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Die "Berliner Verträge" (Sachverhalt)

Nach langen zähen Verhandlungen werden im Großen Festsaal des Roten Rathauses endlich die Änderungsverträge zur erneuten Reform der Europäischen Union von den Vertretern ihrer Mitgliedstaaten unterzeichnet. Die Verträge werden als die "Berliner Verträge" in die europäische Geschichte eingehen und sehen u.a. folgende  Neuregelungen für den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vor:

Art. 3a  EUV

Eigentümer von privaten und öffentlichen Gebäuden sind verpflichtet, jährlich am 5. Mai - Europa-Tag - von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr Ortszeit die Gebäude mit einer Flagge der Europäischen Union gemäß den Vorgaben in Anhang A zu beflaggen. Ein Verstoß wird mit einem Bußgeld in Höhe von 500,00 Euro durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten geahndet. Der Vollzug erfolgt nach nationalem Recht.

[Anhang A regelt die Gestaltung der Fahne und wie und wo sie zu befestigen ist.]

Art. 113a AEUV

Die Rechtsetzung über Steuern und Abgaben geht auf die Europäische Union über. Die Mitgliedstaaten verlieren ihre sämtlichen Zuständigkeiten auf diesem Gebiet. Der Ertrag aller Steuern und Abgaben fließt der Europäischen Union zu, welche die Mitgliedstaaten mit ausreichenden Finanzmitteln versieht. [...]

 

Art. 3a EUV soll dazu dienen, die Identifikation der Unionsbürger mit der Europäischen Union zu stärken. Art. 113a AEUV stellt sich als Reaktion darauf dar, dass die Schuldenkrise, die viele Mitgliedstaaten der EU in die Nähe des Staatsbankrotts geführt hatte, nach Auffassung der maßgeblichen Finanzexperten und Ratingagenturen bewiesen hätte, dass die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten nicht in der Lage seien, mit Geld umzugehen, und daher dieser Verantwortung jedenfalls auf der Einnahmeseite zu Gunsten der Europäischen Union weitgehend enthoben werden sollten.

Gleichzeitig wird, um eventuellen Verzögerungen beim Inkrafttreten der Berliner Verträge durch nationale Referenden oder Verfassungsklagen zuvorzukommen, ein, nach Einschätzung der Rechtsabteilung der Europäischen Kommission unproblematischerer, Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) unterzeichnet. Der Vertrag gründet den Europäischen Stabilitätsmechanismus als eine internationale Finanzinstitution, Art. 1 ESMV. Wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar erscheint, soll diese einem ihrer Mitglieder unter strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen Stabilitätshilfe gewähren dürfen, Art. 12 ESMV.

 

Art. 8 ESMV lautet in Auszügen:

(1) Das genehmigte Stammkapital beträgt 700 Milliarden EUR. [...]

(5) Die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt. Kein ESM-Mitglied haftet aufgrund seiner Mitgliedschaft für die Verpflichtungen des ESM. Die Verpflichtung der ESM-Mitglieder zur Leistung von Kapitalbeiträgen zum genehmigten Stammkapital gemäß diesem Vertrag bleibt unberührt, falls ein ESM-Mitglied Finanzhilfe vom ESM erhält oder die Voraussetzungen dafür erfüllt.

Art. 25 II ESMV lautet:

Nimmt ein ESM-Mitglied die aufgrund eines Kapitalabrufs [...] erforderliche Einzahlung nicht vor, so ergeht an alle ESM-Mitglieder ein revidierter erhöhter Kapitalabruf, um sicherzustellen, dass der ESM die Kapitaleinzahlung in voller Höhe erhält.

 

Auf die Bundesrepublik Deutschland entfallen gem. Anhang II ESMV 190.024.800.000 EUR (in Worten: Einhundertneunzigmilliardenvierundzwanzigmillionen-achthunderttausend Euro).

Die Ratifizierung der Verträge in Deutschland erfolgt durch das "Zustimmungsgesetz zu den Berliner Verträgen", das von Bundestag und Bundesrat mit den Stimmen von jeweils zwei Dritteln ihrer Mitglieder verabschiedet wird. Das weitere Gesetzgebungsverfahren wird ordnungsgemäß durchgeführt.

Die Rentnerin Rita Rüstig, welche Eigentümerin eines Einfamilienhauses in Berlin-Zehlendorf ist, erfährt vom Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes aus der Berliner Morgenpost. Wutentbrannt erhebt sie sofort formgerecht Verfassungsbeschwerde gegen die Art. 3a EUV und Art. 113a AEUV in der Fassung der "Berliner Verträge" sowie Art. 25 II ESMV. Ganz allgemein prangert sie auch den "Ausverkauf deutscher Souveränitätsrechte" durch den Bundestag an.

Sie trägt zur Begründung vor, dass sie schon immer gewusst habe, dass "das mit dem Europa" nicht gut gehen könne. Die Pflicht zur Beflaggung erinnere sie nicht nur an dunkle Zeiten, sondern beschränke sie auch rechtswidrig in der Nutzung ihres Häuschens und zwinge ihr eine europafreundliche Gesinnung auf, die sie nicht teile, so dass hierdurch ihre Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 14 GG verletzt würden. In einem freien und demokratischen Land müsse es zudem verfassungswidrig sein, wenn "die da oben" die Selbständigkeit Deutschlands dadurch beendeten, dass der Staat keine eigenen Einkünfte mehr habe und von "denen da im Ausland" abhängig werde. Auch dieser „Rettungswahnsinn“ in Form des ESMV entwerte das Budgetrecht des Bundestags, da ja kein Mensch wisse, ob es wirklich bei der vereinbarten Haftungssumme bleibt.

Was sei denn ihre – Rita Rüstigs – Stimme bei den Bundestagswahlen noch wert, wenn die gewählten Volksvertreter gar nichts mehr selbst bestimmen und gestalten könnten, weil das Geld nur noch "vom Ausland" entweder über den ESMV „ausgesaugt“ oder gar nur noch von der EU zugeteilt werde? Ihr Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG sei demnach nicht mehr das Papier wert, auf dem es stehe.

Auch werde durch die Europäisierung der Steuergesetzgebung in diesem Bereich – selbst wenn der EuGH die Grundrechte noch so sehr schütze – der Schutz ihrer Grundrechte nach dem Grundgesetz nicht mehr gesichert, so dass sie schon durch diese Übertragung der Steuergesetzgebung auf die Europäische Gemeinschaft in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG, die sie vor rechtswidriger Besteuerung schützten, verletzt sei.

Hat die Verfassungsbeschwerde Rita Rüstigs Aussicht auf Erfolg?


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