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Das Kreuz der NeymAir (Kurzlösung)

Die Beschwerden von Julio und Frederike haben Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet sind.

A. Zulässigkeit

I. Vereinbarkeit ratione temporis (+)

II. Vereinbarkeit ratione loci Art. 1 EMRK (+)

Art. 1 EMRK; alle der Herrschaftsgewalt eines Mitgliedstaates unterstehenden Personen haben Rechte der EMRK.

Hier: beide Beschwerdeführer unterstehen der Hoheitsgewalt Neymos; Julio ist spanischer Staatsbürger, er befindet sich aber auf dem Territorium Neymos und es handeln neymonische Behörden sowie ein neymonisches Verwaltungsgericht.

III. Vereinbarkeit ratione materiae

Art. 34 EMRK, Beschwerdegegenstand jeder Akt einer der Vertragsparteien;

hier: unterschiedliche Beschwerdegegenstände

Für beide Beschwerdeführer gleich: Erklärung Neymos, mit der Neymo bestimmt hat, dass sich die Auslegung der Konventionsrechte im Rahmen der Verfassung Neymos bewegen müsse. Fraglich ist, ob diese Erklärung u.U. die Anwendbarkeit von Art. 9 und 11 EMRK ausschließt. Dies wäre dann der Fall, wenn die Interpretationserklärung als Vorbehalt zu werten wäre, ein solcher Vorbehalt unzulässig ist und schließlich aus der Unzulässigkeit des Vorbehalts auch die Unwirksamkeit des Vorbehalts folgt.

 

1. Vorbehalt

a) Interpretationserklärung oder Vorbehalt?

Nach Art. 2 lit. d) WVK (entspricht Völkergewohnheitsrecht), kommt es nicht auf die Bezeichnung der Erklärung an.

Zielt „Interpretationserklärung“ auf eine Verringerung der Vertragspflichten ab, dann Vorbehalt. Liegt sie hingegen noch im Rahmen der Auslegung, dann Interpretationserklärung. Diese sind uneingeschränkt zulässig, Vorbehalte hingegen können unzulässig sein.

Aber: WVK findet ratione temporis keine Anwendung auf die EMRK.

Jedoch kodifiziert die WVK zum Großteil Gewohnheitsrecht.

Erklärungen, die wie hier die völkerrechtlichen Regeln unter den Vorbehalt nationalen (Verfassungs-)Rechts stellen, sind Vorbehalte.

Dies ist unabhängig davon, ob das nationale Recht momentan Modifikationen vornimmt, denn das nationale Recht kann jederzeit den Inhalt der völkerrechtlichen Norm ändern. Es liegt also ein Vorbehalt vor.

b) Zulässigkeit des Vorbehalts

- Vorbehalte sind grdsl. zulässig, wenn nicht ausdrücklich ausgeschlossen und mit Ziel und Zweck des Vertrages vereinbar (vgl. Art. 19 WVK).

- kein ausdrückliches Verbot von Vorbehalten in der EMRK; Art. 57 EMRK schließt aber Vorbehalte allgemeiner Art aus

Der Vorbehalt ist unzulässig, wenn er allgemeiner Art ist (Art. 57 EMRK) oder gegen Ziel und Zweck verstößt (Art. 19 WVK).

(1) Unzulässigkeit nach Art. 57 EMRK (+)

- Vorbehalt muss sich auf bestimmtes Gesetz beziehen: Hier: Verfassung

- Er muss klar, bestimmt und genau sein und sich auf bestimmten Konventionsartikel beziehen. Nach der Rspr. genügt ein Verweis auf allgemeine Vorschriften in der Verfassung nicht. Dies ist hier der Fall: der Vorbehalt bezieht sich auf die gesamte Verfassung und schränkt nicht einen bestimmten Artikel der EMRK ein. Er ist damit zu allgemein.

 

(2) Unzulässigkeit nach in Art. 19 WVK kodifiziertem Völkergewohnheitsrecht

Verstoß gegen Sinn und Zweck der EMRK?

Ziel und Zweck von Menschenrechtsverträgen ist die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen

Aber: Damit würde jeder Vorbehalt gegen einen allgemeinen Menschenrechtsvertrag einen Verstoß gegen Ziel und Zweck darstellen. Vorbehalte werden in Art. 57 EMRK aber grdsl. anerkannt.

Nach dem Entwurf der Völkerrechtskommission zum Vorbehaltsregime, muss für Bejahung eines Verstoßes gegen Ziel und Zweck des Vertrages ein für die Hauptrichtung des Vertrages essentielles Element betroffen sein.

Durch eine Unterstellung der EMRK unter das nationale Recht wird es nahezu unmöglich festzustellen, welche Pflichten aus dem Vertrag einen Staat treffen; Nationale Regelungen können sich jederzeit ändern; Eine solche Feststellung ist aber hinsichtlich der Überwachungsmechanismen notwendig. Die Unterstellung verhindert eine effektive Überwachung und Wirksamkeit der Konventionsrechte, und steht damit ihrem Ziel und Zweck entgegen.

Ziel und Zweck eines Menschenrechtsvertrages besteht zudem auch darin, dass seine Verpflichtungen im nationalen Recht implementiert werden. Die Implementierung der Rechte wird aber verhindert, wenn nationales Recht Völkerrecht im Konfliktfall verdrängt. Dass der Vorbehalt von Neymo unzulässig ist, wird zusätzlich belegt durch die drei Einsprüche gegenüber dem Vorbehalt.

Deswegen: Der Vorbehalt Neymos ist unzulässig.

c) Rechtsfolge eines unzulässigen Vorbehalts

- Nach WVK: Erfolgt keine Zurückweisung des Vorbehalts, so tritt der Vertrag für die den Vorbehalt einlegende Partei in der Form des Vorbehalts in Kraft. (Art. 20 Abs. 4 lit. b) WVK). Erfolgt Zurückweisung, so werden beide Parteien keine Vertragspartner. Tritt der Vertrag in Kraft, so finden die Bestimmungen auf die sich der Vorbehalt bezieht keine Anwendung (Art. 21 Abs. 3 WVK).

Die WVK regelt aber nur den Einspruch gegen Vorbehalte, nicht die Folge von unzulässigen Vorbehalten.

- EGMR vertritt sog. Trennbarkeits-Theorie. Danach werden unzulässige Vorbehalte und Normen voneinander getrennt. Die mit dem Vorbehalt belastete Norm ist damit nicht etwa partiell anwendbar, sondern kommt voll zur Geltung (Belilos-Entscheidung und Fall Loizidou)

Der EGMR unterstellt damit dem Staat den Willen, an die Konvention als Ganzes gebunden zu sein – auch bei Nichtberücksichtigung des Vorbehalts.

- Gegen Trennbarkeits-Theorie: Konsensprinzip (Ausfluss des Souveränitätsprinzips); eine, dem erklärten Willen offensichtlich widersprechende, nur als Sanktion zu verstehende Bindung an den Vertrag sei dem völkerrechtlichen Vertragsrecht fern.

Alternativer Vorschlag zur Lösung des Problems: WVK könnte Anwendung finden. Daraus folge, dass gemäß Art. 21 Abs. 3 WVK ein Einspruch gegen einen Vorbehalt ohne gleichzeitigen Widerspruch gegenüber dem In-Kraft-Treten des Vertrages zu der Nichtanwendbarkeit der Norm zwischen den beiden Vertragsparteien führt.

- Dagegen: 1. EMRK unterscheidet sich von anderen Menschenrechtskonventionen, durch verbindliche Streitbeilegung; 2. Vermutung, dass Staaten den Vertrag ohne Vorbehalt nicht ratifiziert hätten ist ebenso gewagt, wie die Unterstellung des EGMR, dass der Vertragsstaat dennoch die Konvention ratifiziert hätte; 3. Pflichtenstruktur ist bei Menschenrechten anders gelagert: Menschenrechtsverträge sind nicht staatszentriert, sondern menschenzentriert; 4. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Vorbehalts bei gleichzeitiger Gebundenheit des Staates ist mit Souveränität vereinbar, weil der Staat nach Art. 58 EMRK den Vertrag insgesamt kündigen kann.

Die Rechtsprechung des EGMR überzeugt, zumal hier keinerlei Anzeichen dafür bestehen, dass Neymo ansonsten die EMRK nicht ratifziert hätte. Außerdem hat Neymo die EMRK erst 2008 ratifiziert und kannte dementsprechend die Rechtsprechung des EGMR, die er 2007 nochmals bestätigt hat. Damit ist der Vorbehalt von N ungültig und N ist vollumfänglich an die EMRK gebunden.

2. Julio

- Das Demonstrationsverbot könnte eine Verletzung des Art. 11 EMRK darstellen.

- Fraglich ist, wie gegen die Gewalttätigkeiten des Sicherheitsdienstes der NeymAir vorgegangen werden kann.

Es könnte auf Befehl des Polizeipräsidenten abgestellt werden (aktives Handeln)

Es könnte auch auf Unterlassen des Schutzes (staatliche Schutzpflicht) rekurriert werden.

EGMR unterscheidet zwischen den negativen Unterlassungspflichten gegen willkürliche staatliche Eingriffe und positiven Handlungspflichten.

Trotz vereinzelter Entscheidungen die die Abgrenzung offen lassen, bleibt die Unterscheidung wesentlich wegen des unterschiedlichen Inhalts der negativen und positiven Verpflichtungen.

Die Abgrenzung der Handlungen von Privatpersonen zu staatlichen Maßnahmen ist in der Spruchpraxis der Straßburger Organe uneinheitlich.

Es lässt sich zum einen auf eine Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen abstellen, zum anderen auf die Unmittelbarkeit der Verletzungshandlung.

Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist nicht hinreichend, wenn der Staat – wie hier – an der Grundrechtsbeeinträchtigung aktiv beteiligt ist. Grundsätzlich ist auf das Kriterium der Unmittelbarkeit abzustellen. Schutzpflichten sind einschlägig, wenn die Beeinträchtigung von einem Privaten unmittelbar verursacht wird. Beeinträchtigt der Staat selbst das Rechtsgut unmittelbar, liegt eine abwehrrechtliche Konstellation vor. Hier liegt die unmittelbare Verletzungshandlung im privaten Handeln, so dass eine Schutzpflichtenkonstellation geprüft werden muss.

Nach der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass der Staat die EMRK nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen hat. Dies betrifft alle Gewalten.

Die Beschwerde des Julio ist zulässig ratione materiae.

 

3. Frederike

Hier: zivilrechtliches Gerichtsurteil, das Kündigung aufrechterhalten hat; eine Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 9 EMRK kommt in Betracht.

 

IV. Vereinbarkeit ratione personae

1. Beschwerdegegner

Beschwerdegegner ist Neymo. Die private NeymAIR kommen als Beschwerdegegner nicht in Betracht.

Auch Handlungen der Gerichte sind dem Staat Neymo zurechenbar (vgl. Art. 4 der Regeln der Staatenverantwortlichkeit die von der Generalversammlung angenommen wurden, und größtenteils Völkergewohnheitsrecht darstellen)

2. Beschwerdeführer

a) Parteifähigkeit

Julio und Frederike sind als natürliche Personen parteifähig gemäß Art. 34 EMRK; Staatsangehörigkeit des Julio ist irrelevant, da die EMRK Menschenrechte beinhaltet

b) Beschwer/Opfereigenschaft (Art. 34 EMRK).

Der Beschwerdeführer müsste selbst, schon oder noch und unmittelbar betroffen sein. Adressat eines Gerichtsurteil (+) Frederike wurde auch nicht wieder eingestellt.

Andauernde Betroffenheit des Julio? Erledigung durch Zeitablauf? EGMR stellt auf Heilung ab. Heilung kann durch Gerichtsurteil oder andere Anerkennung der Konventionsverletzung geschehen. Hier (-)

Die Opfereigenschaft betrifft aber nicht die anderen Demonstranten; actio popularis kennt die EMRK nicht; Zulässigkeit der Beschwerde in Bezug auf die 40 anderen Demonstranten (-)

V. Rechtswegerschöpfung gem. Art. 35 I EMRK (+)

VI. Frist

Die Klagefrist beträgt 6 Monate (Art. 35 I EMRK). Die Frist ist laut SV eingehalten.

VII. Form

Art. 45 I VerfO EGMR erfordert Schriftform (+)

VIII. Weitere Voraussetzungen (Art. 35 II, III EMRK = Rechtsschutzbedürfnis)

(+)

IX. Ergebnis

Die Beschwerden sind – mit Ausnahme der Beschwerde des Julio bzgl. der anderen Demonstranten – zulässig.

 

B. Begründetheit

I. Verletzung der Versammlungsfreiheit des Julio nach Art. 11 EMRK (abwehrrechtliche Perspektive)

1. Schutzbereich

a) persönlicher Schutzbereich (+)

b) sachlicher Schutzbereich

Eine Definition der Versammlung wurde bislang vom EGMR noch nicht vorgelegt. Aus bisherigen Fällen ergibt sich folgende Definition: „das Zusammenkommen mehrerer Personen mit dem Zweck der kollektiven Meinungsbildung oder Meinungskundgabe“ ist. Hier: „Demonstrationen“ (+)

Unfriedichkeit? Teilnahme des „Schwarzen Blocks“ und befürchtete Gewalttätigkeiten; Aber: Nach EGMR führen Gewalttätigkeiten von wenigen nicht zur allgemeinen Unfriedlichkeit der Versammlung.

Vorfeld von Versammlungen (Anreise Julios) vom Schutzbereich umfasst? Effektiver Schutz von Versammlungen erfordert, dass Anreise einbezogen wird.

2. Eingriff

Eingriff ist jede Beschränkung eines Verhaltens, das in den Schutzbereich des betroffenen Menschenrechts fällt. Gerichtsurteil (+)

3. Rechtfertigung

a) Allgemeine Schrankenregelung

Art. 16 EMRK kommt als allgemeine Schrankenregelung in Betracht.

Diese Norm ist umstritten. Parlamentarische Versammlung des Europarates hat schon 1977 die Abschaffung gefordert. Andere Menschenrechtskonventionen sehen eine solche Norm nicht vor. Dies und die negative Formulierung von Art. 16 EMRK sprechen für eine enge Auslegung. Unter politischer Tätigkeit wird der „Kernbereich des politischen Prozesses“ verstanden. Hier fraglich.

Für EU-Mitglieder ergibt sich jedenfalls eine Besonderheit. Aufgrund der Unionsbürgerschaft nach Artikel 9 EUV und Artikel 20 AEUV muss Artikel 16 EMRK zwischen den EU-Vertragsparteien so ausgelegt werden, dass er keine Anwendung findet. Dies hat der EGMR in seinem einzigen Urteil zu Artikel 16 EGMR angedeutet. Neymo ist auch Mitglied der EU.

Damit kann sich Neymo nicht auf die allgemeine Schrankenregelung des Art. 16 EMRK berufen.

b) Spezielle Schrankenregelung des Art. 11 Abs. 2 EMRK.

aa) Gesetzliche Grundlage

(1) Existenz eines formell rechtmäßig zustande gekommenen Gesetzes; u.U. ungeschriebenes Recht

Das Verbot von Julios Teilnahme wird auf das Versammlungsgesetz Neymos gestützt.

(2) Zugänglichkeit und ausreichende Bestimmtheit des Gesetzes (+)

bb) Eingriffsgrund: legitimes, in Abs. 2 aufgezähltes Ziel.

Hier kommen der Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten oder auch der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer in Betracht. Damit besteht ein legitimer Eingriffsgrund.

cc) Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft

EGMR verlangt „social pressing need“;damit ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt.

Geeignet ist ein Eingriff immer dann, wenn durch ihn die legitimen Ziele gefördert werden.

Von Julio geht keine besondere Gefahr aus. Verbot der Teilnahme an rechtmäßiger Demonstration ohne besondere Gründe kann weder nach dem Recht Neymos noch nach der EMRK ein Verbot rechtfertigen.

Ergebnis: Damit wird die Beschwerde des Julio –zunächst nur in der abwehrrechtlichen Perspektive – Erfolg haben.

 

II. Verletzung von Art. 11 EMRK durch Unterlassen der Polizisten und das Urteil

1. Bestehen einer Schutzpflicht?

Eine Handlungspflicht besteht, wenn ein Konventionsrecht durch Private beeinträchtigt ist und dieses Konventionsrecht grundsätzlich auch eine Schutzpflichtendimension besitzt.

Hier: Sicherheitsdienst der privaten NeymAIR hat eine Demonstration verhindert. Dies ist eine Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit, sofern der Schutzbereich des Art. 11 EMRK eröffnet ist. Dies ist er grundsätzlich (s.o.).

EGMR leiten in ständiger Spruchpraxis Schutzpflichten der Staaten her.

Argumente dafür: Materieller Gehalt der Menschenrechte erfordert Schutzpflichten; Ableitung aus allgemeiner Gewährleistungsvorschrift des Art. 1 EMRK; dynamisch-evolutive Auslegungsmethode = Die Rechte und Freiheiten der Konvention sollen nicht theoretisch und illusionär, sondern effektiv und praktisch sein.

Damit besteht eine Neymo treffende Schutzpflicht aus Art. 11 EMRK.

2. Hat Neymo die positiven Handlungspflichten erfüllt?

Ob Neymo seine Handlungspflicht (Schutz der Versammlung) erfüllt hat, ist abhängig von dem genauen Inhalt der Schutzpflicht.

Der Staat soll geeignete und ausreichende Mittel („reasonable“ und „appropriate“ beziehungsweise „neccessary“) ergreifen; een Staaten kommt dabei ein weiter Ermessensspielraum bei der Auswahl der Mittel zu.

Im hier zu prüfenden Fall hat die Polizei Neymos überhaupt keine Maßnahmen ergriffen, sondern lediglich tatenlos zugeschaut. Dies ist ein Verstoß gegen die Schutzpflicht aus Art. 11 EMRK.

Endergebnis zu Art. 11 EMRK:

Eine Verletzung von Art. 11 EMRK in seiner Ausprägung als Abwehrrecht und als Schutzpflicht ist somit zu bejahen.

 

III. Verletzung von Art. 9 EMRK durch mangelnden gerichtlichen Schutz?

Da die NeymAIR möglicherweise die Religionsfreiheit verletzt hat und die Frederike durch die neymonischen Gerichte möglicherweise nicht ausreichend vor dieser Verletzung geschützt wurde, könnte eine Verletzung von Art. 9 EMRK in seiner Ausprägung als Schutzpflicht vorliegen.

1. Bestehen einer Schutzpflicht?

Der EGMR hat bislang keine Definition von Religion vorgelegt. Unstrittig sind die großen Religionen erfasst und somit auch das Christentum. Geschützt ist neben dem forum internum auch das forum externum. Danach auch Tragen religiöser Symbole umfasst (z.B. das islamische Kopftuch, Kruzifix)“ Das Handeln der F fällt damit in den Schutzbereich der Religionsfreiheit, die durch ihre Entlassung auch beeinträchtigt wurde.

Nach dem EGMR fallen zivilrechtliche Streitigkeiten unter die Schutzpflichtenkonstellation. Die Verantwortlichkeit des Staates ergibt sich aus der Gesetzgebung oder der Anwendung der Gesetze durch Gerichte.

Entsprechend der Herleitung der Schutzpflichten aus Art. 11 EMRK lässt sich auch im Rahmen von Art. 9 EMRK die Existenz einer Schutzpflicht bejahen. Grundsätzlich – und aufgrund der Beeinträchtigung des Art. 9 EMRK durch die private NeymAIR auch im konkreten Fall – besteht demnach eine Schutzpflicht aus Art. 9 EMRK.

2. Hat Neymo die positiven Handlungspflichten erfüllt?

Ob Neymo seine Handlungspflicht erfüllt hat, ist abhängig von dem genauen Inhalt der Pflicht.

Der EGMR fordert auch i.R.v. Art. 9 EMRK, dass der Staat geeignete und ausreichende Mittel (»reasonable« und »appropriate« beziehungsweise »neccessary«) ergreift. Das Recht des Beschwerdeführers seine Religion zu bekennen, muss also durch den Staat ausreichend geschützt worden sein und eine „fair balance“ muss zwischen den Rechten des Beschwerdeführers und den Rechten Dritter erreicht worden sein.

Hier: Neymo hat hier gerichtliches Verfahren zur Verfügung gestellt um gegen NeymAIR vorzugehen (Geeignetheit +); Zusätzlich muss auf Verhältnismäßigkeit eingegangen werden; Staatliche Maßnahmen zum Schutz der Konventionsgarantien müssen die Interessen der Allgemeinheit und das Schutzinteresse des Individuums in angemessener Weise ausgleichen; bei Art. 8-11 EMRK und Art. 2 ZP 4 muss die Abwägung die in den zweiten Absätzen enthaltenen Ziele – Schutz der demokratischen Gesellschaft („öffentliche Sicherheit; „öffentliche Ordnung“) oder der Gesundheit und Moral sowie den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – berücksichtigen; die anzuwendenden Kriterien sind laut EGMR im Fall des staatlichen Unterlassens dieselben wie im Fall des Eingriffs.

Hier kommen die Rechte und Freiheiten anderer als Rechtfertigungsgrund in Betracht.

NeymAir will religiöse Konflikte vermeiden und ihr Image und die Corporate Identity der Airline nicht gefährden; die Vermeidung religiöser Konflikte sichert die Rechte anderer; der EGMR hat auch den Schutz von Image und Corporate Identity als legitimes Ziel anerkannt.

Die Geeignetheit ist zu bejahen. Fraglich sind aber Erforderlichkeit und Angemessenheit.

Die Religionsfreiheit ist ein besonders wichtiges Menschenrecht; das Kreuz ist nur sehr klein; die Änderung der Vorschriften zeigt, dass das Verbot von religiösen Symbolen nicht von „crucial importance“ war. Damit war die Beeinträchtigung der Religionsfreiheit der Frederike rechtswidrig.

Dementsprechend verstößt die Wertung des Neymonischen Gerichts, das keinen Grund für eine Wiedereinstellung und kein rechtswidriges Handeln der NeymAIR sah, gegen Art. 9 EMRK. Damit hat Neymo seine Schutzpflicht aus Art. 9 EMRK nicht erfüllt. Neymo hat Art. 9 EMRK auch in seiner Ausprägung als Schutzpflicht verletzt.

C. Endergebnis:

Die Beschwerden von Frederike und Julio sind zulässig (mit Ausnahme der Beschwerde bzgl. „der anderen Demonstranten“) und begründet.

 

 

 


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© Heike Krieger und Markus Heintzen (Freie Universität Berlin)