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Prüde und gefährlich (Lösungsvorschlag)

Einführung

Die Klausur beruht auf einer derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerde einer Bundeswehroffizierin.[1] Der Schwierigkeitsgrad ist als eher hoch einzuordnen. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist eine im Studium insgesamt wohl eher weniger beachtete Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Insbesondere geht es hier um die positive Dimension des Rechts („was darf ich“ anstelle von „was muss ich nicht“), die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht extensiv ausgearbeitet wurde; daher ist ein hoher Grad an Eigenständigkeit in der Grundrechtsauslegung gefordert. Hierzu gehört auch eine Ermittlung des separaten Schutzgehalts der Meinungsfreiheit. Im Rahmen der Gleichheitsgrundrechte kreist die Klausur um Streitpunkte bezüglich der Auslegung des Merkmals „Geschlecht“ im Sinne des Art. 3 III 1 GG. Es ist zunächst eine differenzierte Auslegung der infrage stehenden Maßnahme gefordert, um anschließend zu bestimmen, unter welchen der Gleichheitssätze (speziell oder allgemein) deren diskriminierende Wirkung fallen kann. Neben den inhaltlichen Herausforderungen stellen sich auch einige Aufbaufragen. Hierzu gehört, wo die Abgrenzung der Meinungsfreiheit vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht thematisiert wird; aber auch, wie der Prüfungsaufbau der Gleichheitsrechte angesichts der strittigen Fragestellungen rund um den Schutzgehalt erfolgt. Hier ist vieles vertretbar (s.u.). In jedem Fall ist der untenstehende Lösungsvorschlag als Musterlösung anzusehen: eine derartige Detailtiefe übersteigt bei dieser Klausur den Erwartungshorizont deutlich.

Lösungsvorschlag

Die Verfassungsbeschwerde der Agnes Adesinus hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A.    Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

Das Bundesverfassungsgericht ist für die eingelegte Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90ff BVerfGG zuständig.

II. Beschwerdefähigkeit nach § 90 I BVerfGG

Die Agnes Adesinus ist „jedermann“ im Sinne von Art. 93 I Nr. 4 a GG, § 90 I BVerfGG und damit beschwerdefähig. 

III. Prozessfähigkeit

Agnes Adesinus ist auch prozessfähig.

IV. Beschwerdegegenstand nach § 90 I BVerfGG

Verfassungsbeschwerden können gegen jeden „Akt der öffentlichen Gewalt“ gerichtet werden – also Maßnahmen der Legislative, Judikative oder Exekutive. Agnes Adesinus richtet sich hier gegen alle gegen sie ergangenen Maßnahmen, also den Verweis des Disziplinarvorgesetzten und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Diese stellen Akte der Exekutive bzw. der Judikative dar und sind damit taugliche Beschwerdegegenstände. Agnes Adesinus kann insoweit von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, statt nur der letztinstanzlichen Entscheidung alle Entscheidungen zum Gegenstand ihrer Verfassungsbeschwerde zu machen.[2]

V. Beschwerdebefugnis nach § 90 I BVerfGG

Agnes Adesinus müsste auch beschwerdebefugt sein. Nach Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG müsste sie hierfür hinreichend substantiiert behaupten, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein. Vorliegend erscheint es zumindest möglich, dass die Agnes Adesinus in ihren Grundrechten aus Art. 2 I i.V.m. 1 I, Art. 5 I, Art. 3 I und III 1 GG sowie ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 20 III, Art. 103 II GG verletzt ist. Auch ist Agnes Adesinus selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. 

Hinweis: Die Auswirkungen des Sonderstatusverhältnisses, in dem Agnes Adesinus sich als Soldatin befindet, können auch bereits hier in der Beschwerdebefugnis angesprochen werden; siehe hierzu auch den KSK-Fall.

Eine mögliche Verletzung von Art. 12 GG ist laut Bearbeiter*innenvermerk nicht zu prüfen.

VI. Ordnungsgemäßer Antrag nach §§ 23 I, 92 und 93 BVerfGG

Die Agnes Adesinus hat laut Sachverhalt form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde eingelegt, ein ordnungsgemäßer Antrag nach §§ 23 I, 92 und 93 BVerfGG liegt damit vor. 

VII. Rechtsschutzbedürfnis

Mit der Revision zum Bundesverwaltungsgericht hat Agnes Adesinus auch den Rechtsweg erschöpft gem. § 90 II BVerfGG. Zudem sind keine weiteren Möglichkeiten ersichtlich, wie die Agnes Adesinus die Beschwer auf anderem Wege beseitigen könnte, womit der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gewahrt ist.

VIII. Ergebnis zu A

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

B.    Begründetheit 

Die Beschwerde der Agnes Adesinus müsste begründet sein. Dies ist sie, wenn sie durch die angegriffenen Entscheidungen in einem oder mehreren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.

I.         Allgemeines Persönlichkeitsrecht

Hinweis: Die mögliche Verletzung des APR steht im Vordergrund des Vorbringens der Agnes Adesinus und sollte deshalb auch an erster Stelle geprüft werden.

Die Entscheidungen könnten Agnes Adesinus in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verletzen.

1.     Schutzbereich

Zunächst müsste der Schutzbereich eröffnet sein.

a)    Persönlich

Auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann sich jede natürliche Person berufen und somit auch Agnes Adesinus. Unerheblich ist hierbei, dass sie Berufssoldatin ist und daher in einem Sonderstatusverhältnis zum Staat steht. Eine frühere Ansicht, die bei einem solchen Verhältnis die Anwendung der Grundrechte infrage stellte, ist heute überholt.[3]Für Soldat*innen zeigt schon der Umkehrschluss aus Art. 17a I GG, dass eine Berufung auf die Grundrechte möglich ist. Das Sonderstatusverhältnis kann nur bei den materiellen Voraussetzungen einer Grundrechtsbeschränkung relevant werden.[4]

b)    Sachlich

Vorliegend kommt eine Betroffenheit im Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung schützt die freie Bestimmung des*der Einzelnen über sein*ihr Verhältnis zur Sexualität und über seine*ihre geschlechtlichen Beziehungen und die Entscheidung darüber, in welchen Grenzen und mit welchen Zielen er*sie Einwirkungen Dritter darauf hinnehmen will.[5]Dieser Schutz muss notwendigerweise auch die Suche nach Sexualpartner*innen als kommunikatives Element mit einbeziehen, da die Ausübung des Rechts zum Großteil nur gemeinsam mit anderen erfolgen kann. Insbesondere ist auch die freie Gestaltung der Art und Weise dieser Suche als geschützt anzusehen, da diese wesentlich mitbestimmt, ob genau zum eigenen Begehren passende Partner*innen gefunden werden können. Somit ist nicht nur die Nutzung von Dating-Plattformen wie Tinder, sondern auch die Gestaltung des eigenen Profils hierauf vom sachlichen Schutzbereich umfasst.[6]

Fraglich ist, ob die freie Kommunikation über das eigene Begehren auch an sich, unabhängig vom Ziel der Partner*innensuche, vom Recht auf sexuelle Selbstbestimmung geschützt ist. In jedem Fall ist das Schweigen über die eigene Sexualität geschützt.[7] Die freie Entfaltung der eigenen Sexualität ist aber auch in besonderem Maße von einem Gegenüber abhängig, denn das eigene Begehren wird maßgeblich durch die (konsensuelle) Interaktion mit anderen Menschen geformt und weiterentwickelt.[8] Das Recht auf Selbstdarstellung und das Recht auf Selbstbestimmung als zwei besondere Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind daher insbesondere hinsichtlich des Schutzes der sexuellen Autonomie als eng verknüpft zu betrachten. Hierbei ist auch zu beachten, dass ein „Konfrontationsschutz“ anderer Menschen insbesondere beim sexuellen Begehren als unveränderbarem Persönlichkeitsmerkmal nur in sehr engen Grenzen bestehen kann.[9] Fraglich könnte nur sein, ob ein solcher Gehalt des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung nicht ohnehin von der Meinungsfreiheit abgedeckt wäre. Dies kann anhand dessen beurteilt werden, ob eine Idealkonkurrenz zwischen den Grundrechten hergestellt werden könnte. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann zu anderen Grundrechten in Idealkonkurrenz stehen, wenn die Persönlichkeit in einer selbstständigen Weise betroffen ist, die über die Betroffenheit des Schutzgutes des anderen Grundrechts hinausreicht.[10] Die starke Bedeutung der Kommunikation über sexuelles Begehren für dessen Formung und Entwicklung als persönlichkeitsspezifischen Aspekt spricht vorliegend dafür, Art. 2 I i.V.m. 1 I GG als in eigenständiger Weise, neben der Meinungsfreiheit, betroffen anzusehen. Das Grundgesetz schützt die Meinungsfreiheit zwar auch im Interesse der Persönlichkeitsentfaltung,[11] jedoch geht das Schutzbedürfnis dieses Elements im vorliegenden Fall über den Schutzgehalt der Meinungsfreiheit hinaus.

Daher ist auch die freie Rede über das eigene Begehren der Agnes Adesinus um ihrer selbst Willen, und nicht nur als Teil einer Vorbereitungshandlung, vom sachlichen Schutzbereich erfasst. (a.A. vertretbar) 

Hinweis: Es wäre auch vertretbar, die Konkurrenzsituation zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit erst im sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu thematisieren. Der hier vertretene Aufbau begründet sich damit, dass noch nicht geklärt ist, ob die reine Kommunikation über sexuelles Begehren innerhalb einer positiven Dimension des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung geschützt ist. Daher wird die Idealkonkurrenz zur Meinungsfreiheit hier gleichzeitig als Argument für einen solchen Schutzgehalt herangezogen.

2.     Eingriff

Fraglich ist, ob ein Eingriff vorliegt. Ein Eingriff ist nach dem modernen Eingriffsbegriff jedes staatliche Handeln, das dem*der Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.[12] Der durch das Bundesverwaltungsgericht nicht aufgehobene Verweis enthält im Ergebnis ein Verbot der Nutzung des Tinder-Profils der Agnes Adesinus in der vorherigen Form, insbesondere mit derselben Profilbeschreibung. Damit macht der Verweis der Agnes Adesinus die freie Gestaltung der Partner*innensuche sowie die freie Rede über ihr sexuelles Begehren unmöglich. Ein Eingriff liegt somit vor.

3.     Rechtfertigung

Dieser Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. 

a)    Schranken

Dazu müsste zunächst die Eingriffsgrundlage die Schrankentrias des Art. 2 I Hs. 2 GG genügen, die auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht gilt.[13] Beruht der Eingriff auf einer gesetzlichen Regelung, muss diese dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung genügen, was im Ergebnis einen einfachen Gesetzesvorbehalt postuliert.[14]Vorliegend wird die Maßnahme auf § 17 II 3 Soldatengesetz (SG) gestützt. Dieser ist formell und materiell verfassungsgemäß (siehe Bearbeiter*innenvermerk) und stellt damit eine taugliche Eingriffsgrundlage dar.

b)    Verfassungskonforme Anwendung des Gesetzes 

Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz – Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ist Sache der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht hingegen prüft nur, ob eine Verletzung von „spezifischem Verfassungsrecht“ vorliegt.[15] Eine solche Verletzung kann insbesondere vorliegen, wenn bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die Bedeutung von Grundrechten verkannt oder deren Tragweite falsch eingeschätzt wurde. Letzteres bedeutet insbesondere, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein muss; dies ist vorliegend fraglich.

Hinweis: Es ist auch vertretbar, den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ganz am Anfang der Begründetheit anzusprechen.

Als legitimer Zweck kommt hier die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr in Betracht, der verfassungsrechtlicher Rang zukommt (Art. 87a GG).[16] § 17 II 3 SG dient dabei konkreter der Sicherstellung eines geordneten Ablaufs des Dienstbetriebes.

Der durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Verweis müsste zunächst für die Erreichung dieses Zwecks geeignet sein. Eine Maßnahme kann schon dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet sein, wenn sie den angestrebten Erfolg zumindest fördert.[17] Hier erscheint es allerdings durchaus fragwürdig, ob der angegriffene Verweis überhaupt irgendwie förderlich für die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr ist. Dies wäre nur der Fall, wenn ersichtlich wäre, dass ohne den Verweis und damit die Unterbindung des Verhaltens der Agnes Adesinus der geordnete Ablauf des Dienstbetriebes irgendwie beeinträchtigt sein könnte. Hierfür muss eine Beeinträchtigung zwar nicht bereits nachweislich eingetreten sein. Doch auch die Erwartung potenzieller Beeinträchtigungen müsste zumindest auf nachweisbare Tatsachen gestützt werden. Hierfür liefert der Sachverhalt jedoch keine Anhaltspunkte. Dass Agnes Adesinus durch ihr Verhalten bei imaginierten konservativen Gruppen in der Bundeswehr an Ansehen verliere, wird im Ergebnis nur vermutet. Weiterhin wird eingewendet, dass durch ihr Auftreten der Eindruck erweckt werde, sie sei ungeeignet, um mit Fällen sexueller Übergriffe innerhalb des Bataillons umzugehen. Eine mangelnde Kompetenz von Führungskräften der Bundeswehr in Sachen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz kann durchaus sehr problematisch für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte werden. Allerdings wird auch hier nicht erkennbar, dass die Annahme einer Verbindung zwischen dem Verhalten von Agnes Adesinus und einer solchen Inkompetenz auf Tatsachen begründet wäre. Vielmehr scheint sie auf dem Vorurteil zu beruhen, dass die offene Einstellung zu Sexualität der Agnes Adesinus wohl auch die Duldung der Auslebung des Sexualtriebs über die Grenzen anderer Personen hinweg beinhalte.

Es ist zudem auch sehr fragwürdig, ob - selbst wenn man diese aufgestellten Hypothesen als gegeben erachten würde – die Maßnahme als geeignet anzusehen wäre. Denn ein gedachter Ansehensverlust der Agnes Adesinus bei einem*r imaginierten konservativen Dritten würde letztlich maßgeblich auf Vorurteilen gegenüber ihrer von der gesellschaftlichen Norm abweichenden sexuellen Präferenzen und Beziehungsmodell basieren. Es ist zu fragen, inwiefern es für den geordneten Dienstbetrieb und damit für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte förderlich sein sollte, derartige Vorurteile durch Disziplinarmaßnahmen zu bestätigen. Unter Umständen könnte dies für diesen Zweck sogar genau hinderlich sein: es lässt sich etwa argumentieren, dass die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte gerade davon abhängt, dass sich die Bundeswehr am progressiven Wandel moralischer und politischer Vorstellungen der Gesellschaft orientiert, da ohne dies etwa viele potentielle neue Soldat*innen vom Eintritt in die Bundeswehr zurückschrecken.[18] (a.A. vertretbar)

Selbst wenn man eine Eignung der Maßnahme annehmen würde, wäre darüber hinaus die Erforderlichkeit fraglich, also die Abwesenheit von milderen, gleich geeigneten Mitteln. Der Disziplinarvorgesetzte hätte schon allein die Möglichkeit gehabt, nicht-formelle Mittel zu ergreifen (etwa Warnungen/Zurechtweisungen, siehe § 23 III der Wehrdisziplinarordnung), die zur Verhaltensänderung der Agnes Adesinus wohl auch ausgereicht hätten.

Hinweis: Auch wenn hier bereits die Geeignetheit und/oder die Erforderlichkeit der Maßnahme verneint wird, sollte die Verhältnismäßigkeitsprüfung zumindest hilfsgutachterlich bis zur Angemessenheit weitergeprüft werden. Im Rahmen eines zusammenhängenden Prüfungspunktes sollten alle relevanten Elemente angeprüft werden.

Jedenfalls ist die Angemessenheit der Maßnahme fragwürdig. Abstrakt gesehen stehen sich zwei wichtige Verfassungsgüter gegenüber. Zum einen die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte, die die Verteidigungsfähigkeit und damit einen zentralen Aspekt der Stabilität der Bundesrepublik sichert. Zum anderen ist auch die Bedeutung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als hoch einzuordnen, weil die sexuelle Identität und das sexuelle Begehren ein prägender Aspekt der Persönlichkeit sind.

Im Rahmen der konkreten Betrachtung kann zur Bestimmung der Eingriffsintensität – unter Berücksichtigung der Kritik hieran - die Sphärentheorie herangezogen werden, die zwischen Eingriffen in die Intim-, Privat-, und Sozialsphäre unterscheidet.[19] Vorliegend betrifft der Eingriff lediglich die Sozialsphäre. Außerdem ist die Agnes Adesinus, wie auch das Fachgericht argumentiert, gar nicht generell an der Nutzung von Dating-Plattformen gehindert, sondern könnte dies immer noch mit einem „gemäßigteren“ Profil – das etwa einige der gemachten Angaben nicht enthält – tun. Schließlich ist ein Verweis – wie auch vom Bundesverwaltungsgericht bemerkt – eine relativ milde Disziplinarmaßnahme, die wohl nicht mit einschneidenden Auswirkungen auf die berufliche Karriere der Agnes Adesinus einhergeht. 

Dennoch kann argumentiert werden, dass Agnes Adesinus innerhalb der Sozialsphäre stark betroffen ist. Denn das Konzept von Dating-Plattformen wie Tinder ist gerade auf eine freie Kommunikation über Identität und sexuelles Begehren angelegt. Gerade weil Profilinhalte oft nur kurzweilig zur Kenntnis genommen werden, ist ein Gebot eines „gemäßigten“, unauffälligen Profils eine signifikante Nutzungsbeschränkung. Auch ist zu beachten, dass transphobe Einstellungen allgemein gesellschaftlich weit verbreitet[20] und damit auch im Bereich der Partner*innensuche vorhanden sind. Für Agnes Adesinus als trans* Person ist daher die klare, uneingeschränkte Kommunikation über ihre Identität besonders wichtig, da diese Missverständnisse bei potentiellen Partner*innen vermeiden kann. Ein „Mäßigungsgebot“ wiegt daher insbesondere in ihrem Fall schwer. Der Eingriff kann auch nicht mit den relativ milden beruflichen Auswirkungen des Verweises aufgewogen werden – deren Milde darüber hinaus angezweifelt werden kann, da zumindest mehrere Verweise ein Karrierehindernis sein können. Demgegenüber ist die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, wenn überhaupt, dann jedenfalls nur peripher betroffen und kann die Beschränkung im Ergebnis nicht aufwiegen. 

Der Eingriff ist damit unangemessen. 

4.     Zwischenergebnis

Es liegt ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I i.V.m. 1 I GG ergebenden Recht auf sexuelle Selbstbestimmung vor. Die Agnes Adesinus ist somit in diesem Grundrecht verletzt.

II.         Meinungsfreiheit

Darüber hinaus könnte Agnes Adesinus auch in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG verletzt sein.

1.    Schutzbereich

Hierzu müsste der Schutzbereich dieses Grundrechts eröffnet sein.

a)    Persönlich 

Die Agnes Adesinus kann sich als „jedermann“ auf Art. 5 I 1 GG berufen. 

b)    Sachlich 

Fraglich ist, ob das Dating-Profil der Agnes Adesinus eine Meinung i.S.d. Art. 5 I 1 GG darstellt. Der Begriff der Meinung ist grundsätzlich weit zu fassen.[21] Er erfasst zunächst Werturteile, also solche Aussagen, die geprägt sind von einem Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung.[22]Fraglich ist, ob auch Tatsachenbehauptungen von Art. 5 I S. 1 Hs. 1 GG geschützt sein können; diese zeichnen sich im Gegensatz zur Meinung dadurch aus, dass sie dem Beweis zugänglich sind.[23] Es ist jedenfalls anerkannt, dass für den Schutzbereich berücksichtigt wird, dass Tatsachenbehauptungen oft mit Werturteilen verbunden sein können: etwa kann schon die Auswahl und Präsentation von Tatsachen eine wertende Stellungnahme beinhalten.[24] Enthält eine Aussage sowohl Elemente der Tatsachenbehauptung als auch der Meinung, ist zu beurteilen, welches Element der Aussage die Gesamtäußerung prägt, also überwiegt; auch maßgebend ist hierfür, ob Tatsachenteil und Wertungsteil sinnvoll voneinander getrennt betrachtet werden können.[25] Ist dies nicht der Fall, ist die Aussage insgesamt als Meinungsäußerung anzusehen.[26] Weiterhin ist anerkannt, dass Tatsachenbehauptungen insoweit geschützt sind, als dass sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind, also zur Meinungsbildung beitragen.[27]

Das Profil der Agnes Adesinus enthält auf den ersten Blick eher faktisch wirkende Angaben zu ihrer Identität („trans*“) und ihren Präferenzen („auf der Suche nach Sex“, „all genders welcome“), was zunächst eine Einordnung als Tatsachenbehauptung nahelegt. Ein Element der wertenden Stellungnahme ergibt sich aber insbesondere durch eine kontextuelle Auslegung. Es ist zu beachten, dass die gesellschaftspolitischen Debatten um gendergerechte Sprache in den letzten Jahren derart aufgeheizt geführt wurden, dass mittlerweile schon allein die Verwendung eines Gendersternchens („*“) in schriftlichen Äußerungen als eine Stellungnahme innerhalb dieser Debatte wahrgenommen werden kann. Weiterhin kann auch der Aussage „all genders welcome“ nicht nur ein Ausdruck der Pansexualität der Agnes Adesinus als faktische Behauptung, sondern auch eine wertende Betrachtung in Form einer Ablehnung vorherrschender binärer Geschlechterordnungskonzepte entnommen werden. Außerdem kann argumentiert werden, dass die Beschreibungen „spontan, lustvoll“ und „auf der Suche nach Sex“ eine Befürwortung eines autonomen, freieren Sexuallebens und damit ebenfalls eine Stellungnahme (etwa gegenüber traditionelleren, restriktiveren Meinungen zu Sexualität) beinhaltet. Daher enthält die Aussage der Agnes Adesinus auf ihrem Tinder-Profil auch eine Meinungsäußerung, die zudem nicht sinnvoll von ihrem gleichzeitigen Tatsachengehalt getrennt werden kann. Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass die Angaben insbesondere im Forum Tinder, in dem es gerade um die Kommunikation über sexuelle Identitäten und Präferenzen geht, zumindest Voraussetzung für die Meinungsbildung und den Meinungsaustausch sind. 

Eine Meinung liegt also vor, womit der Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG eröffnet ist.

2.    Eingriff

Ein Eingriff liegt durch den vom Gericht nicht aufgehobenen Verweis vor.

3.    Rechtfertigung

Dieser Eingriff könnte gerechtfertigt sein. 

a)    Schranken

Die Meinungsfreiheit unterliegt zunächst dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt aus Art. 5 II GG. Hier kommt insbesondere die Schranke der allgemeinen Gesetze in Betracht. Nach der sog. Kombinationslehre des Bundesverfassungsgerichts sind allgemeine Gesetze solche, die sich weder gegen eine bestimmte Meinung noch gegen den Prozess der freien Meinungsbildung richten, sondern auf die Wahrung eines Rechtsguts abzielen, dass schlechthin, unabhängig von einer bestimmten Meinung schützenswert ist.[28]

Fraglich ist vorliegend aber, ob ein allgemeines Gesetz notwendig ist, da für Beschränkungen der Meinungsfreiheit der Agnes Adesinus als Soldatin auch die Schranke des Art. 17a I GG einschlägig ist. Strittig ist, wie das Verhältnis von Art. 17a I GG und Art. 5 II GG zu beurteilen ist. Nach einer Ansicht verdrängt Art. 17a I GG die Schranke aus Art. 5 II GG im Bereich des Wehrdienstes.[29] Einer anderen Ansicht zufolge sind die beiden Schranken nebeneinander anwendbar, wobei Art. 17a I GG gegebenenfalls über Art. 5 II GG hinausreicht und Einschränkungen rechtfertigen kann, die nach Art. 5 II GG nicht zulässig wären.[30] Vorliegend kann dieser Streit jedenfalls dahingestellt bleiben: Die vorliegende Eingriffsgrundlage des § 17 II 3 SG richtet sich nicht gegen eine bestimmte Meinung oder die Meinungsfreiheit an sich, sondern dient der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte als unabhängig davon zu schützendem Rechtsgut. Damit ist die Norm auch ein allgemeines Gesetz[31] und stellt vorliegend eine taugliche Eingriffsgrundlage dar.

b)    Verfassungskonforme Anwendung des Gesetzes

Fraglich ist darüber hinaus, ob das Gesetz verfassungskonform angewendet wurde, insbesondere ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. 

Wie bereits oben im Rahmen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung dargelegt, erscheint schon die Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahme für den legitimen Zweck, die Sicherstellung Funktionsfähigkeit der Streitkräfte durch die Erhaltung eines geordneten Dienstablaufs, fragwürdig. Speziell bei der Meinungsfreiheit ist darüber hinaus besonders fragwürdig, ob der gerichtlich bestätigte Verweis den Anforderungen der Angemessenheit genügen kann.  

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist bei der Meinungsfreiheit die sog. Wechselwirkungslehre zu beachten. Nach dieser verlangt die konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit für die freiheitliche Ordnung, dass die dieses Grundrecht beschränkenden Gesetze ihrerseits im Lichte der Meinungsfreiheit gesehen und so einschränkend interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt des Rechts gewahrt bleibt.[32] Dies muss auch für Gesetze gelten, die speziell die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte schützen und damit Art. 17a I GG entsprechen.[33] Zudem ist zu beachten, dass die Meinungsfreiheit bereits Anforderungen an die Auslegung von Äußerungen stellt. Das bedeutet, dass im Falle von mehreren möglichen Deutungen einer Aussage nicht ohne tragfähige Begründung die für den*die Betroffene*n ungünstigste gewählt werden darf. Auch darf die Äußerung nicht aus ihrem Zusammenhang gerissen werden, sofern dieser ihren Sinn mitbestimmt.[34]

Fraglich ist, inwieweit sich vorliegend das Sonderstatusverhältnis auf die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung von Äußerungen mit politischem Bezug auswirken könnte. Beschränkungen der Meinungsfreiheit können hier insbesondere möglich sein, um die Funktionsfähigkeit der Institution zu wahren, für die das Sonderstatusverhältnisses begründet ist. Dabei dürfen sie aber umso weniger zulässig sein, je weniger sich Äußerungen auf die Funktionsfähigkeit des Sonderstatusverhältnisses durchschlagen.[35] Hierbei ist insbesondere auf den sachlichen, räumlichen und zeitlichen Zusammenhang der Äußerung mit dem Sonderstatusverhältnis abzustellen.[36] Bei politischen Äußerungen wird auch durch die Rechtsprechung danach unterschieden, ob die Äußerung innerhalb oder außerhalb des Dienstes erfolgt. Dabei müssen höhere Anforderungen für Beschränkungen außerhalb des Dienstes gelten, insbesondere für inhaltliche Beschränkungen.[37]

Vorliegend erscheint schon eine den hohen Anforderungen der Meinungsfreiheit entsprechende Auslegung der Aussage der Agnes Adesinus zweifelhaft. Denn das Gericht liest etwa aus dem Ausdruck „all genders welcome“ heraus, dass Agnes Adesinus damit lediglich ihre sexuelle Freizügigkeit betonen wolle in dem Sinne, dass „‘jeder‘ als Sexualpartner willkommen“ sei. Die mögliche, wenn nicht sogar sehr naheliegende abweichende Auslegung, dass der Ausdruck auf die Akzeptanz von mehr als zwei Geschlechtern – als politische Äußerung – hinweist, wird ohne Grund nicht gewählt. Dies spricht dafür, dass die Meinungsfreiheit bei der Auslegung gar nicht oder nur unangemessen berücksichtigt wurde. 

Auch ist fragwürdig, ob ein besonderes Mäßigungsgebot vorliegend mit der Sicherung der herausgehobenen beruflichen Funktion der Agnes Adesinus begründet werden kann. Schon der sachliche Zusammenhang hierzu ist nicht zu erkennen, denn die Äußerungen der Agnes Adesinus berühren inhaltlich keine Themen von besonderer Relevanz für die Bundeswehr. Dies könnten etwa Aussagen zum Wehrdienst an sich oder zu verteidigungspolitischen Fragen sein. Auch verfassungsfeindliche Aussagen, etwa mit rassistischem, antisemitischem oder gewaltverherrlichendem Inhalt, können relevant für die Soldat*innenstellung sein.[38] Es ist aber nicht erkennbar, inwiefern die Äußerungen der Agnes Adesinus in irgendeiner Weise ähnliche Auswirkungen auf ihre Stellung als Soldatin, oder auf die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte allgemein, haben sollte. Das zeigt schon alleine der Umstand, dass die Bundeswehr zuvor ja gerade Aussagen Agnes Adesinus zu Diversität und Inklusivität als „Werbung“ für sich genutzt hat. Noch dazu erweckt das Profil der Agnes Adesinus keinerlei Assoziationen zu ihrer Stellung oder zur Bundeswehr an sich, womit auch jeglicher räumliche oder zeitliche Zusammenhang fehlt. 

Demgegenüber ist Agnes Adesinus stark in ihren Rechten betroffen. Dies kann schon damit begründet werden, dass sie sich zu den betreffenden Themen nicht nur als „externe“, unbetroffene Person äußert, sondern die Äußerungen eng mit ihrer eigenen Identität zusammenhängen. Äußerungen, die sich für die gesellschaftliche Akzeptanz und gegen die Diskriminierung von Menschen mit Identitäten wie der Agnes Adesinus positionieren, sind daher für sie persönlich besonders wichtig. Dabei ist auch zu beachten, dass Dating-Apps wie Tinder, auf denen es ja gerade um die Kommunikation von sexuellen Identitäten und Orientierungen geht, ein besonders sinnvoller und effektiver Raum für Meinungsäußerungen zu von der Norm abweichenden sexuellen Identitäten und Orientierungen sind. Ein „Mäßigungsgebot“ in dieser Hinsicht ist als schwerwiegender Eingriff einzustufen. 

Der Eingriff in die Meinungsfreiheit ist damit auch unverhältnismäßig. 

4.    Zwischenergebnis

Agnes Adesinus ist in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG verletzt.

III.         Gleichheitsrechte

Hinweis: Auch wenn der Sachverhalt zu seinem Ende hin deutlich auf eine Prüfung von Art. 3 GG hinweist, legt seine Schwerpunktsetzung insgesamt nahe, die betroffenen Freiheitsrechte – entlang des geläufigen Aufbauvorschlags „Freiheitsrechte vor Gleichheitsrechten“ – zuerst zu prüfen.

Der Prüfungsaufbau der Gleichheitsrechte ist vorliegend etwas herausfordernd. Das liegt vor allem daran, dass sowohl thematisiert werden muss, ob das Merkmal „Geschlecht“ gem. Art. 3 III 1 GG auch trans* Personen wegen ihrer Identität schützt, als auch, ob das Merkmal auch die sexuelle Orientierung schützt. Der untenstehende Aufbau (Thematisierung der beiden Fragen im „Schutzbereich“ von Art. 3 III 1 GG, dann „Herauswerfen“ des Ausdrucks „all genders welcome“ und anschließende Prüfung dieses Merkmals unter Art. 3 I GG) wurde gewählt, da die erstere Frage bejaht, die zweite aber verneint wird. Ist man der gleichen Ansicht, wäre es aber genauso vertretbar, eine komplett separate Prüfung der beiden Ausdrücke „trans*“ und „all genders welcome“ vorzunehmen. Im Fall, dass man beide Merkmale als entweder von Art. 3 III 1 GG oder aber nur von Art. 3 I GG erfasst sieht, kann eine gemeinsame Prüfung erfolgen. Es ist also einiges vertretbar – hauptsächlich ist es hier nur wichtig, die Auslegungsfragen bezüglich des Merkmals „Geschlecht“ und den lex specialis-Charakter des Art. 3 III 1 GG zu erkennen.

Der durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Verweis könnte auch gegen Gleichheitsrechte aus Art. 3 GG verstoßen.

1.     Spezielle Gleichheitssätze

In Betracht kommt zunächst der spezielle Gleichheitssatz des Art. 3 III 1 GG, der dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG vorgeht.[39]

a)    Ungleichbehandlung

Zunächst müsste eine Ungleichbehandlung der Agnes Adesinus vorliegen. Hierfür müssten zwei wesentlich gleiche Sachverhalte ungleich oder aber zwei wesentlich ungleiche Sachverhalte gleich behandelt worden sein.[40] Ersteres könnte der Fall sein, wenn die Agnes Adesinus im Gegensatz zu Personen, die sich in einer Situation befinden, die mit ihrer vergleichbar ist, rechtlich ungünstiger behandelt wird. Hierzu ist ein gemeinsamer Oberbegriff zu bilden, unter den beide Situationen eingeordnet werden können.[41] Laut Sachverhalt benutzen auch einige weitere Offiziere der Bundeswehr, darunter auch zwei weitere Bataillonskommandeure, Tinder oder sehr ähnliche Dating-Plattformen. Daher könnte der Oberbegriff sich aus „Online-Dating-Nutzer*innen“ und „Offizier*innen der Bundeswehr“ bzw. „Bataillonskommandeur*innen“ zusammensetzen. Der vorliegend engste mögliche gemeinsame Oberbegriff ist aber „Offizier*in und Bataillonskommandeur*in, der*die Online-Dating-Plattformen nutzt“, da dieser gewährleistet, dass sich die hierunter fallenden Personen in einer möglichst gleichen Dienststellung in der Bundeswehr befinden. Unter diesen Oberbegriff fällt sowohl Agnes Adesinus als auch die zwei weiteren Bataillonskommandeure, was sie miteinander vergleichbar macht. Es hat aber nur Agnes Adesinus einen Verweis erhalten, der ihr Dating-Profil auf Tinder rügt. Eine Ungleichbehandlung lässt sich auch nicht mit dem Argument verneinen, dass die beiden Gruppen nicht vergleichbar seien, weil die anderen Bataillonskommandeure ja nicht dasselbe Profil wie Agnes Adesinus bei Tinder eingestellt hätten, sondern sich anders präsentieren. Denn der Profiltext bringt ja gerade das Merkmal „Geschlecht“ (durch den Begriff „trans*“) bzw. das persönliche Merkmal der sexuellen Orientierung (durch den Ausdruck „all genders welcome“) zum Ausdruck und eine mangelnde Vergleichbarkeit kann ja nicht genau auf die Merkmale gestützt werden, die Art. 3 GG schützt. Intendierte Differenzierungen in der Hinsicht (wurde Agnes Adesinus etwa nur aufgrund der Angaben „lustvoll“ oder „auf der Suche nach Sex“ ungleich behandelt?) hätten vom Disziplinarvorgesetzten ausdrücklich bestimmt werden müssen. Eine Ungleichbehandlung der Agnes Adesinus liegt also vor.

b)    Wegen des Geschlechts gem. Art. 3 III 1 GG

Diese müsste auch gerade wegen ihres Geschlechts i.S.v. Art. 3 III 1 GG erfolgen. Dies könnte zum einen dadurch erfolgt sein, dass sich der Verweis auf die Angabe „trans*“ im Profil der Agnes Adesinus bezieht, zum anderen aber auch dadurch, dass er sich auf die Angabe „all genders welcome“ als Hinweis auf ihre Pansexualität bezieht. 

Hierfür müsste zunächst der Verweis, in direkter oder indirekter Weise, gerade an diese Ausdrücke anknüpfen.[42] Der Verweis differenziert nicht nach den einzelnen Angaben auf dem Dating-Profil der Agnes Adesinus. Zudem scheint der Verweis gerade auf dem Profiltext basiert zu sein: denn das zugehörige Profilbild der Agnes Adesinus, das sie vollständig bekleidet zeigt, bietet für sich genommen wohl kaum Anlass zu einer Rüge.  Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass der Verweis auch gerade wegen der Verwendung der Bezeichnungen „trans*“ und „all genders welcome“ negative Rechtsfolgen auferlegt und die Agnes Adesinus insoweit ungleich behandelt gegenüber den anderen Bataillonskommandeuren. Für eine Auslegung des Verweises zugunsten seiner Rechtmäßigkeit besteht kein Anlass. Im Fall, dass eine Anknüpfung an diese zwei Ausdrücke nicht spezifisch intendiert war, wäre es Aufgabe des Dienstvorgesetzten gewesen, durch eine andere Formulierung des Verweises Missverständnisse zu vermeiden. 

Fraglich ist aber, ob aus der Anknüpfung an die Begriffe auch auf eine Ungleichbehandlung wegen des „Geschlechts“ im Sinne des Art. 3 III 1 GG geschlossen werden kann – ob also zum einen die Identität als trans* Person, zum anderen die sexuelle Orientierung von dem Begriff „Geschlecht“ umfasst sind. 

Insbesondere im ersteren Fall könnte dies zu bejahen sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sog. „Dritte-Options-Beschluss“ festgestellt, dass dem Merkmal keine binäre Betrachtungsweise zugrunde zu legen ist, sondern dass es Diskriminierungen aufgrund jeglichen Geschlechts erfasst. Dies begründete es insbesondere mit dem Zweck des Art. 3 III 1 GG, strukturell diskriminierungsgefährdete Gruppen vor Benachteiligungen zu schützen; unter diese fallen auch nicht-binäre Gruppen, deren Vulnerabilität in einer auf eine binäre Geschlechterordnung ausgerichteten Gesellschaft besonders hoch ist.[43] Dies spricht dafür, auch trans* Personen unter den Schutz des Merkmals „Geschlecht“ zu stellen – denn die Argumentation des „Dritte-Options-Beschlusses“ trifft bei diesen erst recht zu.[44](a.A. vertretbar)

Streitig ist aber, ob die sexuelle Orientierung unter das Merkmal „Geschlecht“ i.S.v. Art. 3 III 1 GG gefasst werden kann.

Nach einer Ansicht wäre dies möglich. Es bestehe ein enger innerer Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der sexuellen Orientierung, da die sexuelle Orientierung regelmäßig vom eigenen Geschlecht ausgehend geformt wird. Art. 3 III 1 GG sollte so verstanden werden, dass die Norm auch vor nachteiligen Wirkungen von geschlechtsbezogenen Stereotypen oder Rollenbildern, insbesondere der Heteronormativität, schützen soll; und die sexuelle Orientierung sei eben auch mit geschlechtsbezogenen Rollenerwartungen verbunden.[45]

Nach einer anderen Ansicht ist die sexuelle Orientierung nicht von „Geschlecht“ i.S.d. Art. 3 III 1 GG erfasst. Dies wird etwa damit begründet, dass dies über den Wortlaut hinausgehe.[46] Es bedürfe eines klaren Ausdrucks des Gesetzgeberwillens in Form einer Verfassungsänderung, um die sexuelle Orientierung mit einzubeziehen; entsprechende Initiativen hatten jedoch bislang keinen Erfolg.[47] Die sexuelle Orientierung könnte demnach nur als persönliches Merkmal von Art. 3 I GG erfasst sein. 

Das Bundesverfassungsgericht hat die sexuelle Orientierung noch nicht als von Art. 3 III 1 GG erfasst angesehen.[48]Es hebt aber den im Rahmen von Art. 3 I GG anzulegenden Rechtfertigungsstandard an.[49]

Vorliegend soll der zweiten Ansicht gefolgt werden; die sexuelle Orientierung fällt damit nicht unter Art. 3 III 1 GG. Jedoch ist mit dem Bundesverfassungsgericht ein strenger Rechtfertigungsmaßstab für Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung unter Art. 3 I GG anzunehmen. 

Im Ergebnis liegt damit eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts gem. Art. 3 III 1 GG allein wegen der Bezugnahme des Verweises an den Begriff „trans*“ vor.

c)    Rechtfertigung

Fraglich ist, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann. Art. 3 III 1 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt, verbietet jedoch nicht jegliche Ungleichbehandlung anhand der genannten Kriterien. Eine solche kann zulässig sein, wenn sie notwendig zur Lösung eines Problems ist, das seiner Natur nach nur bei Personen der einen Vergleichsgruppe auftreten kann.[50] Darüber hinaus ist eine Rechtfertigung aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts möglich.[51] In jedem Fall ist eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten.[52]

Die vorliegende Ungleichbehandlung knüpft nicht an körperliche, geschlechtsbezogene Merkmale an, womit eine Rechtfertigung dem ersten Grundsatz ausscheidet. Als verfassungsimmanente Schranke könnte die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr als Gut von Verfassungsrang (Art. 87a GG)[53] in Betracht kommen. Es ist aber fragwürdig, ob die Maßnahme den strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen Art. 3 III 1 GG entsprechen könnte. Schon an der Geeignetheit der Maßnahme bestehen erhebliche Zweifel; auch im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes fällt es schwer zu sehen, wie die unterschiedliche Behandlung der Agnes Adesinus gegenüber weiteren Bataillonskommandeuren förderlich für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte sein soll. Jedenfalls überwiegt im Rahmen der Angemessenheit klar die als eher schwer einzuordnende Beeinträchtigung der Agnes Adesinus. (s.o.).

Die Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. 

2.     Allgemeiner Gleichheitssatz

Darüber hinaus könnte auch eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 I GG vorliegen.

a)    Ungleichbehandlung

Aus dem Obenstehenden ergibt sich, dass eine Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung als von Art. 3 I GG geschütztes persönliches Merkmal vorliegt. 

b)    Rechtfertigung

Fraglich ist, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. 

Laut Bundesverfassungsgericht ist im Rahmen des Art. 3 I GG ein „gleitender Rechtfertigungsmaßstab“ anzuwenden: je nach Regelungsgegenstand bzw. Differenzierungsmerkmalen ergeben sich unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung.[54] Insbesondere ist der Rechtfertigungsmaßstab als umso strenger anzusehen, je weniger das Differenzierungsmerkmal von dem*der Betroffenen beeinflusst werden kann und je mehr es sich den in Art. 3 III 1 GG genannten Merkmalen annähert.[55] Ein strengerer Maßstab ist auch anzuwenden, wenn die Ungleichbehandlung sich zugleich negativ auf die Ausübung von Freiheitsrechten auswirkt.[56] Im Einklang hiermit geht das Bundesverfassungsgericht für Ungleichbehandlungen wegen der sexuellen Orientierung von einem strengen Rechtfertigungsmaßstab aus.[57] Die sexuelle Orientierung nähert sich nämlich zumindest den Merkmalen aus Art. 3 III 1 GG an; ferner ist sie auch der rationalen Beeinflussung des*der Betroffenen entzogen. Vorliegend spricht weiterhin für einen strengen Rechtfertigungsmaßstab, dass die Maßnahme zusätzlich die Ausübung von Freiheitsrechten erschwert. 

Es ist daher ein vergleichbar strenger Rechtfertigungsmaßstab anzuwenden wie oben im Fall der Ungleichbehandlung nach Art. 3 III 1 GG. Bezüglich der Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung der Agnes Adesinus sind keine von der obenstehenden Argumentation abweichenden Einwände ersichtlich, daher kann das dortige Ergebnis hier übertragen werden. Auch die Ungleichbehandlung nach Art. 3 I GG ist daher nicht gerechtfertigt.

3.     Zwischenergebnis

Der durch das Urteil bestätigte Verweis verletzt sowohl den spezifischen Gleichheitssatz aus Art. 3 III 1 GG als auch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG.

C.    Ergebnis

Die von Agnes Adesinus eingelegte Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Sie hat daher Aussicht auf Erfolg. 

 


[1] Siehe Gesellschaft für Freiheitsrechte, ‚Für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nach Karlsruhe: GFF erhebt mit Bundeswehroffizierin Anastasia Biefang Verfassungsbeschwerde‘, Pressemitteilung v. 14.10.2022, abrufbar unter: https://freiheitsrechte.org/ueber-die-gff/presse/pressemitteilungen-der-gesellschaft-fur-freiheitsrechte/pm-vb-biefang.

[2] Vgl. BVerfGE 54, 53 [64f.]

[3] Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 5 Rn. 150f.

[4] Ebenda.

[5] BVerfGE 47, 46 [73]; BVerfGE 120, 224 [238 f.].

[6] So auch Heinemann, NVwZ 2022, 1622 (1627).

[7] Siehe Valentiner, Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, 2021, 301ff. m.w.N.

[8] Siehe ausführlich Valentiner, Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, 369.

[9] Ähnlich Valentiner, Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, 392-393.

[10] Kunig/Kämmerer in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 160.

[11] BVerfGE 7, 198 [208]; BVerfGE 82, 272 [281]

[12] Siehe etwa Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 393.

[13] BVerfGE 97, 228 [269].

[14] Di Fabio in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 39.

[15] Epping, Grundrechte, Rn. 206.

[16] BVerfGE 48, 127 [159f.]. 

[17] BVerfGE 134, 204 [227]; 130, 151 [188].

[18] Ähnlich auch Heinemann, NVwZ 2022, 1622 (1628).

[19] Zur Sphärentheorie siehe etwa Windthorst in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 2 Rn. 109aff.

[20] Siehe etwa Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission, ‚Diskriminierung von trans- und intersexuellen Menschen aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks‘ (2011), abrufbar unter: https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/9b338479-c1b5-4d88-a1f8-a248a19466f1.

[21] BVerfGE 61, 1 [9].

[22] Siehe etwa Wendt, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rn 24.

[23] Schlemmer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 5 Rn. 5.

[24] Ausführlich Wendt, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rn. 25f.

[25] Schlemmer, in: Epping /Hillgruber, GG, Art. 5 Rn. 8.

[26] Ebenda.

[27] BVerfGE 61, 1 [8].

[28] BVerfGE 91, 125 [135].

[29] Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 17a Rn. 28.

[30] Von Coelln/Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 17a Rn. 2; Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 17a 25f. und Uerpmann-Wittzack/Edenharter in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 17a Rn. 11 sehen die Relevanz der Norm nur für „Sonderrecht“, also Gesetze, die nicht unter Art. 5 II GG fallen.

[31] Siehe auch Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 17a Rn. 27.

[32] BVerfGE 7, 198 [208f.].

[33] Siehe etwa zu Art. 17 I SG BVerfGE 28, 55 [63]; Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 17a Rn. 28.

[34] BVerfGE 94, 1 [9]. 

[35] Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 5 Rn. 151.

[36] Ebenda.

[37] Siehe Wendt, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rn. 136ff. m.w.N.

[38] Siehe etwa BVerwG, Urteil vom 22.01.1997 – 2 WD 24/96, Rn. 10 ff.; BVerwG, Urteil vom 24.01.1984 – 2 WD 40/83.

[39] Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 3. Aufl. 2017, 207. 

[40] Jarass, in: Jarrass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 10ff.

[41] Ausführlich Epping, Grundrechte, 389ff.

[42] Hierzu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 137.

[43] BVerfGE 147, 1 [28].

[44] So auch große Teile der Literatur, siehe etwa: Boysen, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 175; Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 24, 42; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. Art. 3 Rn. 138; Baer/Markard, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 453.

[45] Baer/Markard, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 460; siehe auch Adamietz, Geschlecht als Erwartung (2011) 239ff. 

[46] Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 Abs. 2 Rn. 23.

[47] Gröpl, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 3 Rn. 88a.

[48] BVerfGE 133, 59 [98]; BVerfGE 105, 313 [351f.].

[49] Siehe hierzu unten zu Art. 3 I GG.

[50] BVerfGE 85, 191 [207].

[51] Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 73.

[52] BVerfGE 85, 191 [207]. 

[53] BVerfGE 48, 127 [159f.].

[54] St. Rspr., siehe etwa BVerfGE 88, 87 [96]; BVerfGE 138, 136 [180f.]. Siehe ausführlich zum Rechtfertigungsmaßstab des Art. 3 I GG Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 3 Rn. 29ff.; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. 1 Rn. 132ff.; 

[55] Gröpl, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 3 Rn. 53ff.

[56] Kritisch hierzu Boysen in: von Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 108f. m.w.N.

[57] BVerfGE 124, 199 [220]; BVerfGE 131, 239 [256].


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© Heike Krieger (Freie Universität Berlin)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Sofie-Marie Terrey

Stand der Bearbeitung: Oktober 2024