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“Bestraft fürs Armsein”? – Die Kontroverse um die Ersatzfreiheitsstrafe

Ein Beitrag von Tamira Braasch und Emilia Streitbörger

Ins Gefängnis gehen zu müssen, weil man ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn gefahren ist? Was zunächst absurd erscheint, ist für viele Menschen Realität. Derzeit (Stand 29.6.2022) befinden sich allein in Berlin 239 Menschen aufgrund von Bagatelldelikten wie dem Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB), worunter auch das Fahren ohne Fahrschein fällt, in Haft.[1]

Möglich wird dies im Rahmen einer Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB. Eine Ersatzfreiheitsstrafe tritt gem. § 43 StGB an Stelle einer Geldstrafe, wenn diese „uneinbringlich“ ist, Verurteilte die Geldstrafe also nicht zahlen können. Die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe beträgt zwischen einem Tag und maximal 360 Tagen und bestimmt sich nach der Höhe der gerichtlich auferlegten Geldstrafe. Diese setzt sich aus Tagessätzen zusammen, deren Anzahl und Höhe je nach Schwere der Tat und Nettoeinkommen des/der Verurteilten bestimmt wird. Damit soll einerseits die Schwere der Tat durch die Anzahl der Tagessätze gespiegelt werden und andererseits Menschen mit unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen gerecht behandelt werden. Dazu wird – jedenfalls in der Theorie – die Höhe eines Tagessatzes als ein Dreißigstel des jeweiligen monatlichen Nettoeinkommens festgelegt, kann also erheblich variieren. Bei einer Ersatzfreiheitsstrafe entspricht ein Tag in Haft der Zahlung eines Tagessatzes, wobei es noch jederzeit möglich ist, die Ersatzfreiheitsstrafe durch Zahlung der verbleibenden Geldstrafe aufzuheben. Auch das Leisten von gemeinnütziger Arbeit zur Abwendung einer Ersatzfreiheitsstrafe ist möglich.

Das Bundesministerium der Justiz sieht in der Ersatzfreiheitsstrafe ein „grundsätzlich wirksames Druckmittel“, ohne das bei der Geldstrafe, die eine zentrale Rolle im deutschen Sanktionensystem spiele, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs grundsätzlich in Frage gestellt würde.[2] Dennoch stellt der Bundesjustizminister Marco Buschmann klar, dass vor allem die Menschen in Haft sitzen sollen, „die auch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden“.[3] Faktisch greift die Ersatzfreiheitsstrafe jedoch gerade in den Fällen, in denen gerichtlich von einer Freiheitsstrafe abgesehen wurde, da Tat und Schuld eine solche nicht rechtfertigen würden, wie auch die Berliner Justizsenatorin Lena Kreck kritisiert.[4]

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe ist insbesondere in den letzten Jahren zum Gegenstand juristischer und politischer Diskussionen geworden. Dies liegt auch daran, dass weit überwiegend Menschen von der Ersatzfreiheitsstrafe betroffen sind, die sich bereits in prekären Lebenssituationen befinden und oft gerade vor diesem Hintergrund straffällig werden, etwa weil sie suchtkrank und/oder von Armut betroffen sind. Laut einer Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern sind über 70 % der Inhaftierten arbeitslos und für die überwältigende Mehrheit der Ersatzfreiheitsstraf-Gefangenen (etwa 95 %) ergeben sich dabei monatliche Nettoeinkommen von unter 1.000 Euro. Nur knapp eine/r von hundert verfügt über 1.500 Euro im Monat. Diese Angaben ergeben sich aus einer Hochrechnung der Nettomonatseinkommen der Ersatzfreiheitsstrafler/innen auf Basis der Tagessatzhöhen.[5] Nach der sächsischen Justizministerin Katja Meier bestrafe die Ersatzfreiheitsstrafe Menschen folglich dafür, arm zu sein.[6]

Darüber hinaus wird die Situation der Betroffenen durch die Freiheitsstrafe nicht selten noch verschärft. Im Laufe einer Haftstrafe soll allgemein die Resozialisierung von Verurteilten angestrebt werden. Allerdings ist die Ersatzfreiheitsstrafe grundsätzlich zu kurz, um nachhaltige Fortschritte in Bezug auf die Resozialisierung zu erzielen. Obwohl viele Betroffene sowieso schon am Rande der Gesellschaft leben, fällt es ihnen durch die zusätzliche Isolierung von familiären Strukturen und engen Bezugspersonen nach der Haftstrafe oft noch schwerer, sozialen Anschluss zu finden, auch wenn die Zeit in Haft vergleichsweise kurz war.

Bei Frauen ist der Anteil der aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe Inhaftierten mit rund 15 % (in Berlin) besonders hoch (im Vergleich: rund 7 % der in Berlin inhaftierten Männer).[7] Dies liegt daran, dass Frauen vergleichsweise mehr Bagatell- und Eigentumsdelikte begehen, als Männer, dementsprechend häufiger zu Geldstrafen verurteilt werden und auch häufiger riskieren, eine Ersatzfreiheitsstrafe einbüßen zu müssen.[8] Zudem ist allgemein bekannt, dass der Freiheitsentzug Frauen in besonderem Maße belastet. Das liegt daran, dass sie eine stärkere Ausgrenzung ihres sozialen Umfelds wie Familie oder Nachbarschaft erfahren. Auch werden sie, häufiger als inhaftierte Männer, von ihren Lebenspartnern verlassen und leiden stärker unter der Trennung von ihren Kindern.[9]

Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich bei den verhängten Geldstrafen häufig um geringe Beträge handelt, erscheint die Verhältnismäßigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe zu den negativen sozialen Auswirkungen für die Betroffenen zweifelhaft.

Des Weiteren entstehen bei Tageshaftkosten von durchschnittlich 158 Euro (2020) im Zuge der Ersatzfreiheitsstrafe jährliche Mehrkosten von über 200 Millionen Euro, wobei sowohl die Anzahl an Ersatzfreiheitsstrafen als auch die Haftkosten tendenziell steigen.[10] Demgegenüber stehen 130.000 Euro, mit denen die Bundesregierung soziale Projekte unterstützt, die der Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen dienen. Zum Teil wird daher gefordert, mehr Gelder in die Prävention von armutsbedingten Straftaten zu investieren.[11] Auch in Bezug auf die Gefängnisbelegung stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu dem bei der Ersatzfreiheitsstrafe verfolgten Strafzweck. So wurde im Laufe der Corona-Pandemie die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in Berlin zwischenzeitlich ausgesetzt, um die Belegung der Gefängnisse zu verringern und damit einen Infektionsschutz zu gewährleisten.[12]

Was also wären angesichts der erläuterten Problemstellungen geeignete Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe?

Die Straffälligen- und Bewährungshilfe Berlin e.V. engagiert sich mit ihrem Projekt “Arbeit statt Strafe”, bei dem zahlungsunfähige Verurteilte ihre Geldstrafen mit Ableistung gemeinnütziger Arbeiten tilgen können, bereits erfolgreich für die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen.[13]

Denkbar wäre es jedoch auch, auf Tatbestandsebene anzusetzen und – wie u.a. von der Bundestagsfraktion der Linken gefordert wird[14] – Bagatelldelikte wie das Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) zu entkriminalisieren. Auf der anderen Seite könnte der Umfang der Ersatzfreiheitsstrafe gekürzt werden. Da eine Freiheitsstrafe verglichen mit einer Geldstrafe eine deutlich größere Belastung darstellt, sei der derzeitige Umrechnungsfaktor (Tilgung eines Tagessatzes = ein Tag in Haft) entsprechend anzupassen, wie inzwischen viele Stimmen aus Wissenschaft und Praxis, so zum Beispiel Prof. Dr. Michael Kubiciel (Universität Augsburg) vorschlägt.[15] Auch in Österreich wird die Ersatzfreiheitsstrafe bereits mit einem Umrechnungsfaktor von 2:1 gehandhabt (Tilgung zweier Tagessätze = ein Tag in Haft).[16]

Auch wenn die Ersatzfreiheitsstrafe heute noch als Mittel zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs notwendig sein mag, so sind die strukturellen Diskrepanzen zwischen ihrem Zweck und ihren Folgen nicht zu leugnen. Dass Armut und strukturelle Benachteiligung der ausschlaggebende Faktor für eine “Verschärfung des Strafübels” (so Kubiciel) sein können, erscheint als Widerspruch zu Art. 3 Abs. 1 GG. Betrachtet aus der Perspektive benachteiligter Frauen verschärft sich das Problem unter Gleichbehandlungsaspekten nochmals.

Der vielseitigen Kritik, sowie den genannten Reformvorschlägen, aber auch der Prävention von armutsbedingten Straftaten oder einer alternativen Ableistung der Geldstrafe ist daher Beachtung zu schenken. Schließlich sollte Freiheit keine Frage des Geldes sein.


[1] Belegungsstatistik aller Berliner Justizvollzugsanstalten vom 29. Juni 2022: https://www.berlin.de/justizvollzug/service/zahlen-und-fakten/belegungsstatistik/.

[2] Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 26. April 2022: https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf.

[3] HaftLeben Nr. 73 Januar 2022: ,,Resozialisierung in einer JVA, geht das?“.

[4] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2022/01/berlin-justiz-haft-bei-geldstrafen-vermeidung.html.

[5] Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern, Nicole Bögelein et al.,

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/mks-2019-2027/html.

[6]https://www.freiepresse.de/nachrichten/sachsen/sachsens-justizministerin-meier-stellt-schwarzfahren-als-straftatbestand-infrage-artikel11998508.

[7] Belegungsstatistik aller Berliner Justizvollzugsanstalten vom 29. Juni 2022: https://www.berlin.de/justizvollzug/service/zahlen-und-fakten/belegungsstatistik/.

[8] Bestätigt von C.Trömel, Sozialarbeiterin der JVA für Frauen Berlin Lichtenberg.

[9] https://www.jva-fuer-frauen.niedersachsen.de/themen/frauen_im_vollzug/frauen-im-vollzug-83195.html.

[10] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-02/justizvollzug-geldstrafe-gefaengnis-kosten-ersatz.

[11] Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 26. April 2022: https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf.

[12]https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/12/berlin-justiz-ersatzfreiheitsstrafen-vollstreckung-ausgesetzt-infektionsschutz.html.

[13] http://ersatzfreiheitsstrafe.de.

[14] Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 26. April 2022: https://dserver.bundestag.de/btd/20/015/2001568.pdf.

[15]https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ersatzfreiheitsstrafe-bmj-referentenentwurf-reform-sanktionenrecht-geldstrafe-halbierung-tagessatz/.

[16]https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ersatzfreiheitsstrafe-bmj-referentenentwurf-reform-sanktionenrecht-geldstrafe-halbierung-tagessatz/.