Springe direkt zu Inhalt

Todesstrafe (Kurzlösung)

 

Erster Teil: Verfassungsbeschwerde des Rüdiger Kunstinnig-Deinhaus

- Verfassungsbeschwerde des Rüdiger Kunstinnig-Deinhaus hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

 

A.  Zulässigkeit

- zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt sind.

 

I. Zuständigkeit des BVerfG gem. Art- 93 I Nr. 4a iVm §§ 13 Nr. 8a, 90ff BVerfGG

 

II. Beschwerdefähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „jedermann“)

- (+)Kunstinnig-Deinhaus kann Grundrechtsträger sein und ist damit „jedermann“

 

III. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Akt der öffentlichen Gewalt“)

- (+) Akte öffentlicher Gewalt sind Maßnahmen von vollziehender, gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt; Kunstinnig-Deinhaus wendet sich gegen zwei Urteile; nach BVerfG muss Beschwerde bei mehreren in derselben Sache ergangenen Entscheidungen nicht ausschließlich die letztinstanzliche Entscheidung angreifen

 

IV. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Behauptung, in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104  GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein“)

- Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte von Kunstinnig-Deinhaus

- dieser selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschwert

 

1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung

- (-) von Kunstinnig-Deinhaus genannte Rechte (Art. 102 GG, Protokoll Nr. 6 zur EMRK) werden nicht in den entsprechenden Vorschriften genannt; sind auch keine Grundrechte, weil dazu nur die des 1. Abschnitts des Grundgesetzes gehören  (formeller Grundrechtsbegriff)

- (+) Anforderungen an die Begründung der Verfassungsbeschwerde nach § 92 BVerfGG dürfen aber nicht überspitzt werden: Beschwerde muss nicht genau den einschlägigen Grundrechtsartikel angeben, sondern den Inhalt eines vermeintlich verletzten Grundrechts umschreiben; hier ist deutliche, dass Kunstinnig-Deinhaus eine Verletzung seines Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) rügen will

 

2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschwert

- (+) Kunstinnig-Deinhaus ist durch Todesurteil selbst und gegenwärtig betroffen; unmittelbare Betroffenheit liegt auch ohne Vollstreckung vor, weil die Urteile selbst bereits die Pflicht begründen, die Vollstreckung der Todesstrafe zu dulden

- Beschwerde gegen ein Urteil auf Grund eines Gesetzes, dass nach § 93 Abs. 3 BVerfGG selbst nicht mehr Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein könnte, kann nach § 94 Abs. 4, § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG auch die Rüge der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes enthalten

 

3. Ergebnis zu IV.

- Kunstinnig-Deinhaus ist beschwerdebefugt

 

V. Ordnungsgemäßer Antrag nach §§ 23 Abs. 1, 92 BVerfGG

- ordnungsgemäßer Antrag verlangt Wahrung des Frist- und des Formerfordernisses

- (+) Frist ist im Hinblick auf § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG so auszulegen, dass die sie erst mit Bekanntgabe der letztinstanzlichen Entscheidung

- (+) keine Zweifel am Formerfordernis des § 23 Abs. 1 BVerfGG

 

VI. Rechtsschutzbedürfnis

- zu bejahen, wenn Rechtsweg erschöpft ist und der Grundsatz der Subsidiarität nicht entgegensteht

 

1. Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG)

- Rechtsweg ist jeder in einer Rechtsvorschrift vorgesehene Instanzenzug zu einem Gericht i.S. des Grundgesetzes (Art. 92, Art. 97 GG); nicht zum Rechtsweg gehören auch solche Rechtsbehelfe, mit denen nicht das ursprüngliche, gegen den Verfassungsverstoß selbst gerichtete Interesse verfolgt werden kann

- (+) Gnadenverfahrens kein Rechtsweg, da Bundespräsident ein Exekutivorgan und da die Gnadenentscheidung nicht gerichtlich überprüfbar ist

- (+) weil nach § 90 Abs. 3 BVerfGG das Recht  eine Landesverfassungsbeschwerde zu erheben unberührt bleibt, zählt diese auch nicht zum Rechtsweg i.S.d. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG

 

2. Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

- in erweiternder Auslegung des § 90 Abs. 2 BVerfGG gefundenen Grundsatz verlangt, dass Beschwerdeführer alle anderweitig bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, die geeignet sind, die Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder ohne Inanspruchnahme des BVerfG im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen

- (+) Gnadenentscheidung setzt nur die Vollstreckung des Urteils aus; das Urteil selbst wird nicht beseitigt, weshalb die in den Urteilen liegende Beschwer nicht beseitigt wird

 

VII. Ergebnis zu A.

- (+) Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

 

B. Begründetheit

- begründet, wenn Kunstinnig-Deinhaus durch die Urteile tatsächlich in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt ist;  Urteile müssten in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eingreifen.

- Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bei Todesurteil offensichtlich; fraglich ist verfassungsrechtliche Rechtfertigung; Urteile müssten auf in jeder Hinsicht verfassungsgemäßen Gesetz beruhen

 

I. Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes zur Wiedereinführung der Todesstrafe“

- formelle Verfassungsmäßigkeit  unproblematisch, Bundeszuständigkeit nach Art. 72 Abs. 2, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuständig

- materielle Verfassungsmäßigkeit setzt zunächst eine Gesetzesvorbehalt voraus, der sich in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG findet

 

II. Art. 102 GG als besondere „Grundrechtseingriffsschranke“

- Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG könnte jedoch bzgl. von Todesstrafen durch Art. 102 GG als „Grundrechtseingriffsschranke“ oder „Schranken-Schranke“ selbst begrenzt sein

- (-) nicht ganz eindeutigen Wortlauts des Art. 102 GG („ist abgeschafft“), der Deutung i.S.d. Murr-Gutachtens möglich macht

- (+) systematische Stellung des Art. 102 GG bei den „Justizgrundrechten“ und nicht in der Umgebung des Art. 123 GG bzw. der Übergangsvorschriften; unstreitig verbietet Art. 102 GG daher die Wiedereinführung der Todesstrafe durch einfaches Gesetz entgegensteht

 

III. Ergebnis zu B.

- Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 102 GG verfassungswidrig, womit auch darauf beruhende Urteile verfassungswidrig sind; Verfassungsbeschwerde damit begründet

 

C. Gesamtergebnis

- Verfassungsbeschwerde von Rüdiger Kunstinnig-Deinhaus zulässig und begründet und hat somit Aussicht auf Erfolg; BVerfG wird nach § 95 Abs. 1 BVerfGG feststellen, dass die Urteile gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstoßen haben, und nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufheben (und die Sache an das Kammergericht zurückverweisen); nach § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG wird das BVerfG das „Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe“ für nichtig erklären

 

Zweiter Teil: Verfassungsbeschwerde der Nadja Kunstinnig-Deinhaus

- s.o.

 

A. Zulässigkeit

- s.o.

 

I. Zuständigkeit des BVerfG gem. Art- 93 I Nr. 4a iVm §§ 13 Nr. 8a, 90ff BVerfGG

 

II. Beschwerdefähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „jedermann“)

- (+) aus Existenz der sog. „Deutschen-Grundrechte“ wird deutlich, dass die Verfassung ausländischen natürlichen Personen die Fähigkeit zuspricht, Träger der Grundrechte zu sein, die nicht ausdrücklich Deutschen vorbehalten sind; Nadja Kunstinnig-Deinhaus ist daher „jedermann“

 

III. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Akt der öffentlichen Gewalt“)

- (+)Gerichtsurteile sind Akte öffentlicher Gewalt; dass Nadja Kunstinnig-Deinhaus sich hier, anders als ihr Mann, nur gegen das letztinstanzliche Urteil wendet ist unschädlich

 

IV. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Behauptung, in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“)

- (-) Geltendmachung von Art. 2 Abs. 2 S 1 GG ausgeschlossen, da kein eigenes Grundrecht betroffen, und die Verfassungsbeschwerde einem Ehegatten nicht erlaubt, Rechte seines Ehepartners im eigenen Namen geltend zu machen.

- (+) Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht von vornherein ausgeschlossen, da der Schutzbereich sich auf beide Partner erstreckt; von Todesurteil ist Nadja Kunstinnig-Deinhaus damit auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar (Erster Teil A. III. 2.) betroffen

 

V. Ordnungsgemäßer Antrag nach §§ 23 Abs. 1, 93 BVerfGG

- ordnungsgemäßer Antrag verlangt Wahrung des Frist- und des Formerfordernisses

- (+) Frist nach Sachverhalt eingehalten

- (+) keine Zweifel am Formerfordernis des § 23 Abs. 1 BVerfGG

 

VI. Rechtsschutzbedürftnis

- zu bejahen, wenn Rechtsweg erschöpft ist und der Grundsatz der Subsidiarität nicht entgegensteht

- keine anderen Rechtsmittel oder Verfahrensmöglichkeiten ersichtlich

 

VII. Ergebnis zu A.

- Verfassungsbeschwerde zulässig

 

B. Begründetheit

- Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn Nadja Kunstinnig-Deinhaus durch das Urteil tatsächlich in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt ist; Urteil müsste in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG eingreifen

 

I. Schutzbereich

- Art. 6 Abs. 1 GG verbietet dem Staat, störend in eine konkrete Ehe einzugreifen, etwa dadurch, dass er den Ehepartnern ein eheliches und familiäres Zusammenleben verwehrt oder auch gezielt eine bestehende Ehe gegen den Willen beider Ehepartner auflöst

 

II. Eingriff

- Todesstrafe bedeutet die Auflösung der Ehe

 

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

- verfassungsrechtliche Rechtfertigung nur möglich, wenn der Eingriff auf einem in jeder Hinsicht verfassungsgemäßen Gesetz beruht; oben Verfassungswidrigkeit des Gesetzes festgestellt

 

IV. Ergebnis zu B.

- Verfassungsbeschwerde von Nadja Kunstinnig-Deinhaus begründet.

 

C. Gesamtergebnis

- Verfassungsbeschwerde von Nadja Kunstinnig-Deinhaus zulässig und begründet und hat somit Aussicht auf Erfolg; BVerfG wird § 95 Abs. 1 BVerfGG feststellen, dass der BGH gegen Art. 6 Abs. 1  GG verstoßen hat, und wird dessen Urteil nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufheben (und die Sache an den BGH zurückverweisen); Aufhebung des Urteils des Kammergerichts kommt nicht in Betracht, da dieses Urteil nicht angegriffen wurde; BVerfG wird nach § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG das „Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe“ für nichtig erklären

 

© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Stand der Bearbeitung: Juli 2012

 


Dokumente

Zur zuletzt besuchten Textpassage | Zum Seitenanfang