Springe direkt zu Inhalt

Verfassungskonforme Schweinhaltung?

Im Jahr 2020 bildete sich in Berlin eine Regierung unter Beteiligung der Partei „Tiergerechtigkeit“ (TP). Ein zentrales Wahlkampfversprechen der TP-Senatsmitglieder bestand darin, sich in Berlin und deutschlandweit verstärkt für das Tierwohl einzusetzen und die Massentierhaltung strenger zu reglementieren. Die Mitglieder des Senats vertreten insbesondere die Auffassung, dass die moderne Massentierhaltung in vielfacher Hinsicht weder mit den Zielen des Tierschutzgesetzes noch mit dem Staatsziel Tierschutz des Grundgesetzes vereinbar ist. Insbesondere halten sie die sog. Kastenstandhaltung von Schweinen für verfassungswidrig.

Die Kastenstandhaltung bezeichnet die Haltung weiblicher Schweine (Sauen) in einem metallenen Käfig. Zunächst werden Sauen im sog. Deckzentrum für etwa einen Monat in einem solchen Kastenstand gehalten (Kastenstandhaltung im Deckzentrum). Aus Sicht der Landwirte können so mehr Sauen auf einer geringeren Fläche gehalten werden, wodurch sich die Kosten senken lassen. Zudem erleichtert sie dem Personal den Zugang zu den Tieren, etwa zur Durchführung künstlicher Besamungen oder zur Verabreichung von Medikamenten. Die Kastenstände sind dabei bewusst so eng gestaltet, dass sich die Sauen nicht umdrehen können, um eine Verunreinigung des vorne angebrachten Futtertrogs mit Exkrementen zu verhindern. Aufgrund der Enge können sich ausgewachsene Sauen zwar seitlich hinlegen, jedoch nicht arttypisch mit zur Seite ausgestreckten Beinen. Mehrere Studien legen nahe, dass Schweine nur in der seitlichen Schlaflage mit ausgestreckten Beinen in den Tiefschlaf fallen und das Schlafbedürfnis der Schweine in der Kastenstandhaltung erheblich eingeschränkt wird.

Etwa eine Woche vor der Geburt der Ferkel, wird die trächtige Sau erneut in einen Kastenstand verbracht, wo sie bis zu fünf Wochen verbleibt und dort sowohl die Ferkel gebärt als auch säugt (Kastenstandhaltung im Abferkelbereich). Nach der Geburt der Ferkel („Abferkeln“) soll die Kastenstandhaltung verhindern, dass Ferkel durch die Sauen erdrückt werden. Tatsächlich gibt es ältere Studien, die zu dem Schluss kommen, die Kastenstandhaltung reduziere die Ferkelsterblichkeitsquote innerhalb der konventionellen Schweinetierhaltung, weil durch das geringe Platzangebot Ferkel erdrückt werden können. Allerdings kommen umfangreiche neuere Studien zu dem Ergebnis, dass die Kastenstandhaltung nur in den ersten fünf Tagen die Ferkelsterblichkeitsrate reduziert, danach zeige sich kein signifikanter Unterschied zur freieren Haltung der Sauen in einer Abferkelbucht. Bei der Haltung der Schweine in naturnaher Umgebung mit ausreichend Raum liegt die Sterblichkeitsrate deutlich niedriger.

Insgesamt verbringen Sauen in der konventionellen Schweinehaltung 5-6 Monate pro Jahr in der Kastenstandhaltung (Deckzentrum + Abferkelbereich). Über diesen Zeitraum werden die Grundbedürfnisse der Tiere stark eingeschränkt. Dem natürlichen Trieb zum Nestbau und zum Beschnuppern der Ferkel kann die Sau nicht nachkommen. Häufig entwickeln die Schweine schwere Verhaltensstörungen, etwa das sogenannte Stangenbeißen, bei dem sie in die Gitterstäbe des Kastenstandes beißen, oder das sogenannte „Trauern“, bei dem sie sich auf die Hinterbeine setzen und den Kopf apathisch nach unten neigen. Typisch sind außerdem Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems infolge von Bewegungsmangel sowie Druckstellen und Hautverletzungen durch häufiges Liegen. In naturnaher Umgebung sind Schweine sehr reinliche Tiere, die ihren Schlafplatz klar von „Kotplätzen“ trennen. Innerhalb des Kastenstandes ist eine Trennung nicht möglich. Vielmehr fließen Kot und Urin über einen Spaltenboden in ein Auffangbecken direkt unterhalb der Sau. Die Kastenstandhaltung verlängert zudem den Geburtsvorgang bei Sauen um etwa zwei bis drei Stunden und damit auch die damit verbundenen Schmerzen.

Trotz dieser Nachteile ist die Kastenstandhaltung in Deutschland – anders als in einigen Nachbarländern, in denen teilweise bereits Verbote gelten – weit verbreitet. Die Tierschutznutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztVO) – eine durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) auf Grundlage des §2a Tierschutzgesetz (TierSchG) erlassene Rechtsverordnung – beinhaltete über lange Jahre zwar Anforderungen an die Kastenstandhaltung (etwa deren Mindestgröße), ging aber von deren grundsätzlicher Zulässigkeit aus.

Auf Grund des wachsenden Bewusstseins in der Bevölkerung für Tierwohlgesichtspunkte, hat sich das Bundesministerium für Landwirtschaft (BMEL) im Frühjahr 2021 allerdings dafür entschieden, die Kastenhaltung einzuschränken. Danach soll die Kastenstandhaltung im Abferkelbereich nur noch für insgesamt fünf Tage erlaubt sein. Eine Kastenstandhaltung im Deckbereich ist nicht mehr vorgesehen. Übergangsweise soll die bisherige Praxis – wie oben beschrieben – aber noch bis 2029 (Deckbereich) bzw. 2036 (Abferkelbereich) erlaubt sein.

Das BMEL möchte diese Reform der Verordnung möglichst schnell umsetzen, um den Landwirten Planungssicherheit zu ermöglichen. Direkt nachdem intern ein Änderungsvorschlag angenommen wurde, wird dieser dem Bundesrat zugeleitet. Erst nachdem der Bundesrat ordnungsgemäß zugestimmt hat, wird die nach § 16b TierSchG gebildete Tierschutzkommission informiert. In einer E-Mail mit dem Betreff „wichtige Informationen zur Reform der TierSchNutztVO“ wird der Kommission mitgeteilt, dass sie sich innerhalb einer Woche schriftlich zu dem Gesetzesentwurf äußern könne. Die Kommissionsmitglieder sehen sich innerhalb der kurzen Frist allerdings nicht in der Lage, substanziell zur Sache vorzutragen. Insofern verweist die Kommission darauf, dass aus ihrer Sicht die bloß informelle eingeräumte Möglichkeit zur Stellungnahme nicht dem gesetzlichen Anhörungserfordernis genüge. Das BMEL sieht darin kein wesentliches Verfahrenshindernis und nimmt die Änderungen der TierSchNutztVO wie geplant an.

Der Berliner Senat unter Beteiligung der TP hält dieses Vorgehen ebenso wie die materiellen Änderungen für unvereinbar mit dem Tierschutzgesetz und dem Grundgesetz. Nach seiner Auffassung ist bereits fraglich, ob die Verordnung auf einer verfassungskonformen und hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage beruht. Jedenfalls geht der Senat davon aus, dass die Verordnung den Rahmen der Ermächtigungsnorm überschreitet und das Tierwohl unangemessen einschränkt. Die Kastenstandhaltung unterdrücke über einen zu langen Zeitraum hinweg die Ausübung wesentlicher Grundbedürfnisse wie Hygiene, soziale Kontakte und Bewegung der Tiere. Die gewählten Übergangsfristen würden sich allein an wirtschaftlichen Interessen orientieren und seien im Hinblick auf das Tierwohl nicht verhältnismäßig. Es könne doch nicht sein, dass zur Abschaffung derart eklatant tierwohlwidriger Haltungsbedingungen eine so lange Übergangsfrist gelten solle. Wirtschaftliche Interessen seien im Rahmen einer Angemessenheitsprüfung nach § 2 TierSchG nicht zu berücksichtigen und würden auch keinen „vernünftigen Grund“ iSd § 1 S. 2 TierSchG darstellen.

Das BMEL meint dagegen, dass die wirtschaftlichen Interessen der Landwirte überwiegen. Ohne eine Übergangsregelung seien viele kleinere Höfe in ihrer Existenz bedroht. Zudem orientiere sich die Übergangsfrist an der betriebswirtschaftlich vorgegebenen Abschreibungspflicht für Stallanlagen, um es den Landwirten zu ermöglichen die Wertminderung der nicht mehr nutzbaren Kastenstände steuerlich abzusetzen. Das sei für Schweine und Landwirte eine „win-win“ Situation.

Davon lässt sich der Berliner Senat nicht überzeugen und beschließt beim Bundesverfassungsgericht zu beantragen, die Verfassungswidrigkeit der Tierschutznutztierverordnung (TiersSchNutztV) im Hinblick auf die Kastenstandhaltung festzustellen. Der entsprechende Antrag geht dem Bundesverfassungsgericht im Sommer 2021 ordnungsgemäß in Schriftform zu und ist ausführlich begründet.

Im Frühjahr 2023 finden in Berlin Neuwahlen statt. Danach ist die TP nicht mehr im Senat vertreten. Der neue Senat distanziert sich in öffentlichen Stellungnahmen vor Medienvertreter*innen ausdrücklich von dem Antrag der Vorgängerregierung und würde ihn am liebsten zurücknehmen. Zwar nehme man die kritischen Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur zur Kenntnis, die von einer Verfassungswidrigkeit der Kastenstandhaltung ausgehen, hält jedoch die aktuelle Rechtslage aufgrund der Reformen der TierSchutzNutztVO von 2021 nicht mehr für eklatant verfassungswidrig. Da man im BVerfGG allerdings keine Vorschrift zur Zurücknahme eines Antrags findet und den Imageschaden fürchtet, falls das Bundesverfassungsgericht die Zurücknahme ablehnt, bleibt man erstmal untätig.

 

Hat der Antrag des Berliner Senats Aussicht auf Erfolg?


© Markus Heintzen und Heike Krieger (Freie Universität Berlin)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Dr. Andreas Buser

 Stand der Bearbeitung: Mai 2025

 



Zur zuletzt besuchten Textpassage | Zum Seitenanfang