Springe direkt zu Inhalt

Baumfällig (Sachverhalt)

Am ersten schönen Sonnentag nach vierwöchigem Dauerregen ereignete sich am Elvirasteig in der Nähe des Schlachtensees ein Verkehrsunfall: Geraldine Gasolina, die mit ihrem beladenen Abschleppwagen von Potsdam kommend mit angemessener Geschwindigkeit zu ihrer Kfz-Werkstatt unterwegs war, lenkte plötzlich scharf nach rechts, fuhr über den Bürgersteig in den Vorgarten des Anwesens Elvirasteig 30, und dort trotz Vollbremsung gegen eine große Kastanie. Der Abschleppwagen erlitt einen Totalschaden, Gasolina blieb jedoch weitgehend unverletzt. Auch der Baum schien im Wesentlichen unbeschädigt, wie die Eigentümerin des Grundstücks - Odessa Hubbard-Siontologis - beruhigt feststellte.  Spätere Ermittlungen der Polizei ergaben, dass Gasolina nach rechts gesteuert hatte, um der 5-jährigen Sarah Levenbrück auszuweichen, die „plötzlich auf der Straße gestanden habe“. Sarah war mit ihrer Mutter Loki Levenbrück auf dem Heimweg von einem Spaziergang zum Schlachtensee gewesen, hatte sich unvermutet und unvorhersehbar von der Hand ihrer Mutter losgerissen und war über die Straße gerannt, weil sie auf der anderen Straßenseite ein Eichhörnchen gesehen hatte.

 

Nachdem der Regen wieder eingesetzt hatte, zeigte sich wenige Tage später, dass der Baum die Kollision doch nicht unversehrt überstanden hatte. Weil das Erdreich durch den Dauerregen vollkommen aufgeweicht war, hatte der Stoß bewirkt, dass der Baum im Erdreich verschoben wurde und zahlreiche Wurzeln abgerissen wurden. Da der Baum nicht gleichmäßig gewachsen war, sondern sein „Schwerpunkt“ in Richtung Elvirasteig lag, neigte er sich zunächst unmerklich, dann immer deutlicher zu dieser Straße hin, bis erkennbar wurde, dass - jedenfalls wenn der Regen weiter andauern würde - es nur eine Frage der Zeit sei, wann der Baum endgültig auf die Straße fallen würde. Nachdem das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf auf diesen Umstand aufmerksam gemacht worden war, veranlasste es einen Ortstermin mit Frau Hubbard-Siontologis. Diese wurde darauf hingewiesen, dass sie als Eigentümerin des Grundstücks verpflichtet sei, den Baum zu fällen, um zu verhindern, dass er früher oder später auf die Straße falle. Frau Hubbard-Siontologis zeigte sich jedoch uneinsichtig: Sie sei keine „Baummörderin“ und sehe auch nicht ein, einen „Baummörder“ bezahlen zu müssen. Im Übrigen könne sie sich an einem solchen „Mord“ nicht beteiligen, da sie mit ihrer gesamten Umgebung „mystisch verbunden“ sei, so dass dies auch nicht von ihr verlangt werden könne. Trotz dieser Einwände wurde Frau Hubbard-Siontologis am nächsten Tag ein mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehener Bescheid förmlich zugestellt, den das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf als Ordnungsbehörde erlassen hat, und durch den

 

1. Frau Hubbard-Siontologis verpflichtet wird, den Kastanienbaum in ihrem Vorgarten zu fällen oder fällen zu lassen;

 

2. die sofortige Vollziehung der Nr. 1 der Verfügung angeordnet wird;

 

3. für den Fall der Nichtbeachtung der sich aus Nr. 1 ergebenden Verpflichtung nach 10 Tagen ab Zustellung des Bescheides deren Vollstreckung im Wege der Ersatzvornahme angedroht wird, wobei die hierdurch entstehenden Kosten voraussichtlich 200,- Euro betragen würden.

 

 

Alle Anordnungen sind ordnungsgemäß begründet worden. Frau Hubbard-Siontologis will diesen Bescheid dennoch nicht akzeptieren und wendet sich deshalb an den Berliner Rechtsanwalt Sebastian Sartorius.  Sie sei nicht schuld an dem Unfall, so dass sie hierdurch zu überhaupt nichts verpflichtet sei. Vorrangig seien Gasolina oder die Familie Levenbrück in Anspruch zu nehmen. Aber auch diesen würde sie niemals gestatten, den Baum abzusägen, der schon die Wiege ihrer Mutter beschattet habe und zu dem sie daher in einer besonderen emotionalen Bindung stehe. Sie habe sich deshalb bei einem Fachmann, einem „Baumdoktor“, erkundigt, der ihr nach Besichtigung des Baumes versichert habe, dass eine Wiederaufrichtung und „Neuverankerung“ des Baumes technisch möglich und dieser - werde die Maßnahme sachkundig durchgeführt - dann wieder „wie neu“ sei. Die durch eine solche Maßnahme entstehenden Kosten von etwa 3000,- Euro würde und könne sie bezahlen. Es sei ihr deshalb unverständlich, weshalb das Bezirksamt angesichts dieser Möglichkeit, ihr Eigentum zu retten, sie dazu verpflichte, es zu zerstören. Problematisch sei allerdings, dass eine solche Rettung des Baumes erst im nächsten Monat möglich sei. Vorher sei der kontaktierte „Baumdoktor“ bereits „ausgebucht“, und andere Fachleute seien ebenfalls nicht vor nächstem Monat zu bekommen. Jedoch habe mittlerweile der Dauerregen intensivem Sonnenschein Platz gemacht, der Boden um den Baum herum sei gleichsam ausgetrocknet und dieser stehe  daher - was zutrifft - jedenfalls zur Zeit fest wie in Beton. Es bestehe daher gar kein Anlass zu schnellem Handeln. Sollte es wieder anfangen zu regnen und sei der Baum vorher nicht wieder aufgerichtet, könne sie immer noch zumindest die Feuerwehr verständigen, um den Baum absägen zu lassen. Hierzu würde sie sich auch verpflichten, denn schließlich wolle auch sie nicht, dass jemand von dem Baum erschlagen werde.

 

Frau Hubbard-Siontologis fragt Sartorius angesichts dessen, ob der Bescheid rechtmäßig ist und ob das Bezirksamt die von ihr vorgeschlagene Alternative zur Gefahrenbeseitigung akzeptieren muss. Zudem möchte sie wissen, welche Schritte sie einleiten muss, um zu verhindern, dass in den nächsten Tagen das Bezirksamt mit der Säge komme. Sartorius erkennt schnell, dass er diese Fragen in genau dieser Reihenfolge beantworten muss, weil andernfalls die Prüfung völlig durcheinander geht. Er erkennt zudem, dass naturschutzrechtliche Bestimmungen, insbesondere das Berliner Naturschutzgesetz und die Baumschutzverordnung, auf den zu entscheidenden Fall keine Anwendung finden. Daher meint er, dass der Fall durchaus auch von einer oder einem Studierenden der Rechtswissenschaft im fortgeschrittenen Semester gelöst werden könne.

 

Bitte bereiten Sie deshalb die Antwort Sartorius’ in einem Gutachten vor.


Zur zuletzt besuchten Textpassage | Zum Seitenanfang


© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Georg Hellmich
Stand der Bearbeitung: Juli 2014