetzgeber entzogen würde. Der Bundestag hätte auf diesem zentralen Gebiet der staatlichen Politik keine Entscheidungsbefugnisse mehr, so dass seine Kompetenzen erheblich geschwächt würden.

Auch im Rahmen des ESMV scheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass für die Bundesrepublik Kosten entstehen könnten, die nicht unmittelbar durch den Bundestag in Ausübung seines Budgetrechts abgesegnet wurden.

Die Möglichkeit der Verletzung des subjektiven Wahlrechts Rita Rüstigs kann demnach nicht ausgeschlossen werden: Rita Rüstig macht ihr eigenes subjektives Wahlrecht geltend, das ohne weiteren Vollzugsakt und damit unmittelbar durch die Übertragung der Kompetenzen aufgrund des Zustimmungsgesetzes beeinträchtigt wird. Da das Gesetz bereits in Kraft ist, ist Rita Rüstig auch gegenwärtig betroffen. Rita Rüstig ist also hinsichtlich der Verletzung ihres subjektiven Wahlrechts durch Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz beschwerdebefugt.

4. Ergebnis zu III

Rita Rüstig ist demnach nur im Hinblick auf Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" sowie Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz als beschwerdebefugt anzusehen und dies auch nur insoweit, als sie eine Verletzung des Art. 38 GG rügt.

IV. Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und "Subsidiarität" der Verfassungsbeschwerde

Gegen Bundesgesetze - und damit auch gegen Zustimmungsgesetze nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Art. 59 Abs. 2 GG steht kein Rechtsweg (außer der Verfassungsbeschwerde) offen, so dass die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erfüllt sind. Fraglich ist jedoch, ob der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der "Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde" entgegensteht. Nach diesem - vom BVerfG letztlich in erweiternder Auslegung des § 90 Abs. 2 BVerfGG gefundenen - Grundsatz hat der Beschwerdeführer neben der Erschöpfung des Rechtswegs alle anderweitig bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, die geeignet sind, die Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder ohne Inanspruchnahme des BVerfG im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen.[44] Vorstellbar wäre insoweit, von Rita Rüstig zu verlangen, abzuwarten, bis sie aufgrund der neuen EU-Gesetzgebung zum Steuerrecht zu Steuern herangezogen wird, und sich in einem gegen diesen Steuerbescheid gerichteten Verfahren darauf zu berufen, dass der EU in Deutschland gar keine Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet des Steuerrechts mangels wirksamer Zustimmung zu den "Berliner Verträgen" zukomme.

Jedoch steht dem der Rechtsgedanke des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entgegen: Rita Rüstig rügt eine Verletzung ihres Rechtes aus Art. 38 GG. Nimmt man an, dass dieses Recht auch durch eine Aushöhlung der Kompetenzen des Bundestages verletzt sein kann, so ist die Übertragung der Steuerkompetenz als solche die Rechtsverletzung, die Rita Rüstig beseitigt haben will, und zwar unabhängig davon, ob sie später zu Steuern herangezogen wird oder nicht. Damit wäre eine Verweisung auf eine Klage gegen etwaige spätere Steuerbescheide für Rita Rüstig unzumutbar. Darüber hinaus wäre auch im Hinblick auf die allgemeine Bedeutung des Zustimmungsgesetzes zu den "Berliner Verträgen" ein Verweis auf gegen spätere Steuerbescheide gegebene Rechtsmittel nicht angebracht: Allgemeine Bedeutung liegt vor, wenn die Verfassungsbeschwerde grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufwirft oder wenn die zu erwartende Entscheidung über den Einzelfall hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle schafft.[45] Zumindest Letzteres ist der Fall, da von der Frage der innerstaatlichen Wirksamkeit des Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" letztlich das gesamte Steuer- und Steuerverfahrensrecht abhängt. Auch für den ESMV kann allein schon aufgrund seines Umfangs und dem entsprechenden öffentlichen Interesse von allgemeiner Bedeutung ausgegangen werden.

V. Frist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG)

Aus dem Sachverhalt ergibt sich, dass Rita Rüstig aus der Tagespresse von der Ratifikation erfährt und sofort Verfassungsbeschwerde erhebt, so dass die Einhaltung der Frist von einem Jahr (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts vorausgesetzt werden kann.

VI. Ergebnis zu A

Die Verfassungsbeschwerde Rita Rüstigs ist somit zulässig, soweit sie eine Verletzung ihres Rechts aus Art. 38 GG durch Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz rügt, im Übrigen dagegen unzulässig.

B) Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn Rita Rüstig durch Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz tatsächlich in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 GG verletzt wird.

Nach dem oben Gesagten (s.o. A III 3) gewährleistet Art. 38 GG das Recht, durch die Wahl an der Legitimation der Staatsgewalt durch den Bundestag teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluss zu nehmen. Dies schließt im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, dieses Recht durch Verlagerung von Kompetenzen auf die EU so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es von Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt wird, verletzt wird. Dies ist der Fall, wenn Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" und Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz Art. 38 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 1 GG) verletzt, was wiederum dann gegeben ist, wenn die Regelung dem Bundestag keine substantiellen Befugnisse belässt.

I. Verlust des Budgetrechts des Deutschen Bundestages als Aushöhlung des Art. 38 Abs. 1 GG

In der Lissabon-Entscheidung hat das BVerfG ausgehend vom Souveränitätsgedanken Bereiche festgelegt, deren Übertragung an die EU grundsätzlich einer weitergehenden Integration nur begrenzt zugänglich, jedenfalls "souveränitätssensibel" seien. Diese "Kernbereiche staatlichen Handelns" sind nach dem BVerfG "insbesondere"

"die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis".[46]

Anmerkung: Kritisch zu diesem Konzept ("Unnötige Theorie der notwendigen Staatsaufgaben") und der "Auswahl" der Gebiete etwa Halberstam/Möllers, German Law Journal 10 (2009), 1241, 1249 ff.; Sachs, in: Sachs u. a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Stern II, 2012,S. 597, 604 f.; Schönberger, Der Staat 48 (2009), 535, 554; Selmayr, ZEuS 2009, 637, 657 ff

In der Entscheidung zum Euro-Rettungsschirm beschreibt das BVerfG dies im Hinblick auf das Budgetrecht näher: Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand sei grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat. Der Deutsche Bundestag müsse dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Das Budgetrecht stelle insofern ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar. Zum einen diene das Budgetrecht als Instrument umfassender parlamentarischer Regierungskontrolle. Zum anderen aktualisiere der Haushaltsplan den tragenden Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten als eine wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie. Die Staatsaufgaben stellten sich im Haushaltsplan als Ausgaben dar, die nach dem Ausgleichsgebot durch Einnahmen gedeckt werden müssen. Umfang und Struktur des Haushaltsplans spiegeln damit die Gesamtpolitik wider. Zugleich begrenzen die erzielbaren Einnahmen den Spielraum für die Erfüllung ausgabenwirksamer Staatsaufgaben. Die Hoheit über den Haushalt ist der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen.[47]

Art. 38 Abs. 1 GG wird namentlich verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können.[48] Hieraus schließt das BVerfG, dass die gewählten Bundestagsabgeordneten als Repräsentanten des Volkes auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten müssten. Mit ihrer Öffnung für die internationale Zusammenarbeit, Systeme kollektiver Sicherheit und die europäische Integration binde sich die Bundesrepublik Deutschland nicht nur rechtlich, sondern auch finanzpolitisch. Selbst dann, wenn solche Bindungen erheblichen Umfang annehmen, werde das Budgetrecht nicht in einer mit dem Wahlrecht rügefähigen Weise verletzt. Für die Einhaltung der Grundsätze der Demokratie komme es jedoch darauf an, ob der Deutsche Bundestag der Ort bleibe, in dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden werde, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten. Würde über wesentliche haushaltspolitische Fragen der Einnahmen und Ausgaben ohne konstitutive Zustimmung des Bundestages entschieden oder würden überstaatliche Rechtspflichten ohne entsprechende Willensentscheidung des Bundestages begründet, so geriete das Parlament in die Rolle des bloßen Nachvollzuges und könnte nicht mehr die haushaltspolitische Gesamtverantwortung im Rahmen seines Budgetrechts wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund dürfe der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Insbesondere dürfe er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen könnten, seien es Ausgaben oder Einnahmeausfälle.[49]

1. Art. 113a AEUV

Nach Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" verliert der Deutsche Bundestag jedoch nicht nur jede Zuständigkeit auf dem Gebiet des Steuer- und Abgabenrechts, sondern auch die Verfügungsgewalt über die erzielten Einnahmen. Damit ginge das parlamentarische "Budgetrecht" umfassend auf die EU über. Der Verlust des Budgetrechts würde den Bundestag also einer Kernkompetenz berauben. Faktisch würde der Verlust der Ertragshoheit Deutschland und damit auch den Bundestag der Möglichkeit berauben, überhaupt noch unabhängig von der EU und souverän Politik zu betreiben. Die den Mitgliedstaaten formal verbleibenden Zuständigkeiten würden über die finanziellen Zuweisungen mittelbar durch die EU kontrolliert. Der Bundestag verlöre jegliche substantielle politische Verantwortlichkeit und Gestaltungsmöglichkeit.

Art. 113a AEUV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz verletzt insofern offensichtlich die oben dargelegten Grundsätze und damit Art. 38 I GG.

2. ESMV

Fraglich ist, ob dies auch für den ESMV zutrifft. Dieser geht nämlich grundsätzlich von einer begrenzten Haftungssumme aus. Das genehmigte Stammkapital des Europäischen Stabilitätsmechanismus beträgt 700 Milliarden Euro (Art. 8 Abs. 1 ESMV), wovon Anteile im Gesamtnennwert von 190.024.800.000 Euro auf die Bundesrepublik Deutschland entfallen (Anhang II zum ESMV). Wie sich aus Art. 8 Abs. 5 ESMV ergibt, bildet der Anteil am genehmigten Stammkapital die Obergrenze für sämtliche aus dem ESMV erwachsenden Zahlungspflichten und damit auch für die maximale Belastung des Bundeshaushaltes.

Eine den deutschen Anteil am genehmigten Stammkapital in Höhe von 190.024.800.000 Euro übersteigende Zahlungspflicht dürfte sich wohl auch nicht aus der in Art. 25 Abs. 2 ESMV geregelten Möglichkeit eines revidierten erhöhten Kapitalabrufes ergeben.[50] Zwar kann ein solcher Kapitalabruf dazu führen, dass die Bundesrepublik Deutschland Mittel aufbringen muss, die nach den Regelungen des Vertrages eigentlich von anderen Mitgliedstaaten aufzubringen wären. Sollte ein ESM-Mitglied einem Kapitalabruf nach Art. 9 Abs. 2 oder Abs. 3 ESMV nicht nachkommen (können), ergeht an alle Mitgliedstaaten ein revidierter erhöhter Kapitalabruf, der nach dem Vertragstext ausdrücklich die Funktion hat, die Einzahlung des erforderlichen Kapitals in voller Höhe zu gewährleisten, was naturgemäß nur durch eine höhere Belastung der leistungsfähigen und -willigen Mitgliedstaaten sichergestellt werden kann. Daraus wird man jedoch nicht schließen können, dass eine Inanspruchnahme dieser Mitgliedstaaten auch jenseits der durch Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV bestimmten Obergrenze ermöglicht werden soll. Die Obergrenze wäre anderenfalls funktionslos.

Da eine strikte höhenmäßige Begrenzung der deutschen Zahlungspflichten bei Anwendung der Vorschriften über revidierte erhöhte Kapitalabrufe nach Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 ESMV jedenfalls aber nicht dem Wortlaut des Art. 25 Abs. 2 ESMV zu entnehmen ist, ist auch eine Auslegung nicht ausgeschlossen, die Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV auf diesen Fall für nicht anwendbar hält, so dass das Gesamtengagement Deutschlands im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus mit dem vertraglich verankerten Betrag von 190.024.800.000 Euro nicht vollständig festgelegt wäre. Denkbar erscheint in diesem Zusammenhang eine Rechtfertigung mit dem Argument, selbst bei höheren Einzahlungen liege keine Überschreitung dieser Obergrenze vor, weil der in Vorleistung tretende Mitgliedstaat Ersatzansprüche gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus erhalte und damit ein hinreichender Gegenwert zur Verfügung stehe (vgl. Art. 25 Abs. 3 ESMV, BTDrucks 17/9045, S. 33). Da die revidierten erhöhten Kapitalabrufe für unerwartete Notsituationen konzipiert sind, um auch sehr kurzfristig eine die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Stabilitätsmechanismus beeinträchtigende Kapitalunterdeckung beheben zu können, könnten auch teleologische Erwägungen auf eine restriktive Interpretation von Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV hinauslaufen. So könnte etwa behauptet werden, dass es die Erreichung des von Art. 25 Abs. 2 ESMV verfolgten Zwecks, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus unter allen Umständen und jederzeit die bestmögliche Bonität zu sichern und damit seine Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, erschweren könne, wenn ein Mitgliedstaat die für erforderlich erachtete Einzahlung bis zur Wirksamkeit einer Kapitalerhöhung nach Art. 10 ESMV mit der Begründung verweigern dürfte, er habe seine Anteile am genehmigten Stammkapital bereits vollständig eingezahlt.

Erfordert die durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützte haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages, dass die Haftung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus nicht ohne Zustimmung des Bundestages über 190.024.800.000 Euro hinaus erhöht werden kann, so ist nach alldem eine Ratifizierung des ESM-Vertrages nur zulässig, wenn die Bundesrepublik Deutschland sicherstellt, dass Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV, vorbehaltlich von Entscheidungen nach Art. 10 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 2 Satz 4 ESMV, sämtliche Zahlungsverpflichtungen aus diesem Vertrag der Höhe nach auf die in Anhang II des Vertrages genannte Summe begrenzt und dass Vorschriften dieses Vertrages, insbesondere Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ESMV nur so ausgelegt oder angewandt werden können, dass für die Bundesrepublik Deutschland keine höheren Zahlungsverpflichtungen begründet werden. Die Bundesrepublik Deutschland muss deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie an den ESMV insgesamt nicht gebunden sein kann, falls sich der von ihr geltend gemachte Vorbehalt als unwirksam erweisen sollte.

Unter dieser Bedingung ist die Ratifikation des ESMV nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden.

(Die Bundesregierung hat mit den anderen Vertragsparteien eine gemeinsame Interpretationserklärung i.S.v. Art. 32 III a) der Wiener Vertragsrechtskonvention  abgeschlossen, welche diese Bedingung erfüllen will:

 

Declaration on the European Stability Mechanism

The representatives of the parties to the Treaty establishing the European Stability Mechanism (ESM) signed on 2 February 2012, meeting in Brussels on 27 September 2012, agree on the following interpretative declaration:

“Article 8(5) of the Treaty Establishing the European Stability Mechanism ("the Treaty") limits all payment liabilities of the ESM Members under the Treaty in the sense that no provision of the Treaty may be interpreted as leading to payment obligations higher than the portion of the authorised capital stock corresponding to each ESM Member, as specified in Annex II of the Treaty, without prior agreement of each Member’s representative and due regard to national procedures. Article 32(5), Article 34 and Article 35(1) of the Treaty do not prevent providing comprehensive information to the national parliaments, as foreseen by national regulation. The above mentioned elements constitute an essential basis for the consent of the contracting States to be bound by the provisions of the Treaty.[51])

II. Keine Kompensation durch Steigerung der Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments

Da Art. 38 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79, Art. 20 Abs. 1 und 2 GG nach Ansicht des BVerfG ein Recht auf Verwirklichung des Demokratieprinzips gerade durch den Bundestag gewährt, lässt sich der Verlust des demokratischen Gehalts der Bundestagswahl auch nicht dadurch kompensieren, dass dem Europäischen Parlament weitergehende Rechte zugewiesen werden, etwa ein parlamentarisches Regierungssystem auf europäischer Ebene begründet wird. Dies erklärt das BVerfG damit, dass die vorrechtlichen Voraussetzungen für eine Demokratie auf Unionsebene (noch) nicht vorliegen, da eine funktionierende Demokratie einen einheitlichen Kommunikationsraum voraussetze, der aber (noch) nicht existiere, da es (noch) keine einheitliche europäische Öffentlichkeit gebe. Daher verlange das Demokratieprinzip eine Rückkoppelung der demokratischen Legitimation des Handelns der europäischen Organe an die Parlamente der Mitgliedsstaaten.[52]

III. Ergebnis zu B

Damit verletzt Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz das grundrechtsgleiche Recht Rita Rüstigs aus Art. 38 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 1 GG). Die Verfassungsbeschwerde ist also insoweit begründet. Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz ist hingegen unter der genannten Bedingung mit Art. 38 I GG vereinbar.

C) Gesamtergebnis

Nur soweit sich die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 38 GG gegen Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz richtet, ist sie zulässig und begründet, im Übrigen ist sie unzulässig bzw. bezogen auf Art. 25 II ESMV i.V.m. dem Zustimmungsgesetz unbegründet. Die Verfassungsbeschwerde hat damit nur teilweise Aussicht auf Erfolg.

Das BVerfG wird dementsprechend nach § 95 Abs. 1 BVerfGG feststellen, dass Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" i.V.m. dem Zustimmungsgesetz Rita Rüstigs Grundrecht aus Art. 38 GG verletzt. Fraglich ist allerdings, inwieweit das BVerfG gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG das Zustimmungsgesetz für nichtig erklären wird. Grundsätzlich erklärt das BVerfG nach § 95 Abs. 3 Satz 1 GG nur die Teile eines Gesetzes für nichtig, die tatsächlich die Grundrechte des Beschwerdeführers verletzen. Dies könnte bedeuten, dass das Zustimmungsgesetz nur insoweit für nichtig zu erklären ist, als es Art. 113a AEUV i.d.F. der "Berliner Verträge" zustimmt. Jedoch darf nicht verkannt werden, dass Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen ein untrennbares Ganzes bilden: Der Bundestag kann Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 GG nur im Ganzen zustimmen oder sie im Ganzen ablehnen. Änderungen oder Ergänzungen sind nicht möglich, weil hierfür mit dem oder den Vertragspartnern neu verhandelt werden müsste, die Bundesrepublik den Inhalt des Vertrages also nicht einseitig bestimmen kann.[53] Dementsprechend sieht § 82 Abs. 2 GeschO BT vor, dass bei Gesetzen nach § 59 Abs. 2 GG Änderungsanträge nicht zulässig sind.[54] Hieraus folgt, dass auch das BVerfG ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG grds. nur im Ganzen für nichtig erklären kann.

Vorliegend handelt es sich jedoch um zwei Verträge, von denen einer sogar für den Fall des Nichtzustandekommens des anderen konzipiert ist. Der Teil des Zustimmungsgesetzes zu den „Berliner Verträgen“ ist entsprechend im Ganzen für nichtig zu erklären, der Teil zum ESMV hingegen nicht.

Die Nichtigkeit des Zustimmungsgesetzes zu den Berliner Verträgen hat aber zunächst nur innerstaatliche Wirkung: Sie würde die völkerrechtliche Wirksamkeit der "Berliner Verträge" an sich nicht berühren.[55] Nach Art. 48 Abs. 4 und Abs. 2 EUV treten jedoch Primärrechtsänderungen die - wie hier - im ordentlichen Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 Abs. 2 bis 5 EUV) angenommen wurden, erst in Kraft, nachdem sie "von allen Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind." Insoweit verweist das Primärrecht somit auf das nationale Verfassungsrecht, das vorliegend nicht beachtet worden ist, so dass bei einer Nichtigkeitserklärung des deutschen Zustimmungsgesetzes die "Berliner Verträge" auch als völkerrechtliche Verträge nicht wirksam in Kraft getreten sind. 


Zur Vertiefung siehe hierzu:

  • aus der neueren Literatur zur "Lissabon-Entscheidungskette" des BVerfG (ausgewählt nach der Pointiertheit der jeweils vertretenen Ansichten zu dem vom Fall [nicht vom Lissabon-Urteil allgemein] aufgeworfenen Fragen): Dederer, JZ 2014, 313 ff.; Gärditz/Hillgruber, JZ 2009, 872 ff.; Halberstam/Möllers, German Law Journal 10 (2009), 1241 ff.; Jestaedt, Der Staat 48 (2009), 497 ff.; Ruffert, EuR 2011, 842 ff.; Schönberger, Der Staat 48 (2009), 535 ff.; Selmayr, ZEuS 2009, 637 ff.;
  • aus der Literatur zum OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG: Brosius-Linke, DÖV 2014, 612 ff.; Gött, EuR 2014, 514 ff.; Heun, JZ 2014, 331 ff.; Ludwigs, NVwZ 2015, 537 ff.; Mayer, EuR 2014, 473 ff.; Pauly/Beutel, BayVBl. 2014, 453 ff.; Schmidt, JZ 2015, 317 ff.; Ukrow, ZEuS 2014, 119 ff.; Wendel, ZaöRV 74 (2014), 615 ff.; zu seiner Rezeption in anderen Mitgliedstaaten der EU: Dahan/Fuchs/Layus, AJDA 2014, 1311 ff.; Peyrou, RFDC 2015, 145 ff.; Pliakos, Revue de l'Union européenne 2015, 41 ff.; Tusseau, rfda 2014, 602 ff.
  • aus der Literatur speziell zur "Integrationsverfassungsbeschwerde": Kube, in: Anderheiden u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013, S. 571 ff.; Lehner, Der Staat 52 (2013), 535 ff.; Murswiek, JZ 2010, 702 ff.; Murswiek, in: Wittinger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wildried Fiedler, 2011, S. 251 ff.; Sachs, in: Sachs u. a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Stern II, 2012, S. 597 ff.
    • Aus der Literatur zu EU-Steuern: Buser, Die Finanzierung der EU: Möglichkeiten und Grenzen einer EU-Steuer nach Europarecht und Grundgesetz, in: ZEuS, 2014, S. 91 ff. und Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 91; Frenz/Distelrath, Eigene Unionsteuer nach dem Lissabon Vertrag?, DStZ 2010, S. 246 ff.

[1] Oppermann/Classen/Nettesheim, § 9 Rn. 54 ff.

[2] vgl. BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30. 6. 2009, Abs. 170 = BVerfGE 123, 267, 329; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EUV Rn. 6.

[3](3) Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“; s. hierzu: BVerfG, 2 BvR 1390/12, Urteil vom 12.09.2012, Rn. 131ff. - ESM.

[4] Schweitzer, Rn. 103 ff.

[5] Schlaich/Korioth, Rn. 214.

[6] Siehe hierzu Schweitzer, Rn. 163 ff.

[7] Vgl. BVerfGE 77, 170, 209 ff.; Robbers, S. 20 f.

[8] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30. 6. 2009, Abs. 170 = BVerfGE 123, 267, 329.

[9] BVerfGE 2, 347, 367; BVerfGE 68, 1, 64.

[10] Vgl. Pestalozza, § 2 Rn. 41.

[11] Pieroth/Schlink, Rn. 603 ff.

[12] Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 22 Rn. 22 [Bearbeitung 1997].

[13] Grundlegend insoweit EuGH, Rs. 26/62 v. 16. 8 1962, Slg. 1963, 1 Rn. 9 – van Gend & Loos.

[14] Vgl. Herdegen, § 8 Rn. 13.

[15] Vgl. BVerfGE 37, 271, 280 [Solange I]; BVerfGE 73, 339, 374 [Solange II] - jeweils zu Art. 24 Abs. 1 GG; s. hierzu auch: Herdegen, Europarecht, 14. Aufl., S. 239f.

[16] Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, Grundrechte, 6. Aufl., Art. 23, Rn. 37.

[17] Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, Grundrechte, 6. Aufl., Art. 23, Rn. 52f.

[18] BVerfGE 123, 267 (355, 434); dagegen: Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, Grundrechte, 6. Aufl., Art. 23, Rn. 46.

[19] Dürig, AöR 81 [1956], S. 117, 126; siehe hierzu Stern III/1, § 58 II 3 c, S. 24 f.

[20] Bryde, in: Münch/Kunig, Art. 14 Rn. 3.

[21] BVerfGE 95, 173, 182.

[22] BVerfG, 2 BvR 2194/99 v. 18. 1. 2006, Abs. 33 ff. = BVerfGE 115, 97, 110 ff.

[23] s. nur BVerfG, 1 BvR 1031/07 v. 25. 7. 2007, Abs. 26 ff. = NVwZ 2007, 1168, 1169 m.w.N.

[24] Pieroth/Schlink, Rn. 985 m. w. N.

[25] BVerfGE 89, 155, 174 f.

[26] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30. 6. 2009, Abs. 337 f. = BVerfGE 123, 267, 399.

[27] BVerfG, 1 BvR 1916/09 v. 19. 7. 2011, Abs. 53 = BVerfGE 129, 78, 90; BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4. 10. 2011 Abs. 46 = BVerfGE 129, 186, 199.

[27.1] Zweifel etwa bei Gärditz/Hillgruber, JZ 2009, 872, 874.

[27.2] zusammenfassend hierzu Polzin, JuS 2012, 1, 2 ff.; Schöbener JA 2011, 885, 889 f.

[27.3] BVerfGE 89, 155, 175; BVerfG, 2 BvL 1/97 v. 7.6.2000, Abs. 57 ff. = BVerfGE 102, 147, 162 ff.; BVerfG, 1 BvF 1/05 v. 3.3.2007, Abs. 66 ff. = BVerfG, 118, 79, 95 f.; BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 190 ff. = BVerfGE 123, 267, 334 f.; BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4. 10. 2011 Abs. 46 = BVerfGE 129, 186, 19.

[28] BVerfG, 2 BvL 1/ 97 v. 7.6.2000, Abs. 57 ff. = BVerfGE 102, 147, 162 ff.

[29] BVerfG, 2 BvL 1/ 97 v. 7.6.2000, Abs. 62 = BVerfGE 102, 147, 164.

[30] BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4.10.2011 Abs. 46 = NJW 2012, 45 Rn. 46.

[31] S. hierzu und zur Entwicklung nur Oppermann/Classen/Nettesheim, § 17 Rn. 1 ff.

[32] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 190 ff. = BVerfGE 123, 267, 334 f.; Polzin, JuS 2012, 1, 3.

[33] S. hierzu: Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, 6. Aufl., Art. 23, Rn. 27.

[34] vgl. EuGH, Rs. C-92/09 und C-93/09 v. 9.11.2010, Abs. 45 ff. [Schecke und Eifert]; EuGH, Rs. C-236/09 v. 1.3.2011, Abs. 16 ff. [ASBL] ); so auch die Würdigung von Bäcker, Jura 2014, 1263, 1273 f.; von Danwitz, EuGRZ 2013, 253 ff.; Schroeder, EuZW 2011, 462, 465 ff.; Spiecker gen. Döhmann, JZ 2014, 1109, 1110; Weiß, EuZW 2013, 287, 290 ff.

[35] BVerfGE 118, 79 (95ff.) – Emissionshandel.

[36] S. hierzu: Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, 6. Aufl., Art. 23, Rn. 34.

[37] BVerfGE 89, 155, 171 f.; ebenso BVerfG 2 BvR 1877/97, 2 BvR 50/98 v. 31.3.1998, Abs. 76 ff. = BVerfGE 97, 350 368 f. [Euro].

[38] S. kritisch hierzu und von einer doppelten Legitimationsmöglichkeit über nationale und europäisches Parlament ausgehend: Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, 6. Aufl., Art. 23, Rn. 14-18.

[39] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 174 f. = BVerfGE 123, 267, 330.

[40] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 209 ff. = BVerfGE 123, 267, 340 f. – Lissabon.

[41] S. hierzu: Herdegen, Europarecht, 14. Aufl., S. 236.

[42] BVerfG 2 BvR 987/10 u.a. v. 7.9.2011, Abs. 98 ff. = NJW 2011, 2946 Abs. 98 ff. = BVerfGE 129, 124 – EFSM.

[43] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 208 ff. = BVerfGE 123, 267, 330 f. – Lissabon.

[44] Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, § 90, Rn. 127.

[45] Lechner/Zuck, § 90 Rn. 182 ff.

[46] BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 249 = BVerfGE 123, 267, 359 ff. – Lissabon; kritisch zu diesem Konzept ("Unnötige Theorie der notwendigen Staatsaufgaben") und der "Auswahl" der Gebiete etwa Halberstam/Möllers, German Law Journal 10 (2009), 1241, 1249 ff.; Schönberger, Der Staat 48 (2009), 535, 554; Selmayr, ZEuS 2009, 637, 657 ff.

[47] BVerfG, 2 BvR 987/10 u.a. v. 7.9.2011, Abs. 122 ff. = NJW 2011, 2946, Abs. 122 ff. = BVerfGE 129, 124 – EFSM; hierzu Ruffert, EuR 2011, 842, 847 f.

[48] BVerfG 2 BvR 987/10 u.a. v. 7.9.2011 = NJW 2011, 2946 = BVerfGE 129, 124(177) – EFSM.

[49] BVerfG 2 BvR 987/10 u.a. v. 7.9.2011, Abs. 124 = NJW 2011, 2946, Abs. 124 = BVerfGE 129, 124 – EFSM.

[50] Zum nachfolgenden: BVerfG, 2 BvR 1390/12, Urteil vom 12.09.2012, Rn. 250-253.

[51]Verfügbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ecofin/132615.pdf.

[52] BVerfGE 89, 155, 185; BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 274 ff. = BVerfGE 123, 267, 359, 370 ff.; kritisch: Schönberger, Der Staat 48 (2009), 535, 542 ff.; Selmayr, ZEuS 2009, 637, 647 ff.

[53] BVerfGE 77, 170, 231.

[54] siehe hierzu Rojahn, in: Münch/Kunig, Art. 59 Rn. 55.

[55] Vgl. Schweitzer, Rn. 213 ff.

 


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