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Wem die Stunde schlägt (Kurzlösung)

 

Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg, wenn zulässig und begründet

 

A) Zulässigkeit

 

I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "jedermann")

„Jedermann“, wer Grundrechtsträger; katholische Kirchengemeinde St. Johannes = inländische juristische Person des öffentlichen Rechts à Grundrechträgerin, wenn Grundrechte "ihrem Wesen nach" (Art. 19 Abs. 3 GG) auf sie anwendbar; Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts im Einzelnen sehr umstritten

 

1. Beteiligtenfähigkeit im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

BVerfG: (+), Träger dieses grundrechtsgleichen Rechts nach BVerfG alle juristischen Personen, auch juristische Personen des öffentlichen Rechts

Grund: Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG formell kein Grundrecht im Sinne des Art. 19 GG, gewährt inhaltlich keine mit Art. 1 bis 17 GG vergleichbaren Individualrechte à für jedes gerichtliche Verfahren geltender objektiver Verfahrensgrundsatz; muss jedem Parteifähigen zugute kommen

- Beteiligtenfähigkeit öffentlich-rechtlicher juristischer Personen im Falle Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Ausdruck besonders strikter Gewaltenteilung im Verhältnis Exekutive - Judikative

 

2. Beteiligtenfähigkeit im Hinblick auf Art. 4 GG und Art. 14 GG

(P): Grundrechtsträgerschaft Kirchengemeinde bzgl. Art. 4 GG und Art. 14 GG

stRspr BVerfG: grds. keine Berufung öffentlich-rechtlicher juristischer Personen auf Grundrechte in Art. 1 bis 17 GG

Ausnahme: öffentlich-rechtlich verfasste Religionsgemeinschaften i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5

Argument: trotz Status öffentlich-rechtlicher Körperschaft keine Inkorporation in den Staat, Ableitung ihrer Aufgaben und Befugnisse nicht vom Staat, Geltendmachung von Rechten gegen Staat trotz besonderer Qualität möglich; Zweck des Status nicht Grundrechtsträgerschaftsentziehung, sondern Rechtsstellungsverbesserung (Vermittlung öffentlich-rechtlicher Befugnisse/ sonstiger Privilegien)

(P) Wesensmäßige Anwendbarkeit Art. 4 Abs. 1, 2 GG auf juristische Personen?

Allg. Meinung: grds. (-), Glaube, Religion, Weltanschauung nur natürliche Personen

BVerfG: Ausnahmsweise (+) für juristische Personen, deren Zweck Pflege/ Förderung religiösen Bekenntnisses oder Glaubensverkündung

Argument: Notwendigkeit umfassenden Schutzes der kollektiven Religionsfreiheit

 

3. Ergebnis zu I

Kirchengemeinde Trägerin aller als verletzt gerügten Grundrechte

II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Akt der öffentlichen Gewalt")

"Akt öffentlicher Gewalt" = alle Maßnahmen von vollziehender, gesetzgeberischer und rechtsprechender Gewalt.

Hier: Angriff gegen Land-/ Kammergerichtsbeschlüsse nach § 17a GVG + eigentliche Sachurteile dieser Gerichte; unzweifelhaft Akte der öffentlichen Gewalt à taugliche Beschwerdegegenstände

 

III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Behauptung, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")

 

1. Grundrechtsverletzung durch die im Verfahren nach § 17a GVG ergangenen Beschlüsse

 

a) Mögliche Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

(+), Verletzung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht von vornherein ausgeschlossen; beinhaltet Recht auf Klageverhandlung im zuständigen Gerichtszweig (vgl. § 13 GVG, § 2 ArbGG, § 40 VwGO, § 33 FGO, § 51 SGG)

Betroffenheit:

Selbst/ Unmittelbar (+)

Gegenwärtig: (+), nicht durch spätere Sachurteile überholt; Beschluss rechtskräftig (§ 17 Abs. 1, 5 GVG) à Bindungswirkung

 

b) Mögliche Verletzung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV

(P) Berufung auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV im Verfassungsbeschwerdeverfahren

Bestimmungen nicht in abschließender Aufzählung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG enthalten - Durchsetzung mittels VB nur, wenn „Grundrechte“ i.S. o.g. Bestimmungen

 

aa) Formeller Grundrechtsbegriff in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG

BVerfG: (-), Bestimmungen liegt formeller Grundrechtsbegriff zugrunde; ausdrückliche Unterscheidung zwischen "Grundrechten" und sog. grundrechtsgleichen Rechten à „Grundrechte" = nur Grundrechte des 1. Abschnitt des GG

- Verfassungsbeschwerdefähigkeit Art. 140 GG i.V.m. Weimarer Kirchenartikeln grds. (-)

 

bb) Möglichkeiten erweiternder Auslegung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG

A.A.: erweiternde Auslegung Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG auf Art. 140 GG i.V.m. den Weimarer Kirchenartikeln möglich

Argumente: Durchsetzbarkeit aller in Verfassung verbürgten subjektiv-öffentlichen Einzelrechte mittels VB

Vereinfachung der Begründetheitsprüfung der VB à „Umgehungskonstruktionen“ des BVerfG entbehrlich

Gegenargumente: Unvereinbarkeit mit geltendem Verfassungsprozessrecht; enumerative Aufzählung der rügbaren Rechte in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; Subjektiv-öffentliche Rechte in Art. 140 GG i.V.m. den Weimarer Kirchenartikeln nicht die einzigen GG-Rechte, die nicht mittels VB durchsetzbar (vgl. Art. 21, 34GG, wohl auch Art. 102 GG) Nichtaufnahme Art. 140 GG keine systemfremde Ausnahme

- „teleologische Extension“ (-)

 

cc) Ergebnis zu b

Berufung auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV (-)

 

c) Mögliche Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

BVerfG: Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG einheitliches Grundrecht: Schutz der Freiheit, einen Glauben, eine Religion oder Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und entsprechend zu handeln.

Hier: kein Verbot durch Gerichtsbeschlüsse, nur verbindliche Feststellung der Zulässigkeit des ordentlichen Rechtswegs

Verletzung Art. 4 GG durch Beschlüsse insoweit von vornherein ausgeschlossen

Allerdings: Beschlüsse begründen Zuständigkeit ordentlicher Gerichte trotz Stellung als öffentlich-rechtliche juristische Person mit Bindung der Kirchengemeinde an Privatrecht jedenfalls im Verhältnis zu Nichtmitgliedern

- Verletzung Art. 4 GG möglich, wenn Konkretisierung Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV à über Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV Grundrecht öffentlich-rechtlich verfasster Religionsgesellschaften aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, nach dem ihre Handlungen Verhältnis zu Dritten nach öffentlichem Recht (bzw. nicht nach Privatrecht) beurteilt werden

BVerfG: Art. 140 GG i.V.m. Weimarer Kirchenartikeln konkretisiert Art. 4 GG

- èAnspruch öffentlich-rechtlich verfasster Religionsgemeinschaften auf Freistellung von privatrechtlichen Bindungen (auch des Nachbarrechts) gegenüber Dritten nicht von vornherein ausgeschlossen; Möglichkeit der Verletzung von Art. 4 GG durch Land-/Kammergerichtsbeschlüsse (+)

(P) unmittelbare Beschwer

Frage des öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen Nachbar und Kirchengemeinde, nur Vorfrage für die Abgrenzung der Rechtswege; zwar entscheidungserheblich (vgl. § 13 GVG, § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO), an sich aber materielle Rechtsfrage, prozessuale Rechtsfolgen nur durch o.g. Bestimmungen à Bindungswirkung der Beschlüsse gilt nicht für materielle Rechtsfrage à kein Verweis an VwGericht bei unrichtigem Beschluss, aber materielle Prüfung anhand öffentlich-rechtlicher Normen durch Zivilgericht

- keine zwingende Anwendung materiellen Privatrechts durch Beschlüsse  im Sachentscheidungsverfahren à unmittelbare Beschwer (-)

- Beschwerdebefugnis gegen Beschlüsse aufgrund möglicher Verletzung Art. 4 GG (-)

 

d) Mögliche Verletzung des Art. 14 GG

(-), Beschlüsse äußern sich nicht über Verwendung der Kirchenglocken à kein Eingriff in Recht zur Eigentumsnutzung

 

e) Ergebnis zu 1

Kirchengemeinde allein bzgl. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beschwerdebefugt

 

2. Grundrechtsverletzung durch die Endurteile des Landgerichts und des Kammergerichts

- Beschwerdebefugnis unmittelbar aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV scheidet aus (s. A III 1 b)

 

a) Mögliche Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

(-), aufgrund Bindungswirkung der Beschlüsse (s. A III 1 a) Gerichte im Sachentscheidungsverfahren gesetzliche Richter (§ 17a GVG); keine Missachtung durch Land-/ Kammergericht

 

b) Mögliche Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

in zweifacher Weise möglich:

·  Untersagung nächtlichen Zeitschlagens = möglicherweise Verkennung der Bedeutung/ Reichweite Religionsausübungsfreiheit durch Gericht (Zeitschlagen evtl. doch Religionsausübung, evtl. auch gewichtiger als Interesse Mikaelsons)

·  Rechtsverhältnis Kirchengemeinde – Miaelson nicht öffentlichem Recht unterstellt

Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit (+)

 

c) Mögliche Verletzung des Art. 14 GG

Verletzung Art. 14 GG durch Nutzungsuntersagung (§ 1004 i.V.m. § 906 BGB)?

(+) bei Zugrundelegung der sog. „Adressatentheorie“ aus Verwaltungsprozessrecht, Übertragung auf Verfassungsprozessrecht aber (-)

Argumente: BVerfG sonst „Superrevisionsinstanz“ à nur Prüfung spezifischer Verfassungsrechtsverletzung (Verkennung der Bedeutung/ Reichweite eines Grundrechts bzw. willkürliches Handeln)

Hier: spezifische Verfassungsrechtsverletzung bzgl. Art. 14 GG (-), Kirchengemeinde rügt nur fehlerhafte Auslegung einfachen Rechts; fehlerhafte Anwendung § 906 BGB à keine spezifische Verletzung Art. 14 GG

- Beschwerdebefugnis bzgl. Art. 14 GG (-)

 

d) Ergebnis zu 2

Bzgl. Endurteile LG und KG Berlin Kirchengemeinde nur aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beschwerdebefugt

 

3. Ergebnis zu III

Beschwerdebefugnis bzgl. Beschlüsse gem. § 17a GVG aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, bzgl. Sachurteile aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

 

IV. Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) und "Subsidiarität" der Verfassungsbeschwerde

Rechtsweg zu BGH mangels KG-Zulassung (-) à Rechtsweg gegen § 17a-Beschlüsse und Endurteile LG/ KG erschöpft.

VB subsidiär?

(-), Kirchengemeinde alles ihr Mögliche getan - Einlegung offensichtlich unzulässiger Revision bzw. Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH unzumutbar, da aussichtlos; Berufung auf Unzulässigkeit des Rechtswegs auch nach Abschluss § 17a GVG-Verfahrens

 

V. Frist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG)

Fristlauf beginnt mit Zustellung, Verkündung oder Bekanntgabe letztinstanzlicher Entscheidung - (+) bzgl. LG- und KG-Sachurteil

(P) Fristbeginn für § 17a GVG-Verfahrensbeschlüsse àMaßgeblichkeit der Zustellung KG-Endurteil?

 

1. Allgemeine Grundsätze zum Fristablauf bei sog. "Zwischenentscheidungen"

BVerfG: sog. "Zwischenentscheidungen" nicht selbstständig mit VB angreifbar, da keine Rechtswegerschöpfung - Wenn § 17a GVG-Beschlüsse „Zwischenentscheidungen“ i.d.S. kein Angriff mit VB vor Ergehen Berufungsurteil - Fristbeginn mit Zustellung KG-Urteil

 

2. Argumente für einen Fristablauf hinsichtlich der im Vorabentscheidungsverfahren nach § 17a GVG getroffenen Beschlüsse

Rechtsweg bei Zwischenentscheidungen nur dann nicht erschöpft, wenn Verfassungsverstoß durch Rüge der Endentscheidung ausräumbar. Bei Verfahrensabschluss durch Zwischenentscheidung keine Mängelbehebung in Endentscheidung à VB unmittelbar gegen Zwischenentscheidung zulässig

Hier: Verfahrensabschluss durch § 17a GVG-Beschlüsse; Zulässigkeit des Rechtswegs wg. Bindungswirkung nicht mehr rügbar.

- spricht für Fristbeginn nach Zustellung letztinstanzlicher Beschwerdeentscheidung, nicht Zustellung letztinstanzliches Urteil à VB gegen § 17a GVG-Beschlüsse wegen Fristablaufs unzulässig

 

3. Argumente gegen einen Fristablauf hinsichtlich der im Vorabentscheidungsverfahren nach § 17a GVG getroffenen Beschlüsse

Möglichkeit des Angriffs der Beschlüsse zusammen mit eigentlicher Sachentscheidung ebenfalls vertretbar

Argumente: Erst nach Sachentscheidungserlass erkennbar, ob Bf. Durch Verfahrensergebnis insgesamt materiell beschwert; für Ziel der Entlastung BVerfG Erfordernis des Angriffs der Zwischenentscheidung vor Endentscheidung kontraproduktiv

 

4. Ergebnis zu V

zuletzt dargestellter Auffassung wird gefolgt - VB gegen alle Entscheidungen fristgemäß

 

VI. Verfahrensfähigkeit

(+), Kirchenvorstand Vertreter der Kirchengemeinde

 

VII. Ergebnis zu A

Verfassungsbeschwerde zulässig

 

B) Begründetheit

(+), wenn Kirchengemeinde durch LG-/KG-Urteile und § 17a GVG-Beschlüsse in Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG bzw. grundrechtsgleichem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt ist.

 

I. Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i.V.m. Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 5 WRV durch Anwendung des Privatrechts

(+), wenn aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG i.V.m. Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 5 WRV Grundrecht öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften auf Beurteilung ihrer Handlungen im Verhältnis zu Dritten nach öffentlichem Recht (s. A III 1 c und A III 2 b).

Keine ausdrückliche BVerfG-Entscheidung; Kontroverse in Lit./ Rspr., ob aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV solches Recht und ob es von Art. 4 Abs. 1, 2 GG umfasst

 

1. Anwendbarkeit des öffentlichen Rechts als zwingende Folge des verfassungsrechtlichen Rechtsstatus öffentlich-rechtlich verfasster Religionsgesellschaften

BVerwG: (+) aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV à Anwendung privaten Nachbarrechts = Verfassungsverstoß

Argument: besonderer Status liefe leer, wenn keine Anwendung öffentlichen Rechts auf Handlungen, sonst kein Unterschied zu beliehenen Unternehmern

 

2. Unabhängigkeit des Handlungsformenrechts vom Organisationsrecht

Literatur:  Handlungsformenrecht vom Organisationsrecht unabhängig - besondere Anhaltspunkte für ausschließliche Anwendung öffentlich-rechtlicher Rechtssätze auf Rechtsverhältnis à Frage der Geltung des privaten Nachbarrechts damit Frage des einfachen Rechts

 

3. Zusammenhang zwischen Art. 137 Abs. 5 WRV und Art. 4 Abs. 1 GG

Im Ergebnis (-), keine Konkretisierung Art. 4 Abs. 1, 2 GG durch Art. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV - kein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften auf Freistellungen von  Bindungen des privaten Nachbarrechts

Argument: BVerfG Konkretisierung Art. 4 GG durch WRV bisher nur bei Rechten, die vom Status der Religionsgesellschaft unabhängig, angenommen; keine Herleitung von Rechten aus Art. 4 1, 2 GG aufgrund des öffentlich-rechtlichen Status der Religionsgemeinschaften

- keine Differenzierung in Art. 4 GG nach Grundrechtsträgern, Sonderrechte für einzelne Religionsgesellschaften mit Wortlaut unvereinbar

 

4. Ergebnis zu I

Aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kein Grundrecht öffentlich-rechtlich verfasster Religionsgesellschaften auf Beurteilung des Verhältnisses zu ihren Nachbarn nach öffentlich-rechtlichen Rechtsgrundsätzen à keine Verletzung durch LG-/KG-Urteile möglich

 

II. Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wegen Untersagung des Zeitschlagens

(+), wenn das Zeitschlagen mittels Kirchturmuhr im Schutzbereich des Grundrechts, das Verhaltensverbot in Grundrecht eingreift und Eingriff nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen

 

1. Schutzbereich

BVerfG: Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG einheitliches Grundrecht; Schutz der Freiheit, einen Glauben, eine Religion oder Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und entsprechend zu handeln (s. A III 1 c); allerdings nur Handeln mit religiösem Bezug im Schutzbereich à Schutz aller glaubensgeleiteten Handlungen

(P) Zeitschlagen zur Nachtzeit glaubensgeleitete Handlung?

 

a) Maßgeblichkeit objektiver Kriterien

e.A.: (-), Kirchturmuhrschlag nach objektiven Kriterien keine religiöse Bedeutung mehr

Wahrung einer Tradition – ungeachtet kirchlichen Selbstverständnisses als Hinweis auf Zeitlichkeit des Menschen; nicht anders als Zeitläuten aus Rathausturm; nur profane Nebenaufgabe der Kirche

Überzeugt, wenn Religionsgesellschaft selbst Zeitschlagen nicht als glaubensgeleitet ansieht

 

b) Maßgeblichkeit der Einschätzungen des Grundrechtsträgers

(P), wenn Grundrechtsträger von glaubensgeleiteter Handlung ausgeht; keine Staatsfreiheit der Religionsausübung, wenn staatliche Definition der Religionsausübung; allerdings auch keine alleinige Definitionskompetenz des Grundrechtsträgers à sonst Religionsfreiheit in seiner Disposition

- BVerfG: (+), wenn Handlung nach tatsächlichem Gehalt und äußeren Erscheinungsbild glaubensgeleitet

Hier: Glaubensgeleitete Handlung aus Pfarrgemeinderatsbeschluss à religiöser Zweck Zeitschlagen plausibel

 

c) Maßgeblichkeit der Auffassung der örtlichen Glaubensgemeinschaft

(P) Kein katholisches Kirchendokument zur religiösen Bedeutung Uhrenschlagens à Auffassung der Religionsgemeinschaft oder der örtlichen Kirchengemeine maßgeblich?

BVerfG: örtliche Kirchengemeinde, wenn im Rahmen Religionsgesellschaft Raum für eigenen Glaubensüberzeugungen/ (lokale) Sichtweisen (vgl. Art. 214 CIC)

 

d) Ergebnis zu 1

Zeitschlagen ist glaubensgeleitete Handlung à Schutzbereich Art. 4 Abs. 1, 2 GG eröffnet

 

2. Eingriff

(+), Untersagung einer geschützten Handlung durch LG-/KG-Urteile

 

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs

 

a) Verfassungswidrigkeit wegen Fehlens einer Rechtsgrundlage für Grundrechtseingriffe?

Materiellrechtliche Grundlage des Unterlassungsurteils § 1004 BGB i.V.m. § 906 BGB àBestimmungen zweifellos verfassungsmäßig

(P): Tauglichkeit der Normen aus privatrechtlichem Nachbarrecht als Rechtsgrundlage für Eingriffe in Art. 4 Abs. 1, 2 GG

(-), bei Annahme eines verfassungsrechtlichen Rechts öffentlich-rechtlich verfasster Religionsgesellschaften auf Beurteilung nach öffentlichem Recht im Verhältnis zu Nachbarn aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV (s. B I)

(+), wenn Privatrechtsausschluss nur nach einfachem Recht à bloßer Rechtsanwendungsfehler (s. A III 2 c)

 

aa) Argumente für eine verfassungsrechtliche Verankerung der Anwendbarkeit des öffentlich-rechtlichen Nachbarrechts auf öffentlich-rechtliche verfasste Religionsgesellschaften

- RG ging in Urteil v. 19.11.1903 bei Abwehrklage gegen Kirchenglockenläuten von ausschließlicher Maßgeblichkeit öffentlichen Rechts aus àVerfassungsrechtliche Absicherung dieses Aspekts in Art. 137 Abs. 5 WRV durch Verfassungsgeber v. 1919, durch Art. 140 GG auch im GG

- aus Art. 137 Abs. 5 WRV: Befähigung zur Widmung liturgischer Gegenstände (auch Kirchenglocken) à Geltung öffentlichen Sachenrechts = keine Anwendung privaten Nachbarrechts

 

bb) Argumente gegen eine verfassungsrechtliche Verankerung der Anwendbarkeit des öffentlich-rechtlichen Nachbarrechts auf öffentlich-rechtliche verfasste Religionsgesellschaften

- keine präzise Aussage zum Anwendungsbereich des Privatrechts aus Art. 137 Abs. 5 WRV und Art. 140 GG - Normen hatten „Kompromisscharakter“

- öffentliches Sachenrecht nach heutiger Dogmatik keinen besonderen kirchenschützenden Inhalt mehr; Folge der Anwendung öffentlichen Sachenrechts à früher: Freiheit von privatrechtlichen Bindungen (kein nachbarlicher Unterlassungsanspruch); heute: Unterwerfung des Sachherrn unter öffentlich-rechtliche Bindungen, insb. Grundrechte (vgl. auch Hamburger-Stadtsiegel-Fall)

- keine materiell-rechtlichen Nachteile bei Unterwerfung der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft unter privates Sachen-/Nachbarrecht - keine Rechtfertigung für Ableitung eines o.g. Rechts aus Art. 137 Abs. 5 WRV

 

cc) Ergebnis zu a

aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV kein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht öffentlich-rechtlich verfasster Religionsgesellschaften auf Beurteilung nach öffentlichem Recht im Verhältnis zu Nachbarn - nur einfacher Rechtsanwendungsfehler, Grundrechtsverletzung (-)

 

b) Verfassungswidrigkeit wegen Nichteinschränkbarkeit des Grundrechts?

Verletzung Art. 4 GG, wenn Eingriff schlechthin verboten à kein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt in Art. 4 Abs. 1, 2 GG, aber mglw. aus Art 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV: Verständnis als Vorbehalt „allgemeiner Gesetze“?

 

aa) Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Art. 4 GG

Argument für Verständnis: WRV-Bestimmungen in Art. 140 GG vollgültiges Verfassungsrecht, gleicher Rang wie andere GG-Bestimmungen; Leerlaufen des Art. 136 Abs. 1 WRV

 

bb) Auffassung des BVerfG

BVerfG: Art. 4 GG überlagert Art. 136 Abs. 1 WRV

Argumente: Wortlaut/ systematischen Stellung des Art. 4 GG à bewusste Herauslösung aus Zusammenhang mit Kirchenartikeln; Bezugnahme auf Art. 136 WRV in Art. 140 GG muss im Lichte erweiterter Bedeutung/ Tragweite der Glaubens-/Gewissensfreiheit im GG gesehen werden

 

cc) Streitentscheidung

allg. Ansicht: Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte durch verfassungsimmanente Grundrechtsschranken

- auch ohne Art. 136 Abs. 1 WRV Eingriff in Art. 4 GG möglich; Eingriff muss Rechtsgut mit Verfassungsrang schützen

- BVerfG zu folgen:

 

(1) Fehlen eines Verweises auf Art. 135 WRV

Keine Verweisung auf eigentliche Religionsfreiheit in Art. 135 WRV und dessen Gesetzesvorbehalt in Art. 135 Satz 3 WRV durch Art. 140 GG ; Art. 136 Abs. 1 WRV eher Diskriminierungsverbot

kein „Überstülpen“ heutiger Grundrechtsdogmatik mit differenzierter Schrankendogmatik über WRV-Texte - heute andersartige Konzeption der unmittelbaren Grundrechtsgeltung auch gegenüber Gesetzgeber

 

(2) Bedeutung der Entstehungsgeschichte

Text des Art 4 GG bereits vor Inkorporationsbeschluss bzgl. Art. 136ff. WRV in GG feststehend - keine besondere Anhaltspunkte für Einschränkung durch Art. 136 Abs. 1 WRV

 

dd) Ergebnis zu b

Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 Abs. 1 WRV (-) à Einschränkung nur aufgrund verfassungsimmanenter Schranken

 

c) Verfassungswidrigkeit wegen Verkennung der Bedeutung des Art. 4 GG im Nachbarrecht

Eingriffe nur zum Schutz der Grundrechte Dritter oder sonstiger verfassungsrechtlich anerkannter Werte zulässig à Auslegung § 906 BGB: Untersagung Glockenläuten nur zum Schutz der Grundrechte des gestörten Nachbarn zulässig

 

aa) Mögliche Gebotenheit des Eingriffs zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit

Untersagung glaubensgeleiteter Handlungen zum Schutz der durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten körperlichen Unversehrtheit Dritter anerkannt; keine "Kultusabschläge" zu Lasten der Nachbarn

Hier: Kein Überschreiten maßgeblicher Geräusch-Grenzwerte, keine Gesundheitsbeeinträchtigung der Mikaelson durch nächtlichen Glockenschlag

 

bb) Mögliche Gebotenheit des Eingriffs zum Schutz der negativen Religionsfreiheit

Auch Schutz der Nichtzugehörigkeit zu bestimmten Glauben/ Weltanschauung durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, aber kein allgemeines Recht auf Schutz vor jeglicher fremden Glaubensbekundung/ kultischen Handlung, da sonst positive Gewährleistung unmöglich; nur Schutz vor staatlich erzwungener Vornahme glaubensrelevanter Handlungen

Hier: (-), keine Zurechnung des „glaubensgeleiteten Glockenläutens“ zum Staat à wie auch immer geartete staatliche Pflicht zur Untersagung nicht im Schutzbereich der negativen Religionsfreiheit

- Untersagung Uhrenschlagens zum Schutz der negativen Religionsfreiheit nicht geboten à keine Rechtfertigung der Grundrechtseinschränkung

 

cc) Mögliche Gebotenheit des Eingriffs zum Schutz des Eigentums und der allgemeinen Handlungsfreiheit

Rechtfertigung aus Bedürfnis nach ruhigem Nachtschlaf und Interesse am Grundstückswerterhalt?

(-), keine stärkere Begrenzung glaubensgeleiteten Handelns als nicht-glaubensgeleiteten Handelns; keine Untersagung glaubensgeleiteten Glockenläutens aufgrund der Glaubensleitung; keine Hinzufügung eines „Lästigkeitszuschlags“ bei Einhaltung der Lärmimmissionsgrenzen, Grenzen sachgemäßes Ergebnis der Abwägung unterschiedlicher nachbarlicher Interessen à sonst Diskriminierung des Religionsausübenden

- Rechtfertigung der Untersagung durch Eigentumsschutz und allgemeine Handlungsfreiheit (-)

 

dd) Ergebnis zu c

Untersagung nicht zum Schutz Grundrechte Dritter/ anderer anerkannter Verfassungswerte geboten - Verkennung der Bedeutung/ Reichweite der Religionsfreiheit in LG-/KG-Urteilen

 

d) Ergebnis zu 3

- keine Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs in Art. Art. 4 Abs. 1, 2 GG

 

4. Ergebnis zu II

Verletzung Art. 4 Abs. 1, 2 GG (+)

 

III. Grundrechtsverletzung durch Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter

 

1. Schutzbereich

Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG = insb. Recht auf den gesetzlich zuständigen Richter - auch Recht auf richtige Rechtswegabgrenzung (s. A III 1 a).

 

2. Eingriff

BVerfG: nur bei willkürlich unrichtiger Anwendung der Zuständigkeitsvorschrift durch Gericht

Argument: ansonsten BVerfG Superrevisionsinstanz

Hier: Willkürliches Handeln des LG/ KG?

·  Frage des Rechtswegs bei Glockenläuten öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften sehr umstritten à Übernahme bestimmter Literaturansicht keine willkürliche Anwendung

·  Willkürlicher Eingriff nur (+), wenn aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV verfassungsrechtliche Garantie des Verwaltungsrechtswegs bei Glockenstreitigkeiten öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften - „Verstärkung“ des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

(-), da aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV kein Recht der öffentlich-rechtlicher Kirchengemeinden auf Beurteilung nach öffentlichem Recht (s. B I und B II 3a) à damit auch keine Garantie des Verwaltungsrechtswegs

- kein willkürliches Handeln der Gerichte - Eingriff (-)

 

3. Ergebnis zu III

Verletzung Art .101 Abs. 1 Satz 2 GG durch § 17a GVG-Beschlüsse (-)

 

IV. Ergebnis zu B

VB begründet, soweit gegen LG-/KG-Endurteile gerichtet; unbegründet, soweit gegen § 17a GVG-Beschlüsse gerichtet

 

C) Gesamtergebnis

VB gegen alle angegriffenen Entscheidungen zulässig, aber nur bzgl. LG-/KG-Endurteile begründet

- Zurückweisung der VB hinsichtlich § 17a GVG-Beschlüsse, ansonsten Feststellung der Verletzung von Art. 4 Abs. 1, 2 GG durch LG-/KG-Urteile à Urteilsaufhebung und Zurückverweisung (wohl KG), bei neuer Entscheidung an Rechtswegentscheidung gebunden


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