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Rettung vor der Insolvenz (Sachverhalt)

 

Der große deutsche Automobilkonzern Hurch, ein traditionsreiches Unternehmen, ist von der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 2008 besonders stark betroffen. Einige behaupten, dies liege daran, dass die Autos von Hurch keiner fahren möchte, andere wiederum sehen den Grund darin, dass auslaufende Kredite aufgrund der Marktsituation und des fehlenden Vertrauens der Banken nicht durch neue Kredite abgelöst werden können.

Auch monatelange Kurzarbeit hat nicht geholfen, die Existenz des Unternehmens und mit ihr mehrere zehntausend Arbeitsplätze im Unternehmen selbst sowie in der Zulieferindustrie zu sichern. Der Eigentümer Innozenz Piätsch hat schon fast sein gesamtes Privatvermögen in die Rettung des Unternehmens investiert. Seine intensive Suche nach einem Investor ist aufgrund der allgemein schwierigen Lage nicht von Erfolg gekrönt. Einzig und allein das Unternehmen eines Prinzen aus Katar ist bereit einzuspringen, jedoch ist ihm ohne staatliche Sicherheiten das Risiko zu hoch. Die deutsche Regierung ist nach harten und langwierigen Verhandlungen bereit, durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau ein nachrangiges und verbilligtes Darlehen zu gewähren. Dies würde dem Prinz reichen, um so viel Geld zu investieren, dass die Pleite bei Hurch abgewendet werden könnte. Die Europäische Kommission signalisiert, dass sie bereit wäre, dies auch zu genehmigen. Neben der Rettung der Arbeitsplätze selbst hat die Bundesregierung auch die drohenden sozio-psychologischen Folgen einer solchen Massenarbeitslosigkeit im Blick: sie möchte vermeiden, dass infolge der Arbeitslosigkeit die Ehen und Familien der Betroffenen Schaden nehmen.

Bevor es zu einer endgültigen Entscheidung kommen kann, finden in Deutschland Wahlen statt. Die neugebildete Regierung ist der Ansicht, dass nur eine geordnete Insolvenz das Unternehmen dauerhaft retten kann und der von der vorherigen Regierung ausgearbeitete Rettungsplan kurzfristigen, aber keinen mittel- und langfristigen Erfolg verspricht. Sie bestreitet außerdem, dass die Schwierigkeiten Hurchs nur an der Wirtschaftskrise lägen; vielmehr hätten auch schon vorher strukturelle, selbstverschuldete Probleme bestanden. Der kurzfristigen Rettung von mehreren zehntausend Arbeitsplätzen stünden u.a. die Gefährdung anderer deutscher Automobilbauer entgegen, wie das Beispiel der Rettung des großen deutschen Bauunternehmers Holzmann Ende der 1990er Jahre gezeigt hätte. Etwaige eheliche und familiäre Probleme der entlassenen Mitarbeiter könnten durch die vorhandenen staatlichen wie privaten Programme abgefedert werden.

Um schnell Liquidität zu gewinnen, schließt Hurch als Notlösung einen Vorvertrag mit einem Versicherungsunternehmen über die Übertragung des Bestands der Betriebsvorsorge ab. In diese Betriebsvorsorge haben die Arbeiter der Firma seit 20 Jahren eingezahlt, um so materielle Sicherheit und Freiheit im Alter zu erlangen. Die Betriebsvorsorge ist nicht Be­standteil des frei verfügbaren Vermögens der Firma, sondern von diesem getrennt, so dass es im Fall der Insolvenz komplett erhalten bliebe. Die dort vorhandenen Werte können allerdings nur durch den Verkauf der Betriebsvorsorge für das Unternehmen aktiviert werden. In dem sechs Monate zuvor ordnungsgemäß vom Bundestag beschlossenen Betriebsvorsorgeübertragungsgesetz (BetrVorÜG) wurde der Verkauf des Bestandes der Betriebsvorsorge erleichtert. U.a. schließt das Gesetz die an sich erforderliche Zustimmung des Gläubigers (= Arbeitnehmer) beim Verkauf nach § 415 BGB (Schuldübernahme) aus. Stattdessen sieht es eine aufsichtsbehördliche Zustimmung vor. Dabei ist lediglich zu prüfen, ob Allgemeininteressen der Übertragung entgegenstehen. Außerdem gibt das Gesetz dem Käufer weitgehend freie Verfügungsbefugnis, so dass das Risiko des Verlustes der Ansprüche – insbesondere im Fall der Insolvenz – steigt. Die Aufsichtsbehörde gibt zu verstehen, dass sie – wie in vielen gleich gelagerten Fällen auch hier – keine Schwierigkeiten sieht, die die Genehmigung des Vertrages verhindern könnten, da anscheinend die drohende Insolvenz nur durch die Übertragung abgewendet werden könne.

Die bei Hurch arbeitende Adelheid Dörfle sieht ihre Altersvorsorge aufgrund des Vorvertrages ge­fährdet. Ihr drohen aufgrund der weitgehenden Verfügungsbefugnis des Käufers erhebliche finanzielle Einbußen, die sie nicht verhindern kann, da ihr durch die dadurch unmittelbar bevorstehende Schuldübertragung ein neuer Schuldner entgegen § 415 BGB aufgezwungen werde. Dörfle beklagt nun, dass es der Staat unterlassen habe, ihre Rechte ausreichend zu sichern. Damit sei ihre Altersversorgung gefährdet und es läge eine Verletzung ihrer Privatautonomie sowie ihres Eigentumsrechtes vor. Sie verlangt, dass das BetrVorÜG entsprechend geändert wird. Außerdem ist sie davon überzeugt, dass der ursprüngliche Plan mehrere zehntausend Arbeitsplätze – und u.a. ihren eigenen – retten würde, zumal der an sich zutreffende Vergleich mit den 1990er Jahren aufgrund der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise und aufgrund der unterschiedlichen Branchen keineswegs treffend sei. Die Situation sei eine völlig andere. Sie persönlich sei besonders hart betroffen: Würde Hurch in die Insolvenz gehen müssen, so sei nicht nur ihr Arbeitsplatz verloren, sondern auch ihre Ehe und damit auch ihre Familie, da diese dem Druck des Arbeitsplatzverlustes nicht standhalten würde. Dörfle klagt nun vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Gesetzgeber einerseits und die Bundesregierung andererseits.

Auch Innozenz Piätsch, der durch eine Insolvenz nahezu sein gesamtes Vermögens verlöre, besteht auf staatliche Hilfen. Hierbei beruft er sich auf die Pflicht des Staates, sein Vermögen sowie sein Eigentum zu schützen. Dies sei insbesondere deshalb wichtig, weil sein gesamtes privates Eigentum mit Sicherheiten belegt sei und er im Fall einer Insolvenz in jedem Fall zahlungsunfähig wäre. Dadurch würde er sein Eigentum zwangsläufig verlieren. Aufgrund der geringeren Öffentlichkeitswirksamkeit klagt Piätsch, der Angst hat, mit den „gierigen Managern“ in einen Topf geworfen zu werden, vor dem zuständigen Verwaltungsgericht.

 

Prüfen Sie die Erfolgsaussichten sowohl der Klagen der Dörfle als auch der Klage des Piätsch.

 

 

Bearbeitervermerk: Die Bundesregierung ist für die Stellung des nachrangigen Darlehens zuständig. Dies geschieht mittels einer sog. „Zuweisung“ gegenüber der Kreditanstalt für Wiederaufbau, die nach § 1 Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau eine Anstalt des öffentlichen Rechts ist. Einen Anspruch auf Erteilung einer solchen Zuweisung folgt weder aus dem Gesetz über Kreditanstalt für Wiederaufbau noch aus anderen einfach-gesetzlichen Regelungen. Maßnahmen im einstweiligen Rechtsschutz sowie versicherungsrechtliche Normen sind nicht zu prüfen.


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