Fall 9: Schmerzlinderung

(BGHSt 42, 301)

O liegt im Sterben, schreiend vor lauter qualvoller Schmerzen, obwohl sie über einen Tropf bereits mit schmerzstillenden Mitteln behandelt wird. Als es ihr noch besser ging, hatte sie ihre Ärztin T inständig darum gebeten, sie würdig und schmerzfrei sterben zu lassen. Als T von zwei beigezogenen anderen Ärzten die übereinstimmende Diagnose erhält, O habe nur noch wenige Stunden zu leben, verabreicht T der O eine höhere Dosis des Schmerzmittels, obwohl ihr bekannt ist, dass O hierdurch schneller sterben würde. Die Schmerzen der O nehmen merklich ab. Eine halbe Stunde später ist sie tot. Strafbarkeit der T ?

 

Lösung:

Strafbarkeit nach § 212 I StGB

Indem T der O eine höhere Dosis Schmerzmittel verabreicht und O stirbt, kann T sich nach § 212 I StGB strafbar gemacht haben.

I. Objektiver Tatbestand

Mit dem Tod der O ist der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten. Dieser müsste auch kausal auf der Handlung der T beruhen. Eine Handlung ist dann für den Erfolg ursächlich, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel). Hätte T der O keine höhere Dosis verabreicht, wäre O zwar auch gestorben, aber später. Es wäre also nicht der konkrete Erfolg entfallen, sodass die Beschleunigung des Todeseintritts für die Bejahung der Kausalität genügt.

Fraglich ist aber, ob aus Schutzzweckgesichtspunkten eine Tatbestandsmäßigkeit der erfolgten indirekten Sterbehilfe zu verneinen ist. Darin, dass die auf Schmerzlinderung zielende Medikamentierung bei einem Sterbenden trotz lebensverkürzender Wirkung nicht als Tötungsdelikt strafbar ist, herrscht Einigkeit (Vgl. BGHSt 46, 279 (285), Otto, Jura 1999, 434 (440), Herzberg, NJW 1996, 3043 ff., Martin, JuS 1997, 661, NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 95). Viele wollen eine Straflosigkeit erst auf der Ebene der Rechtfertigung erreichen, wobei die Lösung über den rechtfertigenden Notstand favorisiert wird (BGHSt 42, 301 (305), BGHSt 46, 279 (285), Otto, BT, § 6 Rn. 42, Otto, Jura 1999, 434 (440); Lackner/Kühl, 24. Aufl., Vor § 211 Rn.7 und Kutzer, NStZ 1994, 115). Da § 34 StGB auf die konkrete Situation abstelle, stünde das Rechtsgut Leben einer Anwendung nicht entgegen. Die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit sei – auch vor dem Hintergrund des Art. 1 GG – ein höherwertigeres Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger sterben zu müssen (BGHSt 46, 279 (285)). Hiergegen spricht jedoch nicht nur, dass das Leben als absolutes Rechtsgut in einer Weise wertvoll ist, die jede noch so kleine Zeitspanne als überragendes Rechtsgut ansehen lässt und so auch gegenüber einem schmerzhaften Leben als höherrangiger erscheint (Herzberg, NJW 1996, 3043 (3045 f.)). „Das Leben eines Menschen steht in der Werteordnung des Grundgesetzes – ohne eine zulässige Relativierung – an oberster Stelle der zu schützenden Rechtsgüter“, urteilte der Bundesgerichtshof (BGHSt 46, 279 (288 f.)) und widerlegt damit vor allem mit dem Einschub seine eigene Argumentation zu § 34 StGB.

Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, dass es hier um zwei Rechtsgüter der O geht. Streiten aber zwei Rechtsgüter der verletzten Person miteinander, ist dies der klassische Anwendungsfall der Einwilligung bzw. mutmaßlichen Einwilligung. Eine derartige wird von Roxin dann auch bei der indirekten Sterbehilfe angenommen (Roxin in Roxin/Schroth, Medizinstrafrecht, 96 f.). Dies führt aber zu der kaum dogmatisch zu lösenden Frage, wieso der Fall der indirekten Sterbehilfe nicht in den Anwendungsbereich des § 216 StGB, der Tötung auf Verlangen, fällt, der vor dem Hintergrund des absoluten, vorrangigen Lebensschutzes zeigt, dass die Rechtsordnung selbst die Mitwirkung eines anderem an einer freiverantwortlichen Selbsttötung missbilligt (BGHSt 46, 279 (288 f.)) und daher nach § 216 StGB strafbar stellt. Selbst eine derartige Strafbarkeit soll aber vermieden werden.

Dies kann nur gelingen, wenn man erkennt, dass sich die schmerzlindernde Medikamentierung nicht gegen das Leben des Patienten richtet, sondern die einzige Möglichkeit bildet, „mit deren Hilfe der Arzt dem ohnehin erlöschenden Leben noch dienen und es für den Leidenden erträglich gestalten“ kann (Wessels/Hettinger, BT 1, Rn.32, Herzberg, NJW 1996, 3043 (3048), LK/Jähnke, 11.Aufl., Vor § 211 Rn. 16, Tröndle, ZStW 99 (1987), 37 und Tröndle/Fischer, 52.Aufl., Vor § 211 Rn.20). Ist die Tat aber nicht gegen das Rechtsgut Leben des Patienten gerichtet, so fällt es aus dem Schutzzweck des § 212 I StGB heraus.

II. Ergebnis

A hat sich somit nicht nach § 212 I StGB strafbar gemacht.