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Chefsache II - Tag der Abrechnung (Lösungsvorschlag)

 

 

Chefsache II (Lösungsvorschlag)


© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)

 

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Jan-Peter Wiepert; Timon El-Sherif

Stand der Bearbeitung: Juli 2023

 

Das BVerfG wird dem Antrag der Bundeskanzlerin stattgeben, wenn dieser Antrag zulässig und begründet ist.

 

A)   Zulässigkeit

 

Bei dem Antrag der Bundeskanzlerin handelt es sich um einen Antrag auf Entscheidung nach § 67 BVerfGG, also um einen Antrag auf Durchführung eines Organstreitverfahrens. Dieser Antrag ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und der § 13 Nr. 5, §§ 63ff. BVerfGG vorliegen.

 

I.  Beteiligtenfähigkeit des Antragstellers (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG)

 

Die Bundeskanzlerin wird zwar in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG nicht ausdrücklich erwähnt. Der Bundeskanzler ist aber im Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet (vgl. z.B. Art. 64 Abs. 1, Art. 65 Satz 1 und 4, Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Art. 69 Abs. 1 und 3, Art. 115 b GG) und ist somit gemäß § 63 BVerfGG als Teil des obersten Bundesorgans "Bundesregierung" im Organstreitverfahren beteiligtenfähig (str.; nach a.A. ist der Bundeskanzler selbst ein oberstes Bundesorgan, was aber für dessen Beteiligtenfähigkeit im Organstreitverfahren ohne Bedeutung ist).

 

II.    Beteiligtenfähigkeit des Antragsgegners (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG)

 

Der Bundespräsident ist aufgrund der ausdrücklichen Regelung des § 63 BVerfGG im Organstreitverfahren beteiligtenfähig.

 

III.   Tauglicher Organstreitgegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 64 Abs. 1 BVerfGG)

 

Gegenstand des Organstreits kann nach § 64 Abs. 1 BVerfGG nur eine "Maßnahme oder Unterlassung" des Antragsgegners sein, während der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG eine "Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans" genügen lässt, also weniger auf ein kontradiktorisches Verfahren, in dem zwei Beteiligte um ihre Kompetenzen streiten, als auf ein objektives Beanstandungsverfahren zur Klärung abstrakter Rechtsfragen hindeutet. Das BVerfG hat die Ausgestaltung des Organstreitverfahrens als kontradiktorisches Verfahren durch § 64 BVerfGG jedoch als zutreffende Konkretisierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG verstanden und sie sogar letztlich für verfassungsrechtlich geboten erachtet.[1] Inwieweit dies zutreffend ist, kann allerdings dahinstehen, weil die Bundeskanzlerin keine abstrakte Rechtsfrage klären lassen will, sondern eine konkrete Maßnahme des Bundespräsidenten rügt, nämlich die Ablehnung ihres Antrages nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese Maßnahme ist tauglicher Streitgegenstand auch i.S.d. § 64 Abs. 1 BVerfGG.

 

IV.  Antragsbefugnis (§ 64 Abs. 1 BVerfGG)

 

Der Antrag der Bundeskanzlerin ist jedoch nur zulässig, wenn sie antragsbefugt ist, also eine Verletzung ihrer ihr durch das Grundgesetz übertragenen Rechte durch die Weigerung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, als möglich erscheint. Hier ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese Weigerung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, ein Recht der Bundeskanzlerin aus Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Dies wäre nämlich dann der Fall, wenn dem Bundespräsidenten ein solches Weigerungsrecht nicht zusteht. Insofern ist die Bundeskanzlerin auch antragsbefugt.

 

V.  Form und Frist (§ 64 Abs. 2 und 3 BVerfGG)

 

Der Antrag ist entsprechend § 64 Abs. 2 BVerfGG begründet und gemäß § 64 Abs. 3 BVerfGG fristgemäß eingereicht worden.

 

VI.  Rechtsschutzbedürfnis

 

Nach allgemeiner Auffassung ist ein Antrag auf Einleitung eines Organstreitverfahrens nur zulässig, wenn hierfür auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis besteht, dass allerdings bei Vorliegen der Antragsbefugnis regelmäßig indiziert ist, somit nur ausnahmsweise entfallen kann. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis wird etwa verneint, wenn zur Abwendung der Rechtsverletzung ein einfacherer Weg als die Durchführung eines Organstreitverfahrens besteht,[2] und es muss nach allgemeinen Grundsätzen wohl auch dann verneint werden, wenn bezüglich der begehrten Feststellung keinerlei berechtigtes Feststellungsinteresse mehr gegeben ist, also etwa dann, wenn die angegriffene Maßnahme abgeschlossen ist und auch keine rechtlichen Folgewirkungen mehr zeitigt. Hieran könnte man denken, weil mit Verstreichen der Frist des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG eine Auflösung des Bundestages aufgrund dieses Misstrauensantrags nicht mehr in Betracht kommt. Jedoch wird man zur Bejahung des Rechtsschutzbedürfnisses im Organstreitverfahren auch eine Wiederholungsgefahr ausreichen lassen müssen, die hier besteht, weil es wahrscheinlich ist, dass der Bundespräsident bei erneuter Stellung eines Misstrauensantrags unter vergleichbaren Bedingungen einem Antrag der Bundeskanzlerin nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG wiederum nicht stattgeben wird.

 

VII.  Ergebnis zu A

 

Der Antrag der Bundeskanzlerin ist damit zulässig.

B)   Begründetheit

 

Der Antrag der Bundeskanzlerin ist begründet, wenn durch die Weigerung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, tatsächlich Rechte der Bundeskanzlerin verletzt werden. Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn der Bundespräsident zur Auflösung des Bundestages verpflichtet war, weil sich dann aus Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG auch ein Recht des Bundeskanzlers auf Bundestagsauflösung herleiten lässt.

 

I.  Reichweite der Entscheidungskompetenz des Bundespräsidenten

 

Eine generelle Verpflichtung des Bundespräsidenten, dem Auflösungsvorschlag zu entsprechen, wird indes einhellig abgelehnt. Gegen eine solche Auslegung spricht insbesondere die Fristenregelung des Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG: Es würde wenig Sinn machen, eine Verpflichtung zur Auflösung des Bundestages erlöschen zu lassen, wenn sie rechtswidrigerweise nicht erfüllt wurde.[3] Umgekehrt soll der Bundespräsident aber in seiner Entscheidung über die Auflösung nicht völlig frei sein: Nach Ansicht des BVerfG handelt es sich hierbei um eine politische Leitentscheidung, die im pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten liegt und damit vom BVerfG auch im Hinblick auf einen möglicherweise gegebenen Ermessensausfall oder Ermessensfehlgebrauch hin überprüft werden kann.[4]

 

II.  Durfte der Bundespräsident den Bundestag auflösen?

 

Steht demnach die Entscheidung des Bundespräsidenten nach Art. 68 Abs. 1 GG in seinem pflichtgemäßen Ermessen, ergibt sich hieraus auch ein "Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung" des die Auflösung beantragenden Bundeskanzlers. Fraglich ist folglich, ob der Bundespräsident ermessensfehlerhaft gehandelt hat. Dies setzt zunächst voraus, dass der Bundespräsident im vorliegenden Fall überhaupt eine Bundestagsauflösung anordnen durfte, also die Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG vorlagen. Nur wenn dessen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, kann sich die Frage nach der ordnungsgemäßen Ausübung seines Ermessens stellen.[5]

 

1.  Zulässigkeit "unechter Vertrauensfragen"

 

Formal sind die Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 GG gegeben: Der Antrag der Bundeskanzlerin, ihr das Vertrauen auszusprechen, hat nicht die erforderliche Mehrheit (vgl. Art. 121 GG) von 301 der 600 Mitglieder des Bundestages gefunden, weil sich die 302 Abgeordneten der CLP- Fraktion und der Fraktion der BUNTEN der Stimme enthalten haben. Auch hat die Bundeskanzlerin dem Bundespräsidenten die Auflösung des Parlamentes vorgeschlagen, die Frist des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG war noch nicht abgelaufen, und das Parlament hat auch nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler gewählt (Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG).

 

Fraglich ist jedoch, ob damit den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG Genüge getan ist. Aus der finalen Formulierung des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ("Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen") könnte man schließen, dass ein solcher Antrag nur vorliegt, wenn der Bundeskanzler ihn mit dem Ziel stellt, hierfür die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zu erhalten und auf diese Weise eine Regierungskrise abzuwenden (sog. "echte Vertrauensfrage"). Dies würde bedeuten, dass die sog. "unechte Vertrauensfrage", also der Antrag, der vom Kanzler bewusst mit dem Ziel gestellt wird, auf seine Verneinung hinzuwirken und damit den Weg zu Neuwahlen freizumachen, kein "Antrag" i.S.d. Art. 68 Abs. 1 GG wäre und damit nicht zur Parlamentsauflösung berechtigen würde.[6]

 

a)   Missbrauchsargument

 

Ausgangspunkt muss sein, dass das Grundgesetz – als Reaktion auf das praktisch unbegrenzte Auflösungsrecht, das dem Reichspräsidenten gemäß Art. 25 WRV zukam, und von dem übermäßig Gebrauch gemacht worden ist – ein freies Auflösungsrecht des Bundestages nicht kennt, weder in Form der Selbstauflösung noch in Form einer Auflösung durch den Bundeskanzler oder den Bundespräsidenten. Eine Bundestagsauflösung ist vielmehr nur in den Fällen des Art. 63 Abs. 4 GG und des Art. 68 GG möglich. Hieraus folgt, dass es dem Sinn des Art. 68 GG jedenfalls nicht gerecht wird, bei an sich stabilen politischen Mehrheiten durch Stellung einer "unechten Vertrauensfrage" Neuwahlen zu einem Zeitpunkt zu ermöglichen, der für die derzeit amtierende Bundesregierung gerade günstig ist, um so den "Regierungsbonus" optimieren zu können.[7]

Anmerkung: Dies wird im Sondervotum Lübbe-Wolff (BVerfGE 114, 121, 182 ff.) mit der Begründung bestritten, die Vertrauensfrage sei ihrer Natur nach keine Wissens- sondern eine Willensbekundung, wie die Frage vor dem Traualtar. Sie könne somit aufgrund des adressatenabhängigen Sinns nur vom Parlament selbst beantwortet werden und sei der Prüfung durch das BVerfG entzogen (in der Kritik des Urteils sehr ähnlich, im Ergebnis aber der Senatsmehrheit folgend: Ipsen, NVwZ 2005, 1147, 1150; ausführlich zur Argumentation Lübbe-Wolffs Schenke, in: Festschrift Wahl, 2011, S. 365, 374 ff.

b)           Berechtigte      Interessen      an      der     Durchführung     einer      "unechten Vertrauensfrage"

 

Jedoch muss sich aus diesem Missbrauchsargument nicht zwingend die Unzulässigkeit jeder "unechten Vertrauensfrage" ergeben. Eine solche Konsequenz würde dem Zweck des Art. 68 GG nämlich nicht gerecht: Ziel des Art. 68 GG ist vor allem, die Regierungsfähigkeit herzustellen, zu gewinnen oder zu erhalten. Dieses Ziel kann bei unstabilen politischen Mehrheiten – jedenfalls in bestimmten Konstellationen – tatsächlich nur erreicht werden, wenn der Vertrauensfrage nicht entsprochen wird, dies vor allem dann, wenn sich die im Parlament vertretenen Parteien allein in der Ablehnung des amtierenden Bundeskanzlers einig sind ("Weimarer Verhältnisse"). Hier würde eine positive Beantwortung der Vertrauensfrage zur Stabilität der Regierung nichts beitragen. Demgegenüber kann die Ablehnung der Vertrauensfrage die Situation auch für den amtierenden Kanzler verbessern: Sie eröffnet der Bundesregierung die Möglichkeiten des Art. 81 GG, so dass dies für den Bundeskanzler schon Grund genug sein kann, sich die Ablehnung der Vertrauensfrage zu wünschen, also eine "unechte Vertrauensfrage" zu stellen.[8] Umgekehrt kann auch die hierdurch bewirkte "Drohung" mit der Alternative zwischen Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG und Neuwahlen nach Art. 68 Abs. 1 GG bewirken, dass sich die zerstrittenen Parteien zusammenraufen und die Wahl eines neuen Kanzlers nach Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG vornehmen, und schließlich können auch etwa ausgeschriebene Neuwahlen eine Klärung der Mehrheitsverhältnisse herbeiführen. Zumindest für den Minderheitskanzler besteht somit für die Zulässigkeit der unechten Vertrauensfrage ein unabweisbares, von der ratio des Art. 68 Abs. 1 GG auch gedecktes praktisches Bedürfnis und wird deshalb auch von der wohl überwiegenden Meinung als zulässig anerkannt.[9]

 

c)   Zulässigkeit "unechter Vertrauensfragen" beim Mehrheitskanzler

 

Hält man mit dieser Argumentation die "unechte Vertrauensfrage" nicht generell für unzulässig, so kann sich – wie im vorliegenden Fall – auch die Frage stellen, inwieweit sie von einem Bundeskanzler gestellt werden kann, der an sich über eine ausreichende Mehrheit im Parlament verfügt. Hier ist mit dem BVerfG[10] – schon um Missbrauch zu begegnen – davon auszugehen, dass auch in diesem Fall die Stellung einer "unechten Vertrauensfrage" durch den Mehrheitskanzler stets eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag voraussetzt. Somit erfordert Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass sich der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Mehrheit des Bundestages nicht (mehr) sicher sein kann. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. In diesen Fällen unterscheidet sich der Mehrheitskanzler nicht wesentlich vom Minderheitskanzler, so dass auch in diesen Fällen die ratio des Art. 68 GG eine "unechte Vertrauensfrage" zulässt. Um eine "unechte Vertrauensfrage" stellen zu können, muss er also nicht darauf warten, dass seine Mehrheit endgültig zusammenbricht.

 

d)   Ergebnis zu 1

 

Die Stellung einer "unechten Vertrauensfrage" ist somit nur bei politisch instabilen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag zulässig.

 

2.  Vorliegen politisch instabiler Verhältnisse im vorliegenden Fall

 

Daher fragt sich, ob dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal im vorliegenden Fall gegeben ist.

 

Allein der Umstand, dass letztlich – wenn auch ohne Neuwahl des Bundeskanzlers – aufgrund des Wechsels des Koalitionspartners eine völlig neue Regierung gebildet worden ist, begründet noch keine Lage politischer Instabilität. Neben der verfassungsrechtlichen Legalität bedarf eine solche Bundesregierung keiner zusätzlich durch Wahlen vermittelten "vollen" demokratischen Legitimität: Verfassungsmäßige Verfahren dürfen nicht dadurch abgewertet und ausgehöhlt werden, dass man weitere Legitimationen durch "Volksentscheide" fordert. Deshalb rechtfertigt auch der übereinstimmende Ruf nach Neuwahlen in Parteien und Bevölkerung allein noch nicht die Stellung einer unechten Vertrauensfrage.[11]

 

Eine Lage der politischen Instabilität ergibt sich im vorliegenden Fall jedoch daraus, dass sich die Bundeskanzlerin aufgrund der Erklärung der 10 Abgeordneten der CLP einer stetigen Mehrheit nicht mehr sicher sein kann. Eine solche Stabilität wäre nur dann gegeben, wenn der alte Kurs der früheren CLP/FMP-Koalition weitergeführt würde, was aber gerade nicht dem Vorhaben der neuen Regierung entspricht. Aufgrund ihrer unsicheren Mehrheit vermag sie also eine dem neuen Regierungsprogramm entsprechende Politik nicht sinnvoll zu verwirklichen.

Anmerkung: Da hier unstreitig ein Fall politischer Instabilität vorliegt, bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob dem Bundeskanzler insoweit ein – vom BVerfG und Bundespräsidenten nur eingeschränkt überprüfbarer – Beurteilungs- und Prognosespielraum zusteht (vgl. hierzu BVerfGE 62, 1, 50 f.; BVerfGE 114, 121, 156; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 68 Rn. 108 ff.). Teilweise wurde etwa das Vorliegen einer politischen Lage der Instabilität bei der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder am 27. Juni 2005 verneint (Sondervotum Jentsch BVerfGE 114, 121, 170 ff.; Schenke, in: Festschrift Wahl, 2011, S. 365, 366 ff.; Starck, JZ 2005, 1053; 1055).

Dementsprechend lagen die Voraussetzungen für eine zulässige "unechte Vertrauensfrage" vor.

 

3.  Ergebnis zu II

 

Der Bundespräsident hätte somit nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG den Bundestag auflösen dürfen.

 

III.  Hat der Bundespräsident sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt?

 

War somit eine Bundestagsauflösung möglich, stellt sich die weitere Frage, ob die Weigerung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, ermessensfehlerhaft war. Allgemeiner Ansicht nach hat der Bundespräsident bei der Ermessensausübung generell das Gemeinwohl und spezifisch vor allem den Sinn und Zweck des Art. 68 GG zu berücksichtigen, der es ermöglichen soll, wieder zu stabilen politischen Mehrheiten zu kommen.[12] Er muss dementsprechend sein Ermessen pflichtgemäß ausüben.[13] Fraglich ist damit, ob die Ablehnung der Bundestagsauflösung hier – orientiert am Sinn und Zweck der Auflösungsbefugnis – ermessensgerecht war.

 

1.  Unerheblichkeit eines allgemeinen Wunschs nach Neuwahlen

 

Aus dem übereinstimmenden Ruf von Parteien und Bevölkerung nach Neuwahlen folgt zunächst noch nicht, dass die Ablehnung der Parlamentsauflösung durch den Bundespräsidenten ermessensfehlerhaft ist. Eine Verpflichtung zur Bundestagsauflösung ergibt sich hieraus nicht, jedoch kann ein solcher übereinstimmender Ruf nach Neuwahlen natürlich ein wichtiger Gesichtspunkt sein, um dem Vorschlag des Bundeskanzlers nachzukommen.[14]

 

2.  Unerheblichkeit persönlicher Animositäten

 

Soweit die Ablehnung damit begründet wurde, dass die sich hieraus ergebende politische Pattsituation der Bundeskanzlerin "ganz recht geschehe", liegt freilich ein eindeutiger Ermessensfehlgebrauch vor: Der Bundespräsident darf die Entscheidung nach Art. 68 Abs. 1 GG nicht unter "erzieherischen" Gesichtspunkten treffen. Damit verwendet er seine Entscheidungsbefugnis letztlich dazu, die Politik des Bundeskanzlers – auf die er rechtlich weder Einfluss nehmen kann noch darf – zu sanktionieren. Er darf das Gemeininteresse an einer stabilen Regierung nicht seinen persönlichen Empfindlichkeiten opfern.[15]

Anmerkung: Dies bedeutet nicht, dass für eine Entscheidung nicht auch seine politische Einstellung zum Bundeskanzler ausschlaggebend sein kann. Dies jedoch nur, wenn sowohl Bundestagsauflösung als auch deren Verweigerung gleichermaßen (un-)geeignet erscheinen, stabile politische Verhältnisse herbeizuführen [vgl. hierzu Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 68 Rn. 60 (53. EL Oktober 2008)].

3.  Befürchtung der Verstärkung der politischen Instabilität

 

Jedoch hat der Bundespräsident seine Entscheidung auch damit begründet, dass es alles andere als wahrscheinlich sei, dass das Ergebnis der Neuwahlen stabile Mehrheitsverhältnisse sein würden, sondern die ernst zu nehmende Gefahr bestehe, dass keine politische Kraft die "Kanzlermehrheit" des Art. 63 GG (Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages, Art. 121 GG) im Bundestag erreiche. Dies hätte nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG wiederum entweder die Bildung einer Minderheitsregierung oder eine erneute Auflösung des Bundestages zur Folge. Hält man eine solche Situation für möglich, würde im vorliegenden Fall die Durchführung von Neuwahlen gegenüber dem jetzigen Zustand zu noch instabileren Verhältnissen führen, so dass, hiermit begründet, die Weigerung, den Bundestag aufzulösen, dem Zweck des Art. 68 GG durchaus gerecht wird. Ob eine solche Gefahr tatsächlich gegeben ist, unterliegt nach Ansicht des BVerfG der eigenständigen Beurteilung durch den Bundespräsidenten, der hierbei an die Einschätzungen und Beurteilungen des Bundeskanzlers nicht gebunden ist.[16]

 

4.  Ergebnis zu III

 

Dementsprechend wird man die Entscheidung des Bundespräsidenten in der vorliegenden Konstellation als insgesamt ermessensgerecht zu werten haben, auch wenn ihr teilweise Motive zugrunde liegen, die als ermessensfehlerhaft anzusehen wären. Zwar läge nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen hier wohl ein zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führender Ermessensfehlgebrauch vor, weil nicht von vornherein auszuschließen ist, dass die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn der Gesichtspunkt, der nicht in die Abwägung hätte einbezogen werden dürfen, tatsächlich nicht in die Abwägungsentscheidung mit eingeflossen wäre.

Anmerkung: Vgl. Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, § 114 Rn. 12 (35. EL September 2018); siehe aber umgekehrt auch BVerwGE 62, 215, 222: Eine auf mehrere Gründe gestützte Ermessensentscheidung ist grundsätzlich auch dann rechtmäßig, wenn nur einer der herangezogenen Gründe sie trägt, es sei denn, dass nach dem Ermessen der Behörde alle Gründe zusammen die Entscheidung rechtfertigen sollen.

Jedoch kann man auf das politische Ermessen des Bundespräsidenten im Falle des Art. 68 GG wohl nicht diese engen Ermessensbindungen übertragen, die hier letztlich zu einer Art "Neubescheidungsbeschluss" entsprechend § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO führen würden, was der Stellung des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt und dem Gewicht der Entscheidung nach Art. 68 Abs. 1 GG nicht gerecht würde: Es kann hier wohl eine gerichtliche Kontrolle nur dahingehend stattfinden, ob sich die Entscheidung des Bundespräsidenten insgesamt und ausschließlich auf sachfremde, außerhalb des Sinns und Zwecks des Art. 68 GG liegende Motive stützt.[17]

 

IV.  Ergebnis zu B

 

Der Bundespräsident hat somit insgesamt sein Ermessen nach Art. 68 Abs. 1 GG pflichtgemäß ausgeübt und daher durch seine Weigerung, den Bundestag aufzulösen, keine Rechte der Bundeskanzlerin aus Art. 68 Abs. 1 GG verletzt.

 

C)   Gesamtergebnis

 

Der Antrag der Bundeskanzlerin ist damit zwar zulässig, aber unbegründet. Das BVerfG wird den Antrag abweisen.

Literaturhinweise: Siehe hierzuBVerfGE 62, 1 ff.; BVerfGE 114, 121 ff.; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 68 Rn. 136 ff., 295 ff., 327 ff. (187. EL November 2017); ders., in: Festschrift Wahl 2011, S. 365 ff.; Ipsen, NJW 2005, 2201 ff.; Ipsen, NVwZ 2005, 1147 ff; Starck, JZ 2005, 1053 ff.; vgl. auch die Fallbearbeitung bei Degenhart, Klausurenkurs im Staatsrecht I, 6. Aufl. 2022, S. 143 ff.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


[1] Grundlegend BVerfGE 2, 143, 155 ff. [lesen !!!]; BVerfGE 117, 359, 366 und 370; ausführlich hierzu Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, Rn. 1015 ff.

[2] Vgl. etwa BVerfGE 68, 1, 7 f.; BVerfGE 90, 286, 340 [mit Sondervotum S. 391 ff.].

[3] Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 68 Rn. 295 ff. (187. EL November 2017).

[4] BVerfGE 62, 1, 35, 51, 63.

[5] BVerfGE 62, 1, 35.

[6] Vgl. hierzu und zum folgenden umfassend Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 68 Rn. 136 ff. (187. EL November 2017); BVerfGE 114, 121, 149 ff.

[7] Vgl. BVerfGE 62, 1, 42 f., 48; BVerfGE 114, 121, 149, 151.

[8] Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 68 Rn. 72 ff. (53. EL Oktober 2008); Ipsen, NJW 2005, 2201, 2202.

[9] Vgl. auch BVerfGE 114, 121, 151; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 68 Rn. 72 (53. EL Oktober 2008).

[10] BVerfGE 62, 1, 42 ff.; BVerfGE 114, 121, 155 ff.

[11] Vgl. BVerfGE 62, 1, 43 f.; Epping, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 68 Rn. 19.

[12] Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 68 Rn. 78 f. (53. EL Oktober 2008).

[13] Epping, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 68 Rn. 42.

[14] BVerfGE 62, 1, 63.

[15] Vgl. Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 68 Rn. 297 (187. EL November 2017).

[16] BVerfGE 62, 1, 51.

[17] Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 68 Rn. 295 ff., 327 f. (187. EL November 2017).


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Fußnoten