Prüde und gefährlich (Sachverhalt)
Agnes Adesinus ist Offizierin und seit 1.1.2016 Bataillonskommandeurin der Bundeswehr und trägt in dieser Funktion die Personalverantwortung für etwa 1000 Soldatinnen und Soldaten. Als erste trans* Frau in einer solchen Führungsposition in der Bundeswehr hatte sie gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit genossen. Bereits mehrfach hatte sie sich auch in Talkshows und Interviews mit reichweitenstarken Medien für eine vielfältige, queer-freundliche Bundeswehr stark gemacht. Diese Repräsentation wurde seitens der Bundeswehr befürwortet und gefördert. Etwa wurde auf der Website der Bundeswehr ein Interview mit ihr veröffentlicht, das ihre Identität als Zeichen für eine „sich wandelnde Bundeswehr“ in Sachen Diversität und Inklusivität heraushob. Am 4.1.2017 jedoch erhält Agnes Adesinus plötzlich einen Verweis ihres zuständigen Disziplinarvorgesetzten. Diesem liegt ein Ausdruck eines Screenshots ihres Profils auf der Dating-App Tinder, inklusive ihrem dort verwendeten Foto, bei. Der Verweis enthält folgende Begründung:
„Sie haben das als Anlage beiliegende Foto mit dem folgenden Text: „K., 43, spontan, lustvoll, trans* und auf der Suche nach Sex. All genders welcome.“ bei der Dating-App Tinder eingestellt, während sie in einer herausgehobenen dienstlichen Stellung als Bataillonskommandeurin eingesetzt waren. Dies stellt einen Verstoß gegen die Wohlverhaltenspflicht aus § 17 Abs. 2 S. 3 Soldatengesetz dar.“
Auf dem hierzu gehörenden Profilbild ist Agnes Adesinus vollständig bekleidet in sitzender Position zu sehen. Das Profil enthält keine Angabe zu ihrem Beruf und nimmt auch keinerlei Bezug zur Bundeswehr. Agnes Adesinus ist entrüstet. Sie legt erfolglos Beschwerde gegen den Verweis ein und wendet sich schließlich mit einer gerichtlichen Klage hiergegen.
Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt jedoch letztinstanzlich die Rechtmäßigkeit des Verweises. Dieser sei insgesamt eine angemessene Reaktion auf das bekannt gewordene Verhalten der Agnes Adesinus. Zwar sei ein sexuell freizügiger Lebensstil mittlerweile gesellschaftlich tolerierter. Sicherlich seien traditionellere Einstellungen zu Sexualität aber innerhalb der Bundeswehr besonders verbreitet. Die Selbstdarstellung der K. könne daher womöglich dazu führen, dass sie besonders bei konservativeren
Mitgliedern der Bundeswehr an dem für die berufliche Funktion der Agnes Adesinus notwendigen Ansehen verliere. Insbesondere sei zu beachten, dass sie als Bataillonskommandeurin unter anderem zuständig ist für den Umgang mit Fällen sexueller Belästigung innerhalb des Bataillons. Würde unter den Soldat*innen bekannt, dass ihr privater Lebensstil ein „hemmungsloses“ Ausleben des Sexualtriebs beinhalte, könne dies zumindest den Eindruck erwecken, sie sei ungeeignet, um mit sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz umzugehen. Zudem schränke der Verweis die Agnes Adesinus, wenn überhaupt, dann nur sehr leicht ein. Sie sei ja nicht grundsätzlich an der Nutzung von Tinder gehindert. Sie müsse sich nur aufgrund ihrer herausgehobenen Position in der Bundeswehr bei der Art und Weise ihrer Selbstdarstellung etwas mehr zurückhalten. Die Partner*innensuche sei ja aber wohl auch mit einem „gemäßigteren“ Profil ohne derartige „Überspitzungen“ möglich. Die Angabe „all genders welcome“ suggeriere etwa eine „maßlose“ sexuelle Freizügigkeit, da einfach „jeder“ als Sexualpartner willkommen sei. Jedenfalls schränke die ergriffene Maßnahme die Agnes Adesinus auch deshalb nicht über Gebühr ein, da ein Verweis die mildeste Disziplinarmaßnahme darstelle. Ein Verweis könne sich – was zutrifft – negativ auf die dienstliche Beurteilung auswirken, hindere bei entsprechender Bewährung aber keine förderlichen Maßnahmen und werde nach § 8 II 1 Wehrdienstordnung (WDO) in der Regel nach drei Jahren aus der Personalakte gelöscht.
Agnes Adesinus sieht das völlig anders: Der Verweis sei ein viel zu starker Eingriff in ihre Freiheiten. Es sei eine Frechheit, dass die Bundeswehr sie einerseits als
„Aushängeschild“ benutze, weil sie von gesellschaftlichen Normen abweiche – andererseits aber, wenn es um ihr rein privates Sexualleben gehe, genau dies sanktioniere. Es werde auch übersehen, was für eine bedeutende Rolle die freie Selbstdarstellung zur Partner*innensuche auf Tinder für sie persönlich spiele. Als queere trans* Frau gehöre sie zu einer marginalisierten Minderheit, die auch bei der Partner*innensuche transphobischen Anfeindungen ausgesetzt sei. Die Nutzung von Tinder sowie eine klare Angabe ihrer geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung auf ihrem Profil sei essentiell, um nur potentielle Partner*innen zu treffen, die ihr mit Akzeptanz begegnen. Ohne eine freie Gestaltung ihres Dating-Profils sei die Nutzung von Tinder für sie sinnlos. Agnes Adesinus meint aber auch, ohnehin dürfe sie sich über solche Aspekte generell frei äußern. Ihre Selbstbeschreibung auf Tinder sei nämlich „doppelt“ schutzwürdig, da diese nicht nur ihre Persönlichkeit abbilde, sondern auch eine politische Dimension habe. Denn durch die Angabe „trans*“ und „all genders welcome“ positioniere sie sich auch gegen vorherrschende biologistische und binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit. Insbesondere meine sie mit dem Ausdruck „all genders welcome“, dass sie pansexuell ist, sich also zu Menschen jeglichen Geschlechts, auch außerhalb des männlichen oder weiblichen, hingezogen fühlt. Sie sehe keinen Grund, warum sie sich aufgrund ihrer beruflichen Stellung in solchen Äußerungen – die nichts mit der Bundeswehr zu tun haben und zudem nur im privaten Bereich getätigt wurden – „mäßigen“ sollte. Sie fühle sich zudem wegen ihrer Identität und sexuellen Orientierung ungerecht behandelt. Sie habe schon mehrfach mitbekommen, dass – was zutreffend ist – nicht nur einige andere Offiziere, sondern auch zwei weitere Bataillonskommandeure (allesamt männlich und heterosexuell), ebenfalls Tinder oder sehr ähnliche Online-Dating-Plattformen zur Partnerinnensuche verwenden. Diese seien – was zutrifft – nie aufgrund dessen disziplinarrechtlich sanktioniert worden. Dasselbe Verhalten in ihrem Fall werde aber als moralisch „anstößig“ abgeurteilt. Sie sei sich sicher, dies beruhe allein auf ihrer sexuellen Identität – als trans*, aber auch als
pansexuell. Schließlich stört es die Agnes Adesinus, dass der Verweis vom Gericht als so mild beurteilt wird: sie wendet ein – was zutrifft – dass mehrere Disziplinarmaßnahmen durchaus ernsthaft hinderlich für eine Karriere in der Bundeswehr sein können.
Agnes Adesinus legt form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen alle gegen sie ergangenen Maßnahmen ein.
Wird diese Aussicht auf Erfolg haben?
Bearbeiter*innenvermerk:
Von der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit des § 17 Abs. 2 S. 3 SG ist auszugehen. Art. 12 GG ist nicht zu prüfen.
§ 17 Soldatengesetz (SG)
(1) Der Soldat hat Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch außerhalb des Dienstes zu achten.
(2) Sein Verhalten muss dem Ansehen der Bundeswehr sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Dienst als Soldat erfordert. Der Soldat darf innerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen auch während der Freizeit sein Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, dienstliche oder gesundheitliche Gründe erfordern dies. Außer Dienst hat sich der Soldat außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt.
(…)
§ 8 Wehrdienstordnung (WDO)
(…)
(2) Eine einfache Disziplinarmaßnahme ist nach drei Jahren, eine Kürzung der Dienstbezüge nach fünf Jahren und ein Beförderungsverbot, auch in Verbindung mit einer Kürzung der Dienstbezüge, nach sieben Jahren zu tilgen. (…)
Dokumente
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© Heike Krieger (Freie Universität Berlin)
Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Sofie-Marie Terrey
Stand der Bearbeitung: Oktober 2024