Fall 22: Der neue Lebensgefährte

(BGH, NJW 2003, 1060)

Der A lebte in Hausgemeinschaft mit F und deren zweijähriger Tochter T. In Abwesenheit der F misshandelte er die T lebensbedrohlich. Den Tod des Kindes nahm er dabei in Kauf. Obwohl A erkannt hatte, dass das schwerverletzte Kind ohne alsbaldige ärztliche Hilfe sterben würde, unternahm er nichts zu seiner Rettung. Als die F wenig später eintraf und sofort einen Notarzt herbeirufen wollte, überredete er sie, damit noch zu warten. Um seiner Bestrafung zu entgehen, wolle er einen Einbruch vortäuschen und später behaupten, das Kind sei durch unbekannte Eindringlinge in seiner Abwesenheit misshandelt worden. F solle seine Angaben bestätigen. Um diese Tatversion glaubhaft erscheinen zu lassen, verständigten A und F erst nach etwa eineinhalb Stunden den Rettungsdienst und die Polizei. T verstarb. Bei unverzüglicher Verständigung eines Notarztes wäre sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden. Der Polizei gelang es, den wahren Tathergang zu ermitteln. Strafbarkeit des A ?

 

Lösung:

I. Strafbarkeit nach § 212 I StGB

Indem A die T misshandelte und sie an den Verletzungen starb, hat er kausal ihren Tod herbeigeführt, was er aufgrund seines billigenden Inkaufnehmens mit Eventualvorsatz sowie rechtswidrig und schuldhaft tat und sich damit nach § 212 I StGB strafbar gemacht hat.

 

II. Strafbarkeit nach §§ 223 I, 224 I Nr.5, 227 StGB

Die mit dem Totschlag zugleich begangene schwere Körperverletzung mit Todesfolge(§§ 223 I, 224 I Nr. 5, 227 StGB), die er aufgrund der Körperverletzung als notwendiges Durchgangsstadium auch vorsätzlich sowie rechtswidrig und schuldhaft verwirklichte, tritt konkurrenzrechtlich (Subsidiarität) zurück.

 

III. Strafbarkeit nach §§ 212 I, 211, 13 I StGB

Indem A nach der lebensbedrohlichen Misshandlung der T keine ärztliche Hilfe holte, kann er sich nach §§ 212 I, 211, 13 I StGB strafbar gemacht haben.

1. Objektiver Tatbestand

a. Mit dem Tod der T ist der tatbestandliche Erfolg eingetreten.

b. Dies geschah aufgrund der Nichtvornahme einer rechtlich gebotenen Handlung durch A, obwohl dieser dazu physisch-real in der Lage gewesen wäre. Hätte A die Handlung vorgenommen, so wäre die T mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden, sodass das Unterlassen des A auch hypothetisch kausal für den Tod war.

c. Fraglich ist aber, ob A auch „rechtlich dafür einzustehen“ hatte, dass der Todeserfolg nicht eintrat, ihn also eine Garantenstellung traf.

aa. Eine derartige könnte man zunächst aufgrund eines pflichtwidrigen Vorverhaltens in Form der Misshandlungen annehmen. Hiermit würde man dem T, der  bei den Misshandlungen den Tod der T billigend in Kauf genommen hat, die Pflicht auferlegen, den Erfolg nach seiner Handlung abzuwenden. Derartiges ist vom Bundesgerichtshof in einer Aussetzungsentscheidung abgelehnt worden (BGH, NStZ-RR 1996, 131). Demgegenüber könnte man jedoch vertreten, dass jede Vornahme und Nichtvornahme einer einzelnen Körperbewegung, die für sich einer Willenssteuerung zugänglich ist, durch eine gesonderte Verhaltenspflicht beeinflusst werde und daher Gegenstand einer Verhaltenspflicht sein könne, die auf die Vornahme einer Rettungshandlung ziele. Daher treffe jeden Verursacher eines Risikos zugleich die Pflicht, diese abzuwenden; das begehungsgleiche Unterlassen scheide jedoch in der Regel im Wege der Gesetzeskonkurrenz aus (so Stein, JR 1999, 265 (267) und Sch/Schr/Stree, 26. Aufl., § 13 Rn. 38). Anders soll dies nur dann sein, wenn sich an einen Totschlags durch Tun ein Mord durch Unterlassen anschließe (Sch/Schr/Stree, 26. Aufl., Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 107). Auf diese Weise würde jedoch aus jedem Begehungsdelikt ein Begehungsdelikt und ein Unterlassungsdelikt aufgrund der Garantenstellung der Ingerenz und letztlich, insoweit der Täter in den meisten Fällen bei längerem Todeskampf dem Opfer nicht hilft, um den Todeserfolg herbeizuführen und seine eigene Strafbarkeit nicht entdecken zu lassen, aus fast jedem Totschlag ein Mord. Dies widerspricht jedoch einerseits der Systematik der §§ 211, 212 StGB, wonach der Totschlag der Grundfall, das Grunddelikt darstellt, und zum anderen der Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Kann ein Verhalten sowohl als Tun als auch als Unterlassen interpretiert werden, so gilt es beide Begehungsweisen voneinander abzugrenzen. Während einige darauf abstellen, ob der Täter Energie einsetzt (vgl. Engisch, FS Gallas, 163 (170 ff.) und Brammsen, GA 2002, 193 (200 ff., 209 ff.)), erkennt die Rechtsprechung, dass es sich maßgeblich um eine Wertungsfrage handelt und entscheidet nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit (BGHSt 6, 46 (59), BGH, NStZ 1999, 607 sowie BGH, NJW 2003, 657). So praktisch vorteilhaft diese Abgrenzung ist, so sehr ist sie dem Einwand ausgesetzt, dass sich mit ihr mit entsprechender wertender Begründung jedes Ergebnis erzielen lasse, das unser vages Gerechtigkeitsgefühl erstrebt (vgl. hierzu Geppert, JK 4/04, StGB § 13/38). Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, die Abgrenzung nach dem Kriterium der Begehungskausalität vorzunehmen. Man geht daher zunächst von aktivem Tun aus und fragt danach, ob der aktive Energieaufwand in kausalitätsrelevanter und zurechenbarer Weise zu einem tatbestandlichen Erfolg geführt hat (Roxin, AT II, § 31 Rn. 78 ff., Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl., S. 603 und Geppert, JK 4/04, StGB § 13/38). Legt man dies zugrunde, so ist A ein Tun vorzuwerfen und die nachfolgende Unterlassung als Begleiterscheinung abzutun. Eine Garantenstellung aus Ingerenz bestand somit nicht.

bb. Im gleichen Sinne kann eine Garantenstellung aufgrund eines übernommenen Obhutsverhältnisses für das Kind nicht dazu führen, dass aus einem Begehungsdelikt ein Unterlassungsdelikt wird, abgesehen davon, dass die Aufnahme einer Person in eine Wohnung grundsätzlich noch keine Garantenpflicht begründet, sondern die Garantenstellung aufgrund freiwilliger Übernahme eine Frage des Einzelfalles darstellt, für deren Bejahung es an zusätzlichen Angaben im Sachverhalt fehlt (vgl. hierzu Tröndle/Fischer, 52. Aufl., § 13 Rn. 8).

2. Ergebnis

A hat sich damit nicht nach §§ 212 I, 211, 13 I StGB strafbar gemacht.

 

IV. Strafbarkeit nach §§ 212 I, 211, 13 I, 26 StGB

Indem A die F dazu überredete, erst nach längerer Zeit den Notarzt für die lebensbedrohlich verletzte T zu rufen, kann er sich nach §§ 212 I, 211, 26 StGB strafbar gemacht haben.

1. Objektiver Tatbestand

a. Hierzu müsste zunächst eine tatbestandsmäßig-vorsätzliche und rechtswidrige (nicht aber notwendigerweise schuldhafte) Haupttat von Seiten der F vorliegen. Diese könnte in einem Mord durch Unterlassen liegen.

aa. Obwohl es ihr möglich gewesen ist, den Notarzt zu rufen, tat sie es nicht und verursachte damit, insoweit mit einem Verständigen des Notarztes T mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können, hypothetisch kausal den Tod der T. Hierfür hat sie aufgrund ihrer Beschützergarantenstellung für ihr Kind (§ 1626 I BGB) rechtlich einzustehen. Zudem entspricht ihr Unterlassen dem Tun.

bb. Das Unterlassen könnte zudem heimtückisch gewesen sein. Heimtücke ist die bewusste Ausnutzung der auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit. Zwar können bereits Kleinkinder eine natürliche Arglosigkeit bezüglich des Schluckmechanismus beim Essen von Babynahrung haben oder ähnliches, gegenüber körperlichen Angriffen jedoch nicht, da sie eh nicht in der Lage sind, einem anderen positives Vertrauen entgegenzubringen und die böse Absicht des Täters zu erkennen und aus diesem Grunde dem Angriff entgegenzutreten (BGHSt 4, 11 (13) und BGHSt 8, 216; vgl. auch Geppert, JK 96, StGB § 211/27). Bei der zweijährigen T als Opfer ist damit Heimtücke abzulehnen.

cc. F handelte bezüglich des Todes der F zumindest bedingt vorsätzlich aufgrund der eindeutig lebensgefährlichen Unterlassung. Zudem könnte sie mit der Verdeckungsabsicht ein subjektives Mordmerkmal verwirklicht haben. Die andere Tat iSd § 211 StGB könnte die Misshandlung durch A gewesen sein. Zwar spricht das Gesetz nur vom Verdecken einer anderen Straftat, es ist hierbei aber anerkannt, dass es sich nicht notwendigerweise um eine Straftat des Täters handeln muss, sondern auch um eine Straftat eines anderen (BGHSt 9, 180). Verdeckungsabsicht lag somit vor.

dd. Da F zudem rechtswidrig gehandelt hat, ist mit ihrem Verdeckungsmord durch Unterlassen eine teilnahmefähige Haupttat gegeben.

b. Zu dieser hat A den Tatentschluss in der F geweckt und sie damit zur Tat bestimmt.

2. Subjektiver Tatbestand

A handelte bezüglich des Todeserfolges sowie hinsichtlich des Bestimmens vorsätzlich (doppelter Anstiftervorsatz).

3. Tatbestandsannex: § 28 Abs. 2 StGB

Fraglich ist aber, ob aufgrund von § 28 Abs. 2 StGB eine Tatbestandsverschiebung in der Weise vorzunehmen ist, dass er nur als Anstifter zum Totschlag verurteilt werden kann.

a. Hierzu müsste zunächst ein besonderes persönliches Merkmal (§ 14 I StGB), also ein täterbezogenes Merkmal bei F vorgelegen haben, das bei A fehlt. Dies könnte die Verdeckungsabsicht der F sein. Es stellt sich damit die Frage, ob A nicht selbst auch die Absicht verfolgte, seine vorangegangenen, tödlichen Misshandlungen zu verdecken. Dann müsste es sich bei der Misshandlung um eine „andere Tat“ gehandelt haben. Hierbei bedarf es zwar nicht unbedingt einer selbständigen Tat iSd § 264 StPO, aufgrund der Absolutheit der Strafandrohung des Mordes ist das Mordmerkmal aber in der Weise restriktiv einzuschränken, dass eine „andere Tat“ dann nicht mehr gegeben ist, wenn der Täter mit Tötungsvorsatz eine Handlung vornimmt und diese ohne zeitliche Zäsur in die Verdeckungshandlung durch Tun oder unmittelbar in ein zu verdeckendes Unterlassen einmünden. Im Zweifel, ob bereits die erste Handlung in Tötungsabsicht vorgenommen wurde, ist ein von Anfang an bestehender Tötungsvorsatz in dubio pro reo anzunehmen (vgl. BGH, NStZ 2000, 498 f.; BGH, NStZ 2002, 253; BGH, NStZ 2003, 312 f.). Einzig an eine zeitliche Zäsur könnte man denken, da die F erst später eintraf. Da sie laut Sachverhalt aber nur „wenig später“ hinzukam, ist zugunsten des A von einer fehlenden zeitlichen Zäsur auszugehen, so dass er mit den Schlägen und der Anstiftung der F eine einheitliche Tötungstat begehen wollte. Er wollte daher keine „andere“ Tat verdecken und handelte so ohne Verdeckungsabsicht, so dass bei ihm ein täterbezogenes Merkmal fehlte.

b. Dieses müsste, damit § 28 II StGB anwendbar ist, die Strafe schärfen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn es sich beim Mord um eine Qualifikation des Totschlags handeln würde. Dies wird von der Rechtsprechung abgelehnt. Der Mord stehe systematisch vor dem Totschlag, während ansonsten der Grundtatbestand stets vor der Qualifikation stehe. Zudem werde im Gegensatz etwa zum Räuber und schweren Räuber der Täter mit „Totschläger“ und „Mörder“ unterschiedlich bezeichnet (siehe die ständige Rechtsprechung seit BGHSt 1, 368 (370 ff.)). Demgegenüber erklärt sich die Stellung von §§ 211, 212 StGB jedoch aus der Wichtigkeit des § 211 StGB. Hinzu kommt, dass aus systematischer Sicht der Tatbestand des § 212 StGB in jenem des § 211 StGB vollständig enthalten ist und damit zweifellos § 211 StGB in dogmatischer Sicht ein Qualifikationstatbestand ist. Schließlich beruht das deutsche StGB auf dem schweizerischen Strafgesetzbuch, bei dem der Umstand, dass § 211 StGB die Qualifikation von § 212 StGB darstellt, unstreitig ist. Die Unterscheidung daher alleine aufgrund der unterschiedlichen Täterbezeichnung vorzunehmen, stellt eine Rückkehr zur alten Tätertypenlehre dar, die als überwunden gilt (vgl. zum Streit Sch/Schr/Eser, 26. Aufl., Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 5 f.). Der Mord ist daher als Qualifikationstatbestand anzusehen, so dass die Verdeckungsabsicht ein strafschärfenden, persönliches Merkmal iSd § 28 II StGB darstellt.

c. Folge des Fehlens beim Teilnehmer ist nach § 28 II StGB, dass das Gesetz, das das Merkmal voraussetzt, für den Teilnehmer nicht gilt. Dies lässt sich auf zwei Wege herstellen. Zum einen könnte man eine Verurteilung als Anstifter zum Mord vornehmen und auf der Rechtsfolgenseite erst eine Strafrahmenverschiebung vornehmen (so LK/Roxin, 11. Aufl., § 28 Rn. 4 ff.), zum anderen die Verschiebung bereits auf der Tatbestandsseite  (sog. Tatbestandsverschiebung) vornehmen (so Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl., S. 657 ff., Wessels/Beulke, AT, 34. Aufl., Rn. 557 und Sch/Schr/Cramer/Heine, 26. Aufl., § 28 Rn. 28). Für letzteres spricht maßgeblich der umgekehrte Fall, dass ein strafmildernder Umstand fehlt: In dieser Konstellation müssten die Anhänger der Strafrahmenverschiebung nach dem härteren Gesetz verurteilen und contra legem nach einem anderen Strafrahmen verurteilen, den das Gesetz an sich nicht hergibt (z.B. wegen Anstiftung zum Mord, wegen fehlender Verdeckungsabsicht beim Täter aber – obwohl der Anstifter wie der Täter bestraft wird – entgegen der absoluten Strafandrohung des § 211 StGB eine Freiheitsstrafe mit höchstens 15 Jahren aussprechen). Dies lässt sich nur erklären, wenn man von vornherein § 28 StGB als Durchbrechung der Akzessorietät ansieht.

Der Tatbestand ist daher so zu verschieben, dass A nur nach §§ 212 I, 13 I, 26 StGB bestraft werden kann.

4. Rechtswidrigkeit und Schuld

A handelte rechtswidrig und schuldhaft.

5. Ergebnis

A hat sich nach §§ 212 I, 13 I, 26 StGB strafbar gemacht.

 

V. Strafbarkeit nach §§ 258 I Var.1, 26 StGB

Zugleich hat A die F mit dem Überreden, den Notarzt erst später zu holen, um einem Einbrecher die Schuld am Tod des Kindes geben zu können, sie zu einer Strafvereitelungshandlung (Es genügt, wenn die Strafverfolgung um geraume Zeit – 2 Wochen – verzögert wird, damit § 258 StGB vollendet ist !) angestiftet. Dies tat er zwar vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Er kann aufgrund von § 258 V StGB aber nicht bestraft werden.

 

VI. Strafbarkeit nach §§ 145d I Nr.1, II Nr.1 StGB

Durch seine falschen Aussagen gegenüber der Polizei, nach § 158 StPO einer zur Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Stellen, dass ein Einbruchsdiebstahl (§ 244 I Nr. 3 StGB), der tatsächlich gar nicht begangen wurde, begangen worden sei, hat A eine Straftat vorgetäuscht (§ 145 I Nr. 1 StGB) und mit dem Umlenken auf einen anderen Täter hinsichtlich der Misshandlungen die Stelle zugleich über den Täter zu täuschen gesucht. Dies geschah rechtswidrig und schuldhaft, sodass sich A sich nach § 145d I Nr. 1 StGB und § 145d II Nr. 1 StGB strafbar gemacht hat. Insoweit die Vortäuschung der Straftat den Sinn verfolgte, seine Täterschaft zu verdecken, verdrängt § 145d I Nr. 1 StGB den § 145d II Nr. 1 StGB konkurrenzrechtlich (vgl. BGHR § 145d II Nr. 1 Täuschen 1).

 

VII. Konkurrenzen

Der Totschlag sowie die Anstiftung zum Verdeckungsmord und das Vortäuschen einer Straftat gegenüber den Polizeibeamten erfolgten jeweils durch eine eigenständige Handlung, sodass Tatmehrheit anzunehmen ist.

 

VIII. Ergebnis

A hat sich somit nach §§ 212 I; 212 I, 13 I, 26; 145d I Nr. 1; 53 I StGB strafbar gemacht.