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Uni im Vollzug – eine Collage von Eindrücken und Erlebnissen

Der folgende Artikel entspringt meinen Erfahrungen in der „Uni im Vollzug“. Die Gedanken folgen nicht unbedingt einer Chronologie, sondern bilden eine fragmentierte Collage ab. Ich versuche in diesem Format die Bewegtheit unserer Gespräche und den Prozess des Seminars einzufangen. Es handelt sich somit um eine Collage von Gesprächen im Kurs, Texten, über die ich mich kontinuierlich ausgetauscht habe, Vorträgen aus dem Seminar und Beobachtungen auf Fluren, im Sicherheitscheck, im Klassenraum und der Rauchpause. Sie bildet insofern meine ganz persönliche Erfahrung und Perspektive ab und ist insofern zwangsläufig unvollständig. Die folgenden Fragmente sollen Dankbarkeit und Wertschätzung ausdrücken für den gemeinsamen Austausch-, Lern- und Erfahrungsraum. Vielen Dank an alle, die diesen Raum mitgestaltet haben.

„Erzähl mir von der Welt draußen!“ – einführende Fragmente aus meinem Tagebuch zur Uni im Vollzug

8.1.2024

Ich bin gerade in Berlin angekommen und direkt geht’s wieder los: Uni im Vollzug. Es ist eiskalt und mein Fahrrad ist kaputt, deshalb komme ich mit den Inlinern. Ankommen, verschwitzte Sachen aus, rein in den Schneeanzug, den ich in weiser Voraussicht mitgenommen habe. In mittlerweile routinierter Prozedur melden wir uns an: ‚Perso‘ abgeben, Besucherkarte erhalten – und dann, eigentlich Kontrolle im Eingangsbereich. Diesmal werden wir jedoch bereits bis in den Besucherwarteraum geholt. Auch den Beamt*innen ist es wohl zu kalt. Nach dem Scan werden wir von einer anderen Person mit Liste abgefragt und laufen dann in den Unterrichtsraum rüber. Ich freue mich, die anderen wiederzusehen. Ich bin gespannt, zu hören, wie sie Silvester und Weihnachten verbracht haben. […]

4.12.2023

Vom Besucher*innenraum wurden wir von derselben Beamt*in abgeholt wie fast jedes Mal. Wir laufen über den Hof, am kleinen See und Garten vorbei, rüber zum Schulgebäude. Im Klassenraum sind die anderen zum Teil auch schon angekommen. […]

04.12.2023

Du hast mich gefragt, was es Neues aus der Welt draußen gibt. Ich weiß nicht wieso, aber mir ist eingefallen, dass du letztes Mal Reiswaffeln gegessen hast, glaubte ich mich zu erinnern, und dann dachte ich, dass es dich vielleicht interessieren würde zu wissen, dass es jetzt auch Linsenwaffeln und Kichererbsenwaffeln bei dm gibt. Ich hole mein Notizbuch hervor und notiere für nächstes Mal: Linsenwaffeln und Kichererbsenwaffeln mitbringen!!! […]

Studieren im Knast – Fragmente unseres Austausches über das Studieren

Die „Uni im Vollzug“, ein Seminar von inhaftierten und nicht-inhaftierten Studierenden in der JVA-Tegel bedeutete für mich ein gemeinsamer Lernraum, in dem ich einerseits mehr über die großen Zusammenhänge, z.B. den Strafvollzug in Deutschland, lernen, sowie ein Gefühl für die kleinen, feinen, oft nicht besprochenen und teils auch schwer besprechbaren Themen bekommen konnte. In der Auseinandersetzung mit Inhalten verschiedener Studiengänge (z.B. der Psychologie, Soziologie, Kriminologie) konnte ich Einblicke in vielfältige Perspektiven auf Aspekte des Strafvollzugs bekommen, die besonders durch unsere unterschiedlichen Positionierungen an Tiefe gewannen. Dann geht es nicht mehr nur darum, wie z.B. Artifical Intelligence (AI) theoretisch interessant für die Organisierung des Strafvollzugs in Deutschland sein könnte; aus meiner Sicht wurden die Vorträge der Referent*innen immer wieder durch unsere Diskussionen herausgefordert, sodass die Positionen des Vortrags immer mit den Meinungen der unterschiedlich geprägten Studierenden und der gelebten Erfahrung der Inhaftierten in Auseinandersetzung gehen mussten. Das kann dann beispielsweise auch bedeuten, dass die Frage von AI im Strafvollzug für manch‘ einen Inhaftierten eine absurde Diskussion sei, wenn der Strafvollzug doch eine komplette Baustelle – anders gesagt: „Brachland“ sei.

Mal mehr implizit, mal sehr explizit ging es um unsere Erfahrungen und Bedingungen des Studierens. Abgesehen davon, welche unterschiedlichen Fächer wir studieren, ging es um Fragen wie: Welche räumlichen und technischen Zugänge gibt es für das Studium in Haft? Wie unterscheiden sich diese im Gegensatz zum Studium in Freiheit? Inwiefern ist es eine spezifische Hafterfahrung, wenn man studiert (im Gegensatz z.B. zur Arbeit im Betrieb)? Was sind die Vorteile des Studierens in Haft? Welche Herausforderungen gibt es für den Zugang zum Studium in Haft?

4.12.2023

Ihr habt heute erzählt: nur wenn du wirklich hartnäckig bist, schaffst du es. Nur, wenn du zufällig Wissen von anderen Inhaftierten und zufällig gute Betreuer*innen hast, kannst du in Haft studieren. 1% der Inhaftierten [deutschlandweit] studieren und das, obwohl es zu einer der besseren Lohngruppen im Knast gehört. Warum wird das Studieren, die Weiterbildung von Menschen, die ‚resozialisiert‘ werden sollen, nicht besser unterstützt? Stattdessen arbeiten viele Menschen in Betrieben, was einen geregelten Arbeitsalltag mit täglich um 6:00 Uhr Aufstehen zufolge hat. Wir diskutieren über die unterschiedlichen Möglichkeiten vom Zugang zur Arbeit in verschiedenen JVAs. In anderen Fällen, wie in Moabit, sei wiederum Arbeit in Haft generell eher ein rares Gut. Ebenso wie die Unterbringung in der JVA Tegel, sei auch der Zugang zu Arbeit „sozial stratifiziert“. In einer Gruppendiskussion wurde berichtet, dass Menschen, die als weiß oder Deutsch gelesen werden und Menschen mit deutschen Sprachkenntnissen besser behandelt werden, indem sie bessere oder überhaupt Jobs bekommen. Außerdem gäbe es ein Haus, in dem hauptsächlich Menschen mit Migrationsbiographie wohnen würden. Wenn bereits die Aufteilung in die verschiedenen Gebäude sozial stratifiziert ist und „sie am Ende“ für einen Job in der Bibliothek sowieso „den Sven nehmen“, fächert sich die Komplexität der unterschiedlichen Hafterfahrungen auf: Je nachdem, wo du in der ‚sozialen Ordnung‘ des Knasts positioniert bist (ob du z.B. von Racial Profiling betroffen bist), kann sich die Hafterfahrung sehr unterschiedlich anfühlen. Und: Es macht einen großen Unterschied in Bezug auf Unterstützungsmöglichkeiten, Lautstärke, sozialen Umgang, in welchem Haus du wohnst. Das gilt auch für die Frage des Studierens in Haft.

6.2.2024

Heute haben wir über Entscheidungen geredet. Von vielen Inhaftierten wurde berichtet, dass das Studieren ihnen mehr Entscheidungsfreiräume bietet, die andere Menschen, die z.B. in Betrieben arbeiten, nicht haben. Eine Person, die sowohl studiert als auch arbeitet, bestätigt das. Die Frage, „ob ich heute rüber gehe“ (in die Schule, wo sich auch der Arbeitsraum befindet), stelle sich ihm nicht, wenn er jeden Tag um 6:00 zum Arbeiten aufstehen muss. Ein anderer konkludiert, dass dies also eine „Luxusentscheidung“ sei; ein relativer Luxus innerhalb einer „totalen Institution“ (Goffman 1961), in der zeitliche Abläufe durch eine andere, ‚kontrollierende Gruppe‘ stark reglementiert und vorgegeben sind.

Diskussionen – Gespräche - Auseinandersetzung

In der thematischen Auseinandersetzung zur Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze, zu AI und JVA, dem sozialen Klima in der JVA, sowie Entscheidungsverhalten sind in den Diskussionen und in Gesprächen im ‚Dazwischen‘ Themen aufgekommen, die für mich immer wieder die Frage aufgeworfen haben: Und was bedeutet das jetzt konkret? Was bedeutet es konkret, wenn ich mich im Knast für ein Studium entscheiden möchte? Was soll ein „soziales Klima“ in der JVA bedeuten? Wie beeinflussen die infrastrukturellen Bedingungen, z.B. dünne Wände, ganz konkret den Alltag?

Hearing in prison - Geräusche

Wir haben übers Lesen geredet, also habe ich ihm einen Zeitungsausschnitt der Taz mitgebracht. Es geht um einen Briefkontakt von einer (jetzt nicht mehr) inhaftierten Person und einer Person draußen. Der Artikel beginnt direkt mit einer Szenenbeschreibung, wo der Inhaftierte davon erzählt, wie er noch immer zusammenzuckt, wenn er einen Schlüsselbund klimpern hört. Als wir gemeinsam in den Artikel schauen, der aufgeklappt vor uns liegt, nickt er zustimmend und beginnt sofort zu reden: „Das kann ich mir so gut vorstellen, dass man da noch Dinge mitnimmt.“ Dann reden wir über Sinneswahrnehmungen im Knast. Er erzählt von Moabit, Haus 1, Flügel B: „Das ist aufgebaut, wie ein Panoptikum. Du hörst jede Tür. Ich habe das mal ausgerechnet. Mit allen Schließzeiten hörst du 1280-mal am Tag Türen knallen. […] Das ist immer dasselbe Geräusch. [er stellt szenisch ein Tür-zu-knallen dar] Wuuumm und [er stellt szenisch dar, wie mit mehreren Handgriffen die Tür abgeschlossen wird] kling kling.“ Auch in Tegel seien die Zellen extra so gebaut, dass man alles hört: „Man hört es, wenn einer zwei Zimmer weiter seine Seite umblättert.“ Wenn man Foucault Glauben schenkt, soll man eben merken, dass man dauerhaft unter Beobachtung steht.

22.1.2024

[…] Sie erzählen, dass Haus 2 irre laut sei. Alles sei aus Metall gebaut, und eine alte Flügelarchitektur. Es wird von einer Person erzählt, die von Haus 2 in Haus 5 gewechselt sei und „endlich schlafen“ könne. Einer scheint darüber belustigt, weil er aus der SothA [Sozialtherapeutischen Anstalt] kommend Haus 5 total laut und anstrengend fand. Ein anderer meldet sich und sagt, dass das besondere an der SothA sei, dass es Freiräume und Rückzug gebe: „Dadurch wird der Raum weiter. Dadurch ist der Fluss nicht so schmal.“ In unserem Taz- Artikel stand auch, dass auf 42.000 Gefangene in Deutschland nur 2.500 SothA Plätze zur Verfügung stehen. Für viele ist „der Fluss“ also sehr schmal, der Raum eng und der Lärm unausweichlich.

Smelling in prison - Gerüche

18.12.2023

Gemeinsam sitzen wir hier. Wir studieren zusammen. Die Frage heute: Trägt die Uni im Vollzug zur Resozialisierung bei? Nein, sagt einer. Wir lernen hier nichts für unser Studium. Meint er, dass das notwendig dafür wäre, wenn sie tatsächlich eine Angleichung [im Sinne des gesetzlich verankerten Angleichungsgrundsatzes] bezwecken will? Ein anderer schreitet ein. Aber findest du nicht, dass diese Begegnungen, die frischen Energien – die neuen Gerüche – das tun? Alle lachen. Gerüche. Warum lachen alle? Weil es so herrlich direkt war? Oder so berührend intim? Wir riechen uns. Wir mögen uns. Ich kann dich nicht riechen, so ist das Sprichwort. Ich rieche jeden Tag dasselbe, wenn ich im Knast bin. Neue Gerüche von neuen Menschen sind so neue Begegnungen mit allen Sinnen. […]

Essen - „Essen ist etwas Intimes“

4.2.2024

Wir sprechen über Entscheidungsfindung: Welche Entscheidungen treffe ich täglich? Worauf beziehe ich mich dabei? Wann und warum sind mir Entscheidungen schwergefallen? In unserer Kleingruppe taucht direkt das Thema Essen auf. Eine Person sagt, Essen sei etwas Intimes. Im Gespräch konkretisiert sich, was damit gemeint ist. Im Knast gäbe es einen „kalten Blick“, eine gewisse Distanz, mit der sich alle begegnen. Beim Essen, aber, gehe das nicht. Da wäre zwangsläufig eine Art weichere Verbindung der Fall. „Mit dem ich mein Brot breche“, sei auch kulturell bedingt bedeutsam. Deshalb sei es auch eine große Sache, ob man sich im Vollzug dafür entscheidet, das Anstaltsessen zu konsumieren oder eine Essensgruppe zu gründen; und wenn eine Essensgruppe, mit wem?! Auch die Einkäufe, die alle zwei oder drei Wochen stattfinden, seien ein soziales Ereignis. Mir wird die Szene skizziert: Sobald es wieder Einkaufszeit ist, sei es plötzlich ganz still auf den Fluren. Alle sitzen vertieft über den langen Listen mit allen Produkten, die gekauft werden dürfen, die ausgebreitet auf ihren Schreibtischen liegen. Und nach der Ruhe kommt der Sturm. Dann ginge das große Tauschen los. „Wenn du mir vier Eier kaufst, dann kauf ich dir dies und das.“ Dann würden alle im Zickzack über die Flure wuseln, Deals aushandeln und Schulden begleichen.

8.1.2024

Einer erzählt mir von Weihnachten. Er sei noch total erschöpft davon. Es ist drei Wochen her. Er lacht darüber. Es sei so anders gewesen. Er war in der Kirche, wo alle kleine Geschenktüten bekommen hätten, dann gab es gemeinsames Essen. „Da schmeckt das Essen aus demselben Container anders. Du hast das Gefühl, an Weihnachten würzen die sogar.“ Auch die Beamt*innen, die an diesem Tag arbeiten, seien anders. Inwiefern anders? […]

Zeit(lichkeit) - “Incarceration is about time, and prison is a cage of days.”

(Flaherty/Carceral aus: The Cage of Days 2022)

6.11.2023

Wir waren das erste Mal in der JVA in Tegel. […] In der Kennlernrunde haben wir über unsere Lieblingsbücher geredet. Eine Person erzählt mir von einem Buch, was er in der Bibliothek der Fernuni Hagen gefunden hat: „The Cage of Days“. Es geht um Zeitlichkeit im Knast, um das Gefängnis als „time regime“, um einen zeitlichen Raum (mit seinen Abläufen, Routinen, Regeln), mit dem Inhaftierte konform werden müssen. Eine Konformität, die wenig hilfreich für das Leben ‚in der Welt draußen’ ist:

„Likewise, convicts are punished for failure to conform with the temporal regime behind bars, but the more they become accustomed to the dialectics of this system, the less prepared they are for life outside prison.” (ebd.)

4.2.2024

Wir sind weiter über das Buch in Kontakt geblieben. Ich war sehr gerührt, als er mir erst die ausgedruckte Einleitung, dann das ganze Buch mit seinen Notizen mitgebracht hat. Die Einleitung hatte mich direkt gefesselt. Jetzt, bei meiner letzten Sitzung der Uni im Vollzug, in der es um Entscheidungen ging, musste ich wieder und wieder an Passagen des Buches denken. Wie verändert ein Aufenthalt im Knast dein Verhältnis zur Zeitlichkeit deines eigenen Lebensverlaufes? Wir reden über ‚typische‘, normative Lebensverläufe unserer Gesellschaft mit Schule, Studium, Kinder und Haus. Was macht das mit uns, wenn wir nicht durch diesen typischen Ablauf ‚durchfließen‘? Welche Entscheidungsmöglichkeiten haben wir dann, anders zu ‚fließen‘? In unserer Kleingruppe sprechen wir darüber, dass der Knast quasi – im radikalen Gegensatz zur Stadt Berlin – ein Baum der Optionen mit „gestutzten Ästen“ ist. Es gebe ein paar Verästelungen und vielleicht auch „ein, zwei, drei Früchte“, aber die Auswahl sei eben sehr begrenzt. Die Wahrnehmung dieser Entscheidungsmöglichkeiten scheint mir somit auf jeden Fall auch irgendwie mit der Hafterfahrung zusammenzuhängen. Als es um’s Bahnfahren als tägliche Entscheidung geht, sagt Einer: „damals, als ich zur U-Bahn gegangen bin.“ Er lacht auf, als er bemerkt, dass er „damals“ gesagt hat. Er wiederholt: „damals“. Die Möglichkeit dieser banalen Entscheidung, ob ich nun diese oder die nächste Bahn nehmen möchte, erschien ihm wohl so fern, wie in einer anderen Zeit, in einem anderen time regime.

Körper(lichkeit) & Gesundheit

4.12.2023

Dieser Raum ‚Gefängnis‘ mit Betonwänden und Stacheldraht außen herum, mit alltäglicher psychischer Gewalt und Rassismus, mit Beamt*innen, die wenn es hart auf hart kommt am längeren Hebel sitzen, führt einer Erzählung zufolge mit der Zeit zu einer Art Abstumpfung: „Als Schutzmechanismus schaltest du aus: mir macht das nichts aus. Auch wenn du noch so sehr in dich fühlst: ich will das nicht. Ich will das nicht. Du musst loslassen”, erzählt einer, “sonst hältst du es nicht aus.“ Es sei, als ob man „emotional stirbt“. Denn, die Emotion schaltest du eben nicht nur aus, wenn du vom AVD entwürdigend kontrolliert oder mit Anliegen nicht ernstgenommen wirst, sondern auch sonst. Du sagtest: „Den Schalter kann man dann nicht einfach umlegen.“ Derselbe Mechanismus sei für Körperlichkeit wichtig. Nicht umarmen zu können, sei das Schlimmste. „Was einem so banal erscheint, ist hier plötzlich ganz wichtig“, sagte ein anderer. Und es geht dabei eben um Körperkontakt an sich, Sex sei da mal ganz dahingestellt. „Erst, wenn du Besuch bekommst und sie dich umarmen, merkst du, was du gebraucht hast.“ Fügt er an.

8.1.2024

Er erzählt mir, als ich mich neben ihm niederlasse, dass er an Silvester krank war. An sich nicht so schlimm – „es war eh ruhig an Silvester hier“ – aber das Problem ist: „Als Gefangener kriegt man kein Krankengeld.“ Und er fügt an: „Als Gefangener muss man es sich leisten können, krank zu sein.“ Er habe für diesen Fall gespart, aber jetzt müsse er wieder arbeiten, auch wenn er sich noch nicht wieder komplett fit fühle. Zudem: es sei wohl „Corona gewesen“, aber „hier würde sowieso nicht mehr getestet.“ Er hat also möglicherweise post-corona Folgen und weder finanzielle Unterstützung, sich wirklich auszukurieren, noch überhaupt Worte dafür, dass es wohl Corona war. Aber, was uns beide glücklich gemacht hat, heute: die Sonne. Er erzählt, dass das Haus, in dem er wohnt, so gebaut ist, dass es von Oktober bis Mai im Innenhof keine Sonne gibt. Aber bei seiner Arbeit sei heute die Sonne reingeschienen. In seiner Pause habe er sich einfach hingestellt und die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen. Ich fühl’s. Genauso stand ich heute Morgen an meinem Fenster. Endlich wieder Sonne in Berlin.

Soziales Klima & Moral

22.1.2024

Heute soll es um das soziale Klima in der JVA gehen. Die Regeln, die auf dem Merkblatt für Mitarbeiter*innen geschrieben stehen, hallen in meinem Kopf nach: „Von der Weitergabe, z.B. Ihrer persönlichen Daten wird zu Ihrer eigenen Sicherheit dringend abgeraten.“ Auch auf meine Kleidung solle ich achten - nicht zu freizügig, es ist ja immerhin noch ein Männervollzug. Direkt am Eingang der JVA empfängt mich das Klima. Zwei Kommiliton*innen holen nicht direkt Ihre Einlasskarten aus der Schublade, die ihnen unter der Glaswand durchgeschoben wurde. Die Beamtin erwidert daraufhin: „Ihre Karten müssen Sie schon mitnehmen. [lacht] Aber Sie können auch dableiben. Ein paar schöne Zimmer haben wir auch noch frei [lacht].“

22.1.2024, Handynotizen in der Bahn

Personalausweis vergessen: Krise.

Glück gehabt, Person war nett.

Sicherheitscheck, andere Person, Kontrolle normal.

Beim Rausgehen, kontrollierende Person, jetzt, hinter der Glasscheibe.

Habe Besucher*innenkarte nach vorne gelegt.

Sie kommt schlecht dran und muss sie umständlich rausfischen.

Hat den Führerschein dann auch nach ganz vorne gelegt, dass ich auch schlecht drankomme

Sie schaut mich mit funkelnden Augen an.

22.1.2024

[…] Ich hatte ihn zu Moral gefragt, ob er das Gefühl hat, mit der Moral des Gefängnisses in Berührung zu kommen; und wie er die moralischen Vorstellungen der Beamt*innen und unter den Inhaftierten wahrnimmt. Wir diskutieren darüber, wie absurd es doch ist, dass Inhaftierte theoretisch von den Beamt*innen die richtige Moral lernen sollen, um dann später gut und richtig in Freiheit leben zu können. Ein Zitat, welches auf der Powerpoint-Folie erscheint, bringt unsere Gedanken auf den Punkt:

„Imprisonment is the practical embodiment of the state‘s claim to moral authority in the delivery of justice […] The state’s authority claims [can’t] be sustained if the practice of imprisonment routinely belies them. […] In brief, prisoners can hardly be expected to take the state’s pretensions to moral authority and concern seriously, unless the representations of that authority and those concerns, which they receive from the activities of prison administration and staff, give them reasons to do so.” (Sparks, 1996, 307)

22.1.2024 – „Er ist gerade“

Bezüglich Transparenz spricht eine Person in unserer Gruppe die Willkür an. Er sagt: „Am schlimmsten sind die, wo du nicht weißt, wie die Lage ist. Die vermiesen das soziale Klima.“ Ich denke darüber nach: es ist so krass, wie sehr die Inhaftierten dauerhaft unter Strom stehen, jede soziale Situation zu analysieren. Wie sind die Beamt*innen drauf, wer ist streng, wer ist heute gut drauf, wie muss ich mein Verhalten anpassen, dass ich heute möglichst gut durchkomme? Welche sozialen Gruppen gibt es unter den Inhaftierten? Wo will ich dazu gehören, wo nicht? Wie werde ich von den Gefangenen eingeordnet? Da stecken so viele Dinge drin. Zuallererst die Frage: Wem liegt eigentlich etwas daran, dass es ein harmonisches soziales Klima gibt? Da gibt es definitiv ein Machtgefälle, das im Kern einer „totalen Institution“ liegt: Manche Menschen leben, arbeiten, schlafen, essen hier; manche Menschen gehen irgendwann wieder nach Hause. Und letztere kreieren die Regeln für das soziale Miteinander in jeder Situation neu. Das heißt, Inhaftierte sind zu einem gewissen Grad der Willkür der sozialen Regeln der Beamt*innen ausgeliefert und die ganze Zeit damit beschäftigt, möglichst Wogen zu glätten, um gut durchzukommen. Denn, es sei „wichtig, wie du dich verhältst.“ Es mache also einen Unterschied, ob du Stress vermeidest und freundlich bist und einfach dein Ding machst oder ob du Stress suchst. Je nach dem, sei deine Zeit im Knast sehr unterschiedlich. Denn er fügt an: „Versagen wird sofort bestraft.“ Er meinte damit, dass jede Handlung im Knast unmittelbare Konsequenzen hervorbringt. Hier kannst du keine Fehler machen, denn im Zweifel bist du schuldig, wie eine andere Person es vor zwei Wochen beschrieben hatte. Und es sei nicht nur wichtig, wie du dich verhältst in Bezug auf die Beamt*innen. Vielleicht sogar vielmehr in Bezug auf die anderen Inhaftierten. Die beiden sind sich einig: „Man ist schnell einsortiert und beurteilt.“ Du hast direkt einen Ruf, ob du z.B. verlässlich, höflich oder dankbar bist. Dann wird über dich gesagt: „Er ist gerade.“

„Niemand ist desozial“ - Zwischen Angleichung, Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit

„Wenn Resozialisierung und Angleichung funktionieren würden, würde sich Uni im Vollzug nicht so anders [als der Knast sonst] anfühlen.“

4.12.2023

Wir reden über die Rahmenbedingungen im Strafvollzug. Resozialisierung sei das Ziel – alles zum Schutze der Allgemeinheit und, um den Straftätern ein Leben in „sozialer Verantwortung ohne Straftaten“ zu ermöglichen. Sozialisierung wird mir erklärt als die Möglichkeit und Fähigkeit sich als Individuum zu vergesellschaften, also die Normen und Erwartungen eines gesellschaftlichen Gefüges um mich herum zu verstehen und mich dem anzupassen. Möglichst gut angepasst = höchster Grad der Sozialisation? Re-Sozialisierung mit Bindestrich sei ein kritischer Blick auf die Idee, man könne die Inhaftierten nicht in eine Gesellschaft re- integrieren, da viele doch nie so richtig sozialisiert gewesen seien; sie hätten „nie eine erfolgreiche Sozialisierung abgeschlossen“. ‚Erfolgreich‘ – was soll das in diesem Kontext bedeuten? Diese, die „nie eine erfolgreiche Sozialisierung abgeschlossen haben“ erscheinen im Gegensatz dazu plötzlich als ‚soziale Abweichung‘; eben, als seien sie ‚nicht sozial‘. Ein Kommentar fällt, der trifft, was auch ich gefühlt habe: ”Niemand ist desozial.” Auch der Mensch, der als Intensivstraftäter gehandelt wird, sich nur in „kriminellen Netzwerken“ bewegt, befindet sich in Netzwerken, ergo in sozialen Räumen. Er ist perfekt sozial für sein gesellschaftliches Gefüge. Nur, dass das nicht die ‚vorgesehene‘ Sozialität ist. Die Definition von der ‚richtigen‘, der ‚moralisch guten‘ Sozialisierung ist also machtdurchdrungen. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, dessen Effekte Inhaftierte an ihren Körpern tag täglich erfahren. Sie spüren, wie moralische Vorstellungen der Beamt*innen im Raum der totalen Institution die Norm bestimmen, zu der Inhaftierte ‚hin-sozialisiert‘ werden sollen. Das Gefängnis ist also eine Technologie des Regierens von Körpern, um eine ‚verletzte Moral‘ wiederherzustellen.

Resozialisierung, mit dem Ziel, ein „Leben in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten führen“ heißt auch, finanziell sicher zu sein und ein Leben ohne Druck, Frust und Überlebensangst zu ermöglichen. Mit den hohen Gerichts- und Anwaltskosten, sowie potentiellen Vermögensabschöpfungs-Rückzahlungen [Gewinn aus Straftaten, der zurückgezahlt werden muss] ist das aber kaum möglich. So wundert es nicht, dass viele Menschen nach Entlassung mit Armut zu kämpfen haben und teils wieder straffällig werden. In Tegel gibt es beispielsweise eine ”Rückfallquote” von ca. 80%. Zudem stellt der Knast informelle Ökonomien auch selbst her. Menschen organisieren sich, um Produkte zu beschaffen, wie u.a. Drogen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten. Der Staat produziert also genau das, was er nicht will: ‚Kriminelle‘ Netzwerke und Menschen in Armut, die ausgegrenzt von gesellschaftlicher Teilhabe werden und so wieder eben jene informellen Ökonomien aufsuchen. Im Knast entstehen aber auch andere Formen von Vernetzung, Organisierung und Kreativität. Viel Zeit zu haben, führt zu einer Art erzwungenen Kreativität. „Du hast gemerkt, dass du super Käsekuchen backen kannst“ – zustimmendes Nicken im Raum. Andere haben angefangen zur Kunsttherapie zu gehen. Wieder andere machen Sport, spielen Theater oder schreiben Bücher. „Hoffentlich wird es [das Buch] bald veröffentlicht“, sagt ein anderer.

Aus den Erzählungen und Diskussionen habe ich eine dauerhafte Gleichzeitigkeit von lauter und leiser Gewalt, den Abhängigkeiten der „totalen Institution“, sowie den Strategien, durch die man sich als inhaftierte Person darin navigieren kann, wahrgenommen. Die staatlichen Ziele der Resozialisierung und der Angleichung stehen in einem ambivalenten Verhältnis zur alltäglich gelebten Realität mit Herausforderungen des Studierens und Arbeitens, das eigene Essen zu organisieren, mit dem Entzug von Körperlichkeit klarzukommen und Räume der Ruhe und des Rückzugs zu finden.

Über Verbesserungen nachdenken

In unserem Kurs haben wir auch über konkrete Ansätze zur Verbesserung der aktuellen Situation in JVAs in Deutschland geredet. Es ging dabei um konkrete Veränderungen des Alltagslebens, sowie strukturelle Veränderungen des Strafvollzugs. Für mich folgt aus unserem Austausch:

…Es bräuchte mehr Projekte wie die Uni im Vollzug!

Räume, wie die Uni im Vollzug sind wertvolle Lern-, Austausch- und Denkräume, um eben den Ansatz von Angleichung ernsthaft umzusetzen. Gemeinsame Lerngruppen und Seminare sind essentieller Teil des Studiums, der beim Studieren in Haft verwehrt bleibt. Auch Kontakt zu Dozierenden und Feedbackmöglichkeiten zu wissenschaftlichen Arbeiten sind kaum möglich. Die Uni im Vollzug ist auch dafür ein essentieller Raum. Und es geht auch ums einfach gemeinsam im Raum sein und von etwas anderem hören, andere Stimmen hören und andere Gerüche riechen:

“Wenn sie mir jetzt zum Beispiel vom Leben draußen erzählt – sie hat gesagt, es gibt eine neue Sorte von Reiswaffeln: Linsenreiswaffeln! – dann macht das was.“