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08.06.2022 - Hannes Honecker: Vorbereitung der Hauptverhandlung

Jun 21, 2022

Am 08.06.2022 war RA Honecker Gastdozent im Rahmen der FU Law Clinic „Praxis der Strafverteidigung“. Gegenstand seines Vortrages war die Vorbereitung auf die Hauptverhandlung aus Verteidigersicht.

Den Teilnehmenden stand vor Beginn der Veranstaltung ein Auszug aus einer Ermittlungsakte zur Verfügung. Mandant war L, der des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln nach §§ 1, 3 I Nr. 1, 29 I Nr. 3 BtMG, §§ 1, 3 JGG beschuldigt wurde. Die Ermittlungen gegen L wurden aufgrund eines Vorfalls am 05.07.2020 eingeleitet. Eine Freundin des L, Ilana, war aus dem Fenster im 1. OG der elterlichen Wohnung gesprungen und zog sich dabei schwere Verletzungen zu. Der Sprung war Folge von Halluzinationen und Angstzuständen, verursacht durch den Konsum von LSD. Ilana hatte das LSD dem Beschuldigten L - nach ihrer polizeilichen Aussage - einige Tage zuvor (am 03.07.2020) von ihm unbemerkt weggenommen. An diesem Tag trafen sich Ilana und ihre Freundin Rosa in der Wohnung des gemeinsamen Freundes L, die er mit seiner Mutter bewohnt. Die Drei tranken gemeinsam Alkohol. Im Laufe des Abends habe L Rosa und Ilana LSD zum Konsum angeboten, was beide ablehnten. Dabei äußerte er auch, dass er LSD an weitere Personen verkauft habe, ohne sonstige Abläufe des Verkaufs zu nennen. Außerdem nahm Ilana noch ein Tütchen Cannabis in geringen Mengen bei L wahr. Anhand des konkreten Sachverhalts sollte den Teilnehmenden nicht nur die Verteidigersicht praxisnah illustriert werden, sondern auch ein Gespür für die Bedürfnisse des Mandanten vermittelt werden.

Dafür sollten sich die Teilnehmenden zunächst in den Mandanten L hineinversetzen und herausfinden, welche Sorgen und Ängste er wohl hat. Die meisten Mandanten, gegen welche Anklage erhoben wurde, befürchten die Verurteilung zu einer Strafe. Insbesondere die Angst davor, zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, tritt stark hervor. Daneben hat jeder Angeklagte individuelle Sorgen, die von der konkreten Situation abhängen. Im Fall des L spielen vor allem soziale als auch berufliche Ängste eine Rolle. Während eine mögliche Stigmatisierung im sozialen (Freundes-) Umfeld des L eher nicht problematisch erscheint, ist die Sorge darum im familiären Bereich größer. Auch potenzielle mediale Stigmatisierung spielt für L eine nicht unerhebliche Rolle. Der Prozess soll vor dem Amtsgericht Neuruppin geführt werden und ist für die lokale Berichterstattung vermutlich interessanter, als es der gleiche Prozess vor dem Amtsgericht Tiergarten für die in Berlin ansässigen Medien wäre. Diese Sorge könnte relativiert werden, wenn für die Hauptverhandlung ein Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 48 I JGG möglich ist. Das Verfahren soll zwar vor dem Jugendgericht geführt werden, zum Alter des L war den Teilnehmenden allerdings keine genauen Angaben bekannt, daher konnte nicht zuverlässig beurteilt werden, ob ein Ausschluss der Öffentlichkeit in Frage kommt. Auch in beruflicher Hinsicht könnten den L negative Folgen treffen. Da eine Verurteilung unter Umständen eine Eintragung in ein einschlägiges Register nach sich zieht, kann sich das negativ auf künftige Einstellungschancen des L auswirken. Nicht zu vergessen ist die Freundschaft zu Rosa und Ilana. Gegenüber Ilana hat L wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte das für den Sturz ursächliche LSD vermutlich von ihm. Da ein Strafprozess auch Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen hat, steht auch ein Ende der Freundschaft zu Rosa und Ilana im Raum. Ebenfalls kann die Möglichkeit eines Adhäsionsverfahrens (§ 403 StPO) L belasten. Wenn Ilana von L Schadensersatz für die erlittenen Verletzungen verlangt, kommen finanzielle Belastungen hinzu.

Die Teilnehmenden sollten sich auch mit der Frage beschäftigen, ob eine Kontaktaufnahme zu Rosa und Ilana erlaubt und darüber hinaus auch sinnvoll ist. Grundsätzlich ist eine Kontaktaufnahme zu Zeugen, auch zu Belastungszeugen, erlaubt. Besonders die dabei mögliche Beweissammlung kann sich bereits im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren positiv auf die Verteidigung des Mandanten auswirken. Aus Verteidigersicht sind dabei aber einige Dinge zu beachten. An erster Stelle gilt es, Zeugen nicht zu beeinflussen und die Grenze des § 258 StGB (Strafvereitelung) nicht zu überschreiten. Wenn L an seinen Verteidiger mit dem Wunsch, zu Ilana Kontakt aufzunehmen, herantritt, ist er ebenso darüber zu informieren, dass er Ilana nicht beeinflussen darf. Während L das Recht hat, in der Hauptverhandlung nicht auszusagen und sogar zu lügen (§§ 136 I 2, 243 V 1 StPO), hat Ilana das Recht nicht. Wird sie von L beeinflusst und entscheidet sich zu lügen, kann sie sich gem. §§ 153, 154 StGB strafbar machen. Allerdings kann die Kontaktaufnahme zu Ilana die finanziellen Sorgen des L ausräumen, da er von ihr erfahren kann, ob sie von ihm Schadensersatz verlangen will. Auch eine Kontaktaufnahme zu Rosa ist für die Verteidigung interessant. Denn bisher belastet lediglich Ilana den Mandanten. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass Rosa eine Aussage trifft, die für L günstiger ist, allerdings ist hier ebenfalls eine Beeinflussung zu vermeiden.

Während dieser Diskussion wurde die Frage laut, ob es eine geeignete Verteidigungsstrategie wäre, die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin Ilana zu untermauern. Zu beachten ist dabei die Rolle des Gerichts, denn die Art und Weise der Verteidigung kann dem Mandanten durchaus zum Nachteil reichen. Was wird das Gericht dabei denken, wenn die Verteidigung die Zeugin diskreditiert? Sollte sich die Verteidigungsstrategie als falsch herausstellen (Ilana hat doch die Wahrheit gesagt), würde Ilana während des Verfahrens re-traumatisiert. Im Übrigen befindet das Gericht in der Regel über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen selbst. Da sich Ilana durch ihre belastende Aussage selbst der Strafverfolgung aussetzt, sie hat das LSD schließlich auch besessen, erscheint es für das Gericht naheliegend, dass sie wahrheitsgemäß ausgesagt hat. Auch aus Sicht den Mandanten erscheint es wenig sinnvoll diese Strategie zu fahren, da so die Freundschaft zwischen ihm, Ilana und Rosa zerstört werden kann. Überdies ist zu fragen welcher Geschehensablauf dem Gericht plausibel erscheint. Ist es naheliegender, dass Ilana – aus welcher Motivation heraus auch immer – dem L mit ihrer Aussage Schwierigkeiten bereiten möchte oder dass L im Zuge jugendlichen Leichtsinns geringe Mengen Drogen konsumiert und diese nun mal bei ihm zu Hause offen herumliegen? RA Honecker verwies daher auf einen anderen, ergebnisorientierten Ansatzpunkt, der ebenso wichtig für die Arbeit eines Strafverteidigers ist: welche strafrechtlichen Folgen stehen für den Mandanten überhaupt im Raum (vorliegend Jugendmaßregeln nach § 5 JGG)? Können durch schlichte Beantwortung dieser Fragen nicht schon die Sorgen des Mandanten ausgeräumt werden?

Quintessenz des Vortrags sollte es sein, den Teilnehmenden ein realitätsnahes Bild eines Strafverfahrens zu zeichnen. Während das Studium zwar auf mannigfaltige, aber abstrakte, Sachverhaltskonstellationen, sowohl in materiell- als auch prozessrechtlicher Hinsicht vorbereitet, gerät dabei eines leicht aus dem Blick: Strafverfahren betreffen reale Menschen mit real existierenden Sorgen. Diesen Aspekt wollte RA Honecker den Teilnehmenden vermitteln, indem er den Blick dafür schärfte, dass (erfolgreiche) Strafverteidigung auch bedeutet, die Sorgen eines Menschen, ernst zu nehmen, aufzugreifen und darauf zu reagieren.