Geschlossene Gesellschaft (Kurzlösung)
VB hat Aussicht auf Erfolg, wenn zulässig und begründet
A) Zulässigkeit
I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „jedermann")
FMP = eingetragener Verein i.S.d. §§ 21 ff. BGB; inländische juristische Person; „jedermann", sofern die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind
1. Grundrechtsträgerschaft in Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
BVerfG: (+), Träger dieses grundrechtsgleichen Rechts nach BVerfG alle juristischen Personen, sogar juristische Personen des öffentlichen Rechts
Grund: Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG formell kein Grundrecht im Sinne des Art. 19 GG, gewährt inhaltlich keine mit Art. 1 bis 17 GG vergleichbaren Individualrechte; für jedes gerichtliche Verfahren geltender objektiver Verfahrensgrundsatz; muss jedem Parteifähigen zugutekommen, unabhängig von ihrer genauen Rechtsstellung auch politischen Parteien
2. Grundrechtsträgerschaft der FMP im Übrigen
(P) Anwendbarkeit von Art. 9 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG auf politische Parteien i.S.d. Art. 21 GG
Keine Anwendbarkeit aufgrund durch Art. 21 Abs. 1 GG eingeräumter Stellung? (+), wenn politische Parteien „inkorporierte Teile der Staatlichkeit“; entscheidend ist Status der Parteien im GG
a) Frühere Auffassung des BVerfG
„Quasi-Staatsorganqualität“ der politischen Parteien
Argument: Zweck des Art. 21 GG ist Legalisierung des modernen demokratischen Parteienstaats; Parteien in Verfassung eingebaut; Sonderstellung in heutiger Form der Demokratie; Faktoren des Verfassungslebens, stehen in dessen innerem Bereich
- Grundrechtsfähigkeit (-)
b) Relativierung der früheren Auffassung
Grundsatz der Staatsfreiheit der politischen Parteien
Argument: Verfassungsgebot einer prinzipiell staatsfreien, offenen Meinungs- und Willensbildung vom Volk zu den staatlichen Organen; Art. 21 GG setzt staatliche Willensbildung von „unten nach oben" voraus
- juristische Personen des Zivilrechts, die durch Art. 21 GG unter besonderem staatlichem Schutz; Sinn des Art. 21 GG ist nicht der Entzug des Grundrechtsschutzes
- Grundrechtsfähigkeit grds. (+)
c) Besonderheiten im Hinblick auf Art. 9 Abs. 1 GG
allg. A.: Art. 21 GG lex specialis zur allgemeinen Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG
Argument BVerfG: Vergleich Art. 9 Abs. 2 GG – Art. 21 Abs. 2 GG
a. A.: Garantie der Parteienfreiheit durch Art. 9 Abs. 1 GG, Geltung der Schranken des Art. 21 GG
Argument: Vollständige Verdrängung Art. 9 Abs. 1 GG; Eingriffe in Parteigründungsfreiheit nicht mit VB rügbar, da Art. 21 GG kein Recht i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; Schlechterstellung nicht Sinn des Parteienprivilegs
- Letzterer Auffassung ist zu folgen
d) Ergebnis zu 2
Grundrechtsfähigkeit FMP hinsichtlich Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG (+)
3. Ergebnis zu I
FMP = „jedermann“ i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG
II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Akt der öffentlichen Gewalt")
(+), BGH-Gerichtsentscheidung = „Akt der öffentlichen Gewalt"
III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Behauptung, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")
BVerfG: (+), sofern kein tauglicher Antragsgegner für Organstreit; Hineinlesen des Art. 21 GG in zur Anwendung kommende Grundrechte
Hier:
BGH: Aufnahme-/Kontrahierungszwang zu Lasten FMP; Verletzung der Rechte Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG und Art. 2 Abs. 1 GG nicht von vornherein ausgeschlossen; Auslegung nach Wortlaut § 10 Abs. 1 PartG nicht naheliegend; praktische Nichtanwendung der Norm ohne Normenkontrollvorlage an BVerfG (Art. 100 Abs. 1 GG); Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG möglich
Unmittelbare und gegenwärtige Selbstbetroffenheit (+)
- Beschwerdebefugnis (+)
IV. Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG)
(+), kein weiteres Rechtsmittel gegen BGH-Entscheidungen, insbesondere Anhörungsrüge nach § 321a ZPO bei einer geltend gemachten Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht statthaft
Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität
V. Frist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG)
(+), laut Sachverhalt
VI. Ergebnis zu A
Zulässigkeit (+)
B) Begründetheit
(+), wenn BGH-Entscheidung FMP in Grundrechten verletzt
I. Grundrechtsverletzung durch den vom BGH angeordneten Kontrahierungszwang
Aufnahme-/ Kontrahierungszwang nach § 826 i.V.m. § 249 BGB = Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG?
1. Schutzbereich
(individuelle) negative Vereinigungsfreiheit = Recht, einer bestimmten Vereinigung fernzubleiben bzw. sich mit bestimmten Personen nicht zu einer Vereinigung zusammenzuschließen
BVerfG: Schutz auch der Vereinigung selbst (kollektive Vereinigungsfreiheit), soweit Frage des Entstehens und Bestehens
Umfang: nur „Kernbereich des Vereinigungsbestandes und der Vereinigungstätigkeit"; entsprechend individueller negativer Vereinigungsfreiheit auch Aufnahmefreiheit; Geltung auch für politische Parteien (kein Zwang zur Aufnahme politischer Gegner)
- Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG: Grundrecht der politischen Partei auf Selbstbestimmung ihrer Mitglieder
2. Eingriff
(+), allgemeiner Aufnahmeanspruch bei Erfüllung der satzungsmäßigen Mitgliedschaftsvoraussetzungen = Eingriff in Aufnahmefreiheit; Aufnahme zwar entsprechend der Satzung, allerdings keine Begründung von Rechten außenstehender Dritter durch sie
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
a) Beruht die Entscheidung des BGH auf einem verfassungswidrigen Gesetz?
BVerfG: (-), Gewährleistung eines angemessenen Interessenausgleichs durch Grundsatz der Privatautonomie; für Gesetzgeber nicht alle Fälle gestörter Vertragsparität vorhersehbar; Einzelfallausgleich durch Richter mittels zivilrechtlicher Generalklauseln (hier: § 826 i.V.m. § 249 Abs. 1 BGB); zivilrechtliche Generalklauseln verfassungsrechtlich geboten
b) Stellt die Entscheidung des BGH einen Rechtssatz auf, der verfassungswidrig wäre, wenn er vom Gesetzgeber erlassen worden wäre?
aa) Grundrechtlich geschütztes Interessen des Bewerbers
Schutz des Beitrittsentschluss zu politischer Partei durch Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG, jedoch Gleichrangigkeit mit Recht der Partei auf Fernhaltung unliebsamer Bewerber aus Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG
Recht auf aktive demokratische Mitwirkung an der Willensbildung im Staat aus Art. 5 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Satz 2, Art. 38 GG?
(+), Verwirklichung faktisch regelmäßig nur innerhalb der großen Parteien; Pflicht des Staates zur Verhinderung der Abschottung der großen Parteien; bei fehlenden Regelungen Pflicht zur Begründung eines Aufnahmeanspruchs aus zivilrechtlichen Generalklauseln durch Gerichte aus o.g. Recht herleitbar
- grundrechtlich geschütztes Interesse (+); Eingriff in Ausnahmefreiheit nicht schlechthin ausgeschlossen (nicht nur Privilegien, aus Art. 21 GG folgt auch besondere Verantwortung der Parteien für politische Willensbildung des Volkes)
bb) Grundrechtlich geschütztes Interesse der Partei
Aufnahmezwang zu Lasten der großen politischen Parteien?
(-), Gedanke der Staatsfreiheit der Parteien spricht gegen Aufnahmepflicht bei Erfüllung der satzungsmäßigen Voraussetzungen; Aufnahmeentscheidung sonst bei staatlichen Gerichten, nicht bei Parteien; Duldung von größerer Bandbreite politischer Überzeugungen durch staatlich verordnete Beitritte - Folge u. U. „Wettbewerbsverzerrungen“ insbesondere in Wahlkampfzeiten
- allgemeiner Aufnahmeanspruch verstößt gegen Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG
cc) Ausgleich der widerstreitenden Interessen
völlige Abschottung etablierter Parteien gegenüber Neubewerbern = Widerspruch zur Aufgabenstellung politischer Parteien; allgemeine Aufnahmesperren unzulässig (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 3 PartG)
allgemeiner Aufnahmeanspruch = Widerspruch zum Grundsatz der Staatsfreiheit
- Kompensation der beeinträchtigten Bewerberrechte durch Begrenzung der staatlichen Parteifinanzierung durch Staatsfreiheitsgrundsatz; Zwang und Interesse der Parteien zur Mitgliederwerbung; zudem Willkürverbot für Parteien bei Aufnahmeentscheidung
dd) Ergebnis zu b
BGH: Herleitung eines allgemeinen Aufnahmeanspruchs, nicht nur eines Willkürverbots aus § 826 i.V.m. § 249 Abs. 1 BGB; Aufstellung dieses Rechtssatzes wäre dem Gesetzgeber wegen Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 GG nicht gestattet; Grundrechtseingriff verfassungswidrig
c) Beruht die Entscheidung des BGH auf Willkür?
Willkür = Gerichtsentscheidung mit geschriebenem Recht schlechthin unvereinbar, Überschreitung der Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung (Verstoß gegen Lehre vom Gesetzesvorbehalt); v.a. bei Rechtsfortbildung, die evident contra legem ist
aa) Verfassungsrechtliche Grenzen richterlicher Normauslegung und Rechtsfortbildung
Gericht darf sich nicht in die Position des Gesetzgebers heben, indem eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers gesetzt werden
Bei der Notwendigkeit der Fortentwicklung des Rechts müssen stets die gesetzgeberischen Grundentscheidungen und dessen Ziele respektiert werden und die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung befolgt werden.
bb) Besonderheiten verfassungskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung?
Andere Maßstäbe?
Verfassungskonforme Auslegung = bei mehreren möglichen Normdeutungen muss die gewählt werden, die mit der Verfassung in Einklang ist.
Auch hier muss die prinzipielle Zielsetzung der Norm beachtet werden; weder der Wortlaut noch der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers dürfen missachtet werden.
cc) Bedeutung für den vorliegenden Fall
Wortlaut des § 10 Abs. 1 PartG: „frei[es]“ Ablehnungsrecht der Parteien?
Dafür spricht auch die Befreiung von einer Begründung (§ 10 Abs. 1 Satz 2 PartG).
Andererseits: „Nach Maßgabe der Satzung frei“ könnte auch die Bindung an die Satzung und die Freiheit bezüglich der dortigen Regelungen betonen und darüber hinaus im Einzelfall keine Freiheiten gewährleisten
Hierfür spricht auch der unzulässige Aufnahmestopp (§ 10 Abs. 1 Satz 3 PartG).
Wortlaut steht einem Aufnahmeanspruch letztlich nicht entgegen
Aber: Laut der im Sacherhalt angesprochenen Entstehungsgeschichte der Formulierung „nach Maßgabe der Satzung frei“ wollte der historische Gesetzgeber gerade keinen Aufnahmeanspruch, was nun nicht in das Gegenteil verkehrt werden darf.
dd) Ergebnis zu 3
Deutliche Rechtsfortbildung contra legem; willkürliche BGH-Handlung; Grundrechtseingriff verfassungswidrig
4. Ergebnis zu I
Kontrahierungszwang = verfassungswidriger Grundrechtseingriff
II. Grundrechtsverletzung durch die Gestaltung des Gerichtsverfahrens
Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wg. Nichtvorlage beim BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG?
1. Schutzbereich
(+), Recht auf den gesetzlichen Richter = Recht auf den gesetzlich zuständigen Richter, auch das BVerfG bei Zuständigkeit durch GG; Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG mit Verfassungsbeschwerde rügbar
2. Eingriff
BVerfG:
Eingriff (-), bei falscher Anwendung der Gerichtszuständigkeitsvorschriften
Argument: sonst würde das BVerfG Superrevisionsinstanz für Gerichtsverfassungsrecht/gesetzliche Zuständigkeitsregelungen
„Entziehen"/ Eingriff erst (+) bei willkürlich unrichtiger Anwendung von Zuständigkeits- oder Verfahrensvorschriften
a) Besonderheiten des Prüfungsmaßstabs bei unterlassener Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG
BVerfG: strengerer Maßstab, da Vorlageverpflichtung durch Verfassung, insoweit in der Regel verfassungsrechtliche Relevanz bei Missachtung
Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG: Schutz der gesetzgebenden Gewalt vor Nichtanwendung von Gesetzen durch Fachgerichte; durch Verwerfungsmonopol des Art. 100 Abs. 1 GG wird zudem eine Rechtsunsicherheit und eine Rechtszersplitterung durch unterschiedliche Entscheidungen der Fachgerichte verhindert
Daher muss kein besonders schwerer Fehler in der Rechtsanwendung gegeben sein, damit eine Missachtung des Grundrechts auf gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegeben ist.
Entscheidend ist die sachliche Vertretbarkeit der verfassungskonformen Auslegung
b) Sachliche Vertretbarkeit des Unterlassens einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG durch den BGH
- Vorlagepflicht (+), BGH hielt § 10 Abs. 1 PartG für verfassungswidrig; Gültigkeit der Norm war entscheidungserheblich; Norm ist nachkonstitutionelles formelles Gesetz
Willkürliche Verletzung: verfassungskonforme BGH-Auslegung steht im Gegensatz zum gesetzgeberischen Ziel und damit i. E. Umgehung des Art. 100 Abs. 1 GG, gewählte Auslegung selbst Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG
- Eingriff (+)
3. Ergebnis zu II
Eingriffe in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sind nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen; Verletzung von Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG durch BGH (+)
III. Ergebnis zu B
Verletzung von Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der FMP durch BGH (+); Verfassungsbeschwerde begründet
C) Gesamtergebnis
Verfassungsbeschwerde der FMP zulässig und begründet - Aussicht auf Erfolg; Feststellung des Grundrechtsverstoßes, Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an den BGH durch BVerfG (§ 95 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BVerfGG)
Dokumente
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- Geschlossene Gesellschaft (Lösungsvorschlag)
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© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)
Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Jan-Peter Wiepert, Christian Janssen
Stand der Bearbeitung: Oktober 2024