Fall 2: Besser
aufpassen !
(BGH, NStZ 2004,
151 mit Anm. zur Vorinstanz Schatz, NStZ 2003, 581 ff.)
S war wegen schwerwiegender Sexual- und Körperverletzungsdelikte zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Als er entlassen wurde, ordnete das Vormundschaftsgericht seine Unterbringung als psychisch Kranker in eine Anstalt an, da er wegen einer Persönlichkeitsstörung eine Gefahr für Leib und Leben anderer, insbesondere möglicher Partnerinnen sei. Nach mehrere Ausbruchsversuchen und einem gelungenen, bei dem er aber verhaftet worden war, wurde er in die von A als Chefarzt geleitete Abteilung des Landeskrankenhaus Brandenburg eingewiesen. Obwohl die Stationsärztin den A von einem erneuten Ausbruchsplan informierte und zu besonderer Vorsicht mahnte, ordnete A an, dass S unbeaufsichtigt ausgehen durfte. Ihm waren zwar die früheren Straftaten des S bekannt und er wusste auch, dass S einen früheren Ausgang zu einer Vergewaltigung missbraucht hatte, er hielt ihn aber für eh nicht therapiefähig. Von dem Spaziergang mit seiner Freundin kehrte S nicht zurück. Er hielt sich monatelang in Berlin verborgen, wobei er mehrere Straftaten beging, unter anderem zwei Morde an O und P. Strafbarkeit des A, der sich damit verteidigt, dass es zum Mord durch den in den nächsten Tagen zu erwartenden Ausbruch eh gekommen wäre ?
Lösung:
A kann sich durch die Anordnung des unbeaufsichtigten Ausgangs des S, der den O umbrachte, gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben.
1. Mit dem Tod des O ist der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten.
2. Diesen müsste A kausal verursacht haben. Die Anordnung des A war für den Tod des O kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel). Hätte A den S nicht unbeaufsichtigt Ausgang zugestanden, hätte dieser den O nicht umbringen können.
a) Zweifeln könnte man am Kausalzusammenhang aber deswegen, weil es letztlich die freie Entscheidung des S war, den O umzubringen und man daher eine Unterbrechung des Kausalverlaufes und die Ingangsetzung eines völlig neuen Kausalverlaufes annehmen könnte. Diese ist aber abzugrenzen von den Fällen, in denen die erste Ursachenreihe die zweite erst ermöglicht und daher trotz der zweiten Ursachenreihe fortwirkt. So konnte S den O nur umbringen, da A ihm durch die Anordnung des unbeaufsichtigten Ausgangs die Gelegenheit hierzu gab. Der Kausalzusammenhang wurde somit nicht unterbrochen (vgl. BGHSt 45, 270 (195)).
b) Eine Ursächlichkeit des pflichtwidrigen Verhaltens des A könnte schließlich zweifelhaft sein, weil S einen Ausbruch plante und möglicherweise nach einem solchen Ausbruch ebenfalls den Mord an O begangen hätte (so LG Potsdam, Urt. v. 18.10.2002, 23 KLs 1/02). Im Rahmen der Kausalitätsbetrachtungen darf jedoch nur auf den Erfolg in seiner konkreten gestalt abgestellt werden unter Hinwegdenken einzig des Täterverhaltens. Hierzu führt der BGH, NStZ 2004, 151 f. aus: Hinwegzudenken und durch das korrespondierende sorgfaltsgemäße Verhalten zu ersetzen ist daher nur der dem Täter vorwerfbare Tatumstand; darüber hinaus darf von der konkreten Tatsituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden [...] Das LG hätte deshalb das pflichtgemäße Verhalten [des] Angeklagten, die Untersagung des Ausgangs, nur mit solchen gedachten alternativen Geschehen in Verbindung setzen dürfen, die der konkreten Tatsituation zuzurechnen wären. Dazu zählt aber die von der StrK herangezogene Möglichkeit eines gewaltsamen Ausbruchs nicht. Dieser hätte einer völlig außerhalb des Tatgeschehens liegenden autonomen Willensbildung des S bedurft (vgl. Schatz, NStZ 2003, 581), [...]
c) Der Tod beruhte damit kausal auf dem Verhalten des A.
3. A müsste ferner fahrlässig gehandelt haben. Fahrlässig handelt, wer bei objektiver Vorhersehbarkeit die im verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dies ist nach den Anforderungen an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage des Täters (ex ante) und seiner sozialen Rolle zu beurteilen. Angesichts des Zwecks der Unterbringung, die Öffentlichkeit vor Gewalttätern zu schützen, stellt die Anordnung eines unbeaufsichtigten Ausgangs eines Gewalttäters, der bereits einen Ausgang für eine Vergewaltigung nutze, eine Sorgfaltspflichtverletzung dar. Dass S bei diesem Ausgang weitere Verbrechen beging, war anhand seiner bisherigen Taten sowie seiner Psyche auch objektiv vorhersehbar. A handelte demnach fahrlässig.
4. Der Erfolg müsste schließlich durch die Fahrlässigkeit eingetreten sein, also durch die Pflichtverletzung (Pflichtwidrigkeitszusammenhang). Zweifel hieran ergeben sich einzig unter dem Gesichtspunkt des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Nach den obigen Ausführungen darf man aber auch hier nur darauf abstellen, dass A den Ausgang verweigert und S nicht ausgebrochen wäre. Der Tod des O beruhte dann aber zweifelsohne auf der pflichtwidrigen Handlung des A.
5. A hat damit den Tatbestand des § 222 StGB verwirklicht.
II. Rechtswidrigkeit und
Schuld
Mangels Rechtfertigungsgründen geschah die Tat rechtswidrig. Da A in der Lage war, die Sorgfaltswidrigkeit seines Verhaltens zu vermeiden und die Möglichkeit des Todes eines Menschen zu erkennen, handelte er mangels Vorliegens eines Entschuldigungsgrundes auch schuldhaft.
III. Ergebnis
A hat sich damit nach § 222 StGB zu Lasten des O strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit nach § 222 StGB zu Lasten des P
Da S infolge des von A pflichtwidrig genehmigten Ausgangs auch den P umgebracht hat, hat sich A entsprechend den obigen Ausführungen auch nach § 222 StGB zu Lasten des P strafbar gemacht.
C. Konkurrenzen und Ergebnis
A hat beide Todeserfolge durch die Genehmigung des Ausgangs und damit durch eine Handlung verursacht, sodass zwischen beiden fahrlässigen Tötungen Tateinheit besteht (§ 52 I StGB). A ist daher wegen zweifacher fahrlässiger Tötung zu bestrafen.