Fall 3: Der
vermeintliche Einbrecher
(BGHSt 39, 195)
Rechtsanwalt A saß am späten Abend mit seinem Duzbekannten und Mandanten S im Obergeschoss seines Einfamilienhauses bei der Erörterung privater Dinge, wobei sie auch Alkohol tranken. Außer ihnen befand sich niemand mehr im Haus. Gegen 22.30 Uhr verabschiedete A den S im Obergeschoss. S blieb jedoch aus ungeklärten Gründen im Haus. Zehn Minuten später vernahm A Geräusche im Erdgeschoss und vermutete einen Einbrecher im Haus. Er nahm seinen geladenen Revolver, spannte den Hahn und trat, ohne weiteres Licht einzuschalten, an den oberen Treppenabsatz. Trotz der Dunkelheit sah er in gut drei Meter Entfernung die Umrisse einer Person, die keine Bewegungen machte. Er schoss auf die Person mit bedingtem Tötungsvorsatz und kehrte sogleich in die Zimmer im Obergeschoss zurück, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Der Schuss durchdrang den Brustkorb des S, war aber nicht sofort tödlich. Mühsam schleppte er sich ins Wohnzimmer, wo er in die Knie ging. Dieses Poltergeräusch vernahm A, der mit dem Revolver in der Hand die Treppe ins Erdgeschoss hinunterging, die Wohnzimmertür aufriss und ohne in das Wohnzimmer zu schauen (ohne Tötungsvorsatz) einen Schuss abgab. Die Kugel drang durch Kinn und Hals des S, blieb im Rücken stecken und war nach ihrer Art ebenfalls tödlich. S starb an den vielfachen, durch die beiden Schüsse entstandenen Organverletzungen. Strafbarkeit des A ?
A kann sich durch den ersten Schuss auf S, der an Schussverletzungen starb, nach § 212 I StGB strafbar gemacht haben.
1. Objektiver Tatbestand
Mit dem Tod des S ist der tatbestandliche Erfolg eingetreten.
Fraglich ist aber, ob S diesen mit dem ersten Schuss kausal verursacht hat. Eine Bedingung ist kausal für den Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel). Ob der Erfolg jedoch auch ohne den ersten Schuss eingetreten wäre, ist fraglich, da S letztlich an den durch die beiden Schüsse entstandenen Organverletzungen starb. Aus der Formulierung, dass die zweite Kugel „ebenfalls tödlich“ war, ergibt sich, dass beide Schüsse für sich ausgereicht hätten, um den Tod des S herbeizuführen. Es liegt somit eine Konstellation der sogenannten alternativen Kausalität vor. Während einige betonen, dass beide Schüsse zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden könnten und die conditio-sine-qua-non-Formel daher in der Weise zu modifizieren sei, dass beide Bedingungen kausal sind, damit es nicht beide nicht sind, ist es dogmatischer, darauf abzustellen, dass beim Hinwegdenken einer Bedingung der Erfolg nicht in seiner „konkreten“ Gestalt entfallen dürfe. Der konkrete Erfolg liegt im Tod, verursacht durch die Verletzungen beider Schüsse. Dieser Tod wäre nicht eingetreten, denkt man den ersten Schuss weg, sodass er für den konkreten Erfolg ursächlich war.
A hat den objektiven Tatbestand des § 212 I StGB verwirklicht.
2. Subjektiver Tatbestand
Dies tat er auch bedingt vorsätzlich.
II. Rechtswidrigkeit und Schuld
Mangels Vorliegens von Rechtsfertigungs- und Entschuldigungsgründen geschah die Tat rechtswidrig und schuldhaft.
III. Ergebnis
A hat sich wegen des ersten Schusses nach § 212 I StGB strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit nach § 212 I StGB wegen des zweiten
Schusses
Eine Strafbarkeit nach § 212 I StGB wegen des zweiten Schusses scheitert am Tötungsvorsatz des A.
C. Strafbarkeit nach § 222 StGB wegen des zweiten
Schusses
Aufgrund des zweiten Schusses auf S kann sich A nach § 222 StGB strafbar gemacht haben.
I. Tatbestandsmäßigkeit
1. Mit dem Tod des S ist der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten.
2. Nach den obigen Ausführungen war in der vorliegenden Konstellation der alternativen Kausalität zwischen beiden Schüssen auch der zweite Schuss für sich kausal für den konkreten Erfolg.
3. Den Schuss müsste A fahrlässig abgegeben haben. Fahrlässig handelt, wer bei objektiver Vorhersehbarkeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dies ist am Maßstab eines objektiven Dritten in der konkreten Lage (ex ante) und sozialen Rolle des Täters zu beurteilen. Nachdem A ein Geräusch aus dem Wohnzimmer gehört hatte, war es klar, dass sich möglicherweise ein Mensch in diesem aufhielt. Dennoch blind in das Zimmer eine Kugel abzufeuern, war daher sorgfaltspflichtwidrig. Dass hierbei ein Mensch getroffen werden könnte, war zudem objektiv vorhersehbar.
4. Der Tod beruht auch auf dieser Pflichtwidrigkeit.
5. Die Tatbestandsmäßigkeit ist damit gegeben.
II. Rechtswidrigkeit und
Schuld
Mangels Rechtfertigungsgründen geschah die Tat rechtswidrig. Da A in der Lage war, die Sorgfaltswidrigkeit seines Verhaltens zu vermeiden und die Möglichkeit des Todes eines Menschen zu erkennen, handelte er mangels Vorliegens eines Entschuldigungsgrundes auch schuldhaft.
III. Ergebnis
A hat sich wegen des zweiten Schusses damit auch nach § 222 StGB strafbar gemacht.
D. Konkurrenzen und Ergebnis
Die mit zwei Handlungen verwirklichten Delikte schützen das gleiche Rechtsgut, wobei die fahrlässige Tötung unrechtsgeringer ist, sodass sie als mitbestrafte Nachtat hinter die vorsätzliche Tötung zurücktritt. A ist somit (nur) strafbar gemäß § 212 I StGB.