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Die Göttin (Lösungsvorschlag)

 

Die Klage von Frau Labelle hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

 

A. Zulässigkeit

Die Klage ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen nach §§ 1 ff. ZPO gegeben sind.

 

I. Zivilrechtsweg (§ 13 GVG)

Der Zivilrechtsweg ist nach § 13 GVG eröffnet, wenn eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit vorliegt oder eine aufdrängende Sonderzuweisung besteht.

 

1. Vorliegen einer bürgerlichen Rechtsstreitigkeit

Vorliegend macht Lola Labelle gegenüber dem Land Berlin Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung ihres Autos durch die von Ritter in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit abgefeuerten Schüsse geltend. Solche Ansprüche können sich nicht aus dem Privatrecht ergeben, weil Ritter bei Abgabe der Schüsse in Ausübung öffentlicher Gewalt - nämlich als Polizeivollzugsbeamter - gehandelt hat, und das Privatrecht - wie Art. 77 Abs. 1 EGBGB deutlich zeigt - hoheitliches Handeln nicht (unmittelbar) erfasst. Eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit i.S.d. § 13 GVG ist damit nicht gegeben, da die für die Streitentscheidung maßgeblichen Normen nicht solche des Privatrechts sind.

 

2. Vorliegen einer aufdrängenden Sonderzuweisung

Im Betracht kommen aber sowohl Ansprüche aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG als auch Ansprüche aus §§ 59 ff. ASOG. Denkbar sind zudem Schadensersatzansprüche aus fehlerhafter öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag nach § 678 BGB bzw. § 280 Abs. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB analog.

a) Art. 34 Satz 3 GG (i.V. mit § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO)

Für den Anspruch aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG könnte eine aufdrängende Sonderzuweisung an die ordentlichen Gerichte in Art. 34 S. 3 GG zu sehen sein, der die Eröffnung des ordentlichen Rechtswegs für die Durchsetzung von Amtshaftungsansprüchen aus Art. 34 S. 1 GG verfassungsrechtlich vorschreibt. Es ist indes strittig, ob Art. 34 S. 3 GG selbst eine Sonderzuweisung an die ordentlichen Gerichte darstellt[1] oder ob diese Vorschrift eine solche einfachgesetzliche Rechtswegzuweisung nur voraussetzt und sie verfassungsrechtlich garantiert.[2] Dies kann vorliegend aber dahingestellt bleiben, weil in § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO für Schadensersatzansprüche wegen Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten (und damit auch für Amtshaftungsansprüche nach § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG) generell der ordentliche Rechtsweg vorgesehen ist. 

b) § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO

Da eine Haftung des Landes Berlin nach § 678 BGB analog wegen unberechtigter öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag bzw. nach § 280 Abs. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB analog wegen Verletzung von Nebenpflichten aus berechtigter öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag ebenfalls eine Schadensersatzhaftung wegen Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten wäre, ergäbe sich auch insoweit die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte aus § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO.

c) § 65 ASOG

Für die Ansprüche aus §§ 59 ff. ASOG enthält schließlich § 65 ASOG eine ausdrückliche Rechtswegzuweisung zu den ordentlichen Gerichten, was § 40 Abs. 1 S. 2 VwGO auch ausdrücklich gestattet. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei diesen Ansprüchen um Ansprüche aus Aufopferung für das gemeine Wohl handelt, für die § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO bereits selbst eine Zuweisung zu den ordentlichen Gerichten enthält.

 

3. Ergebnis zu I.

Damit ist die für die Streitigkeit zwischen FrauLabelle und dem Land Berlin der ordentliche Rechtsweg gegeben.

 

II. Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit

Frau Labelle ist als natürliche Person nach § 1 BGB, das Land Berlin als juristische Person des öffentlichen Rechts - wie sich mittelbar aus dem 1. Buch, 1. Abschnitt, Zweiter Titel des BGB ergibt - rechtsfähig und damit nach § 50 Abs. 1 ZPO parteifähig. Die Prozessfähigkeit Frau Labelles und des Landes Berlin ergibt sich aus § 52 ZPO. Für das Land Berlin muss dessen gesetzlicher Vertreter handeln; dies ist nach dem Sachverhalt die Polizeipräsidentin in Berlin.

 

Anmerkung: Siehe zu dem hier maßgeblichen verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff diesen Hinweis.

 

Frau Labelle kann jedoch nicht selbst vor dem Landgericht Verfahrenshandlungen vornehmen und Anträge stellen, sondern muss sich insoweit nach § 78 Abs. 1 ZPO von einem bei einem Amts- oder Landgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen. Hier hat Frau Labelle den insoweit zugelassenen Rechtsanwalt Sartorius mit der Klageerhebung beauftragt, so dass auch diesem Erfordernis genügt ist.

 

Anmerkung: Ob das Land Berlin einen Anwalt bestellt, ist für die Zulässigkeit der Klage von Frau Labelle unerheblich.

 

III. Ordnungsgemäße Klageerhebung (§ 253 ZPO)

Die Klageerhebung enthält die nach § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vorgeschriebene Bezeichnung der Parteien und des Gerichts sowie eine ausreichend bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der hiernach vorgesehene bestimmte Antrag ist in dem Antrag auf Verurteilung des Landes Berlin auf Zahlung von 5147,30 Euro zu sehen. Für das Fehlen sonstiger an eine Klageschrift zu stellender Voraussetzungen bestehen keine Anhaltspunkte.

 

IV. Zuständigkeit des Gerichts (§§ 1 ff. ZPO)

Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts Berlin ergibt sich aus § 1 ZPO i.V.m. § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG. Nach dessen Wortlaut bezieht sich diese Bestimmung zwar nur auf die persönliche Haftung der Beamten wegen Amtspflichtverletzungen. Die Bestimmung ist jedoch nach allgemeiner Auffassung dahingehend auszulegen, dass sie auch den Fall erfasst, dass die nach Art. 34 S. 1 GG auf den Dienstherrn übergeleitete Haftung wegen Amtspflichtverletzung durchgesetzt wird.[3] Ob dies ausreicht, um die Zuständigkeit des Landgerichts auch für die sonst denkbaren Ansprüche von Frau Labelle zu begründen, bedarf keiner näheren Klärung, weil sich die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts schon aus der allgemeinen Bestimmung des § 71 Abs. 1 i.V.m. § 23 Nr. 1 GVG ergibt: Der Wert des Beschwerdegegenstands beträgt vorliegend 5147,30 Euro (es handelt sich um einen bezifferten Klageantrag, der für die Wertberechnung maßgeblich ist; § 3 ZPO weist dem Gericht insoweit entgegen seinem Wortlaut kein Ermessen bei der Wertfestsetzung zu), übersteigt also den „Schwellenwert“ des § 23 Nr. 1 GVG.

Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 12, § 18 ZPO: Zuständig für Klagen gegen das Land Berlin ist das Gericht, in dessen Bezirk die Behörde ihren Sitz hat, die zur Vertretung des Landes Berlin berechtigt ist: Dies ist das Landgericht Berlin, da es für das ganze Land zuständig ist (§ 1 Gesetz über die Zuständigkeiten der Berliner Gerichte).

 

V. Ergebnis zu A.

Die Klage von Frau Labelle vor dem Landgericht Berlin ist somit zulässig.

 

B. Begründetheit

Die Klage ist begründet, wenn Frau Labelle tatsächlich einen Anspruch auf Ersatz der 5147,30 Euro gegenüber dem Land Berlin hat.

 

I. Anspruch aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG

Ein solcher Anspruch könnte sich zunächst aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG ergeben. Insoweit ist unproblematisch, dass Ritter als Polizeivollzugsbeamter und damit alsBeamter im staatsrechtlichen Sinne auch Beamter im haftungsrechtlichen Sinne, nämlich „jemand“ i.S.d. Art. 34 S. 1 GG, ist.

 

Anmerkung: Zum haftungsrechtlichen Beamtenbegriff siehe den Wildwechsel-Fall.

 

Unproblematisch ist auch, dass das Land Berlin als Anstellungskörperschaft auch der „Staat“ i.S.d. Art. 34 S. 1 GG ist, „in dessen Dienst“ Ritter stand. Fraglich ist jedoch, ob Ritter mit der Abgabe der Schüsse auch eine ihm gegenüber Frau Labelle bestehende Amtspflicht verletzt hat. Es wird zwar allgemein angenommen, dass jedem Beamten im haftungsrechtlichen Sinne gegenüber jedem Dritten - und damit auch gegenüber Frau Labelle - die Amtspflicht obliegt, kein Delikt i.S.d. §§ 823 ff. BGB zu begehen, sich also insbesondere rechtswidriger Eigentumsverletzungen i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB zu enthalten.[4] Diese Amtspflicht könnte vorliegend auch verletzt worden sein, da Ritter durch seine Schüsse das Eigentum von Lola Labelle beschädigt hat. Eine Amtspflichtverletzung durch Ritter kommt aber nur dann in Betracht, wenn entweder schon der Gebrauch der Schusswaffe gegenüber dem Unbekannten rechtswidrig war (1), wenn die Schusswaffe nicht gegenüber dem Fahrzeug von Frau Labelle hätte eingesetzt werden dürfen (2), wenn allein schon der Umstand, dass Ritter daneben geschossen hat, amtspflichtwidrig war (3) oder wenn  schließlich - falls dies alles nicht der Fall sein sollte - zumindest das vorangegangene Verhalten der Polizei fehlerhaft war, so dass es unnötigerweise zum Einsatz der Schusswaffe kam (4).

 

1. Amtspflichtverletzung durch rechtswidrigen Schusswaffengebrauch gegenüber dem Unbekannten

Zunächst ist also zu untersuchen, ob die Polizei auf den Unbekannten schießen durfte. Damit stellt sich als erstes die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage sich der Schusswaffengebrauch ihm gegenüber stützen ließ.

 

a) Ermächtigungsgrundlage für den Schusswaffengebrauch

Bei den Schüssen auf das Fahrzeug handelt es sich um eine Einwirkung auf eine Sache durch eine Waffe, wozu nach § 2 Abs. 4 UZwG Bln auch Pistolen gehören. Es liegt folglich eine Anwendung unmittelbaren Zwangs vor (vgl. die Legaldefinitionen des  § 2 Abs. 1 UZwG Bln). Ermächtigungen zur Anwendung unmittelbaren Zwangs enthalten § 12 VwVG i.V.m. § 5a S. 1 VwVfG Bln[5] und das UZwG Bln. Nur wenn die Voraussetzungen dieser Bestimmungen vorliegen, durfte die Polizei die Schüsse gegenüber dem Fahrer  abgeben.

 

aa) Schusswaffengebrauch zum Zwecke der Strafverfolgung?

Als Rechtsgrundlage kommt zunächst § 12 lit. a UZwG Bln in Betracht. Die Vorschrift gestattet den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen, um eine Person festzuhalten, die sich der Festnahme durch Flucht zu entziehen versucht, wenn sie eines Verbrechens dringend verdächtigt wird. Die Bestimmung ergänzt insoweit die Kompetenzen der Vollzugspolizei nach §§ 163 ff. StPO, indem sie Näheres über die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchführung von Strafverfolgungsmaßnahmen regelt. § 12 UZwG Bln konkretisiert insbesondere § 127 Abs. 1 StPO, der auch den Fall der vorläufigen Festnahme durch die Polizeibehörde umfasst (vgl. § 127 Abs. 2 „auch dann“[6]). Grundsätzlich ist der Landesgesetzgeber auch befugt, Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchführung von Strafverfolgungsmaßnahmen der Polizei zu erlassen, weil die StPO zur Durchsetzung von Strafverfolgungsmaßnahmen regelmäßig keine Regelungen enthält und es sich hierbei - wie sonst auch - um eine eigenständige Rechtsmaterie handelt, nämlich das Verwaltungsvollstreckungsrecht.[7]

Deshalb kann § 12 UZwG Bln nur zur Anwendung kommen, wenn Ritter mit der Abgabe der Schüsse repressiv - d. h. zur Verfolgung der von dem Fahrer begangenen Straftaten, insbesondere wegen versuchten Totschlags an Stark - gehandelt hat, um den Fahrer des Wagens festzunehmen. Mit welchem Ziel die Polizei gehandelt hat, bestimmt sich danach, welche Begründung sie selbst - ggf. auf Verlangen des Betroffenen - für ihr Handeln gibt.[8] Hier hat Ritter ausweislich des nach dem Einsatz angefertigten Berichts den Fahrer zum Anhalten zwingen wollen, um die von dem „Amokfahrer“ ausgehenden Gefahren abzuwehren, indem er den Wagen fahruntüchtig schießt. Damit verfolgte Ritter mit der Abgabe der Schüsse keine repressiven, sondern allein präventive Ziele der Gefahrenabwehr, während eine durch das Stoppen des Autos ermöglichte Festnahme des Fahrers keine Rolle spielte. Folglich kommt § 12 lit. a UZwG Bln als Rechtsgrundlage für die Abgabe der Schüsse nicht in Betracht.

 

bb) Schusswaffengebrauch zum Zwecke der Gefahrenabwehr?

Damit kann sich die Rechtmäßigkeit des Schusswaffengebrauchs gegenüber dem Unbekannten nur aus den Vorschriften über die Vollstreckung von Gefahrenabwehrmaßnahmen ergeben. Ritter ist als Polizeivollzugsbeamter für die Polizeipräsidentin in Berlin tätig geworden, vgl. § 1 Abs. 1, § 5 Abs. 1 ASOG. Die Zulässigkeit der zwangsweise durchgesetzten Maßnahmen richtet sich daher nach §§ 6 ff. VwVG i.V.m. dem UZwG Bln.

 

cc) Ergebnis zu a)

Als Ermächtigungsgrundlage für die Abgabe der Schüsse gegenüber dem Unbekannten kommt demnach nur § 12 VwVG i.V.m. § 1 Abs. 2, §§ 8 ff. UZwG Bln in Betracht.

 

b) Rechtmäßigkeit des Schusswaffengebrauchs

Die Anwendung unmittelbaren Zwangs nach § 12 VwVG (und damit die Zulässigkeit des Gebrauchs von Schusswaffen nach §§ 8 ff. UZwG Bln) gegenüber dem Unbekannten setzt zunächst voraus, dass der Einsatz von Verwaltungszwang nach § 6 VwVG ihm gegenüber überhaupt zulässig war.

 

aa) Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen (§ 6 VwVG)

Die Zulässigkeit des Verwaltungszwanges könnte sich zunächst aus § 6 Abs. 1 VwVG ergeben. Dann müsste Rudi Ritter einen gegenüber dem Fahrer des Fahrzeugs bereits erlassenen Verwaltungsakt vollstreckt haben, der auf die Vornahme einer Handlung oder eine Duldung oder Unterlassung gerichtet ist. Für den Verwaltungsaktbegriff nimmt das VwVG insoweit auf § 35 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln[9] Bezug.[10] Ritter hat auf den von dem Unbekannten gesteuerten Wagen geschossen, um das Halten des Fahrzeugs zu erzwingen. Der Grundverwaltungsakt müsste also darauf gerichtet gewesen sein, dem Fahrer aufzuerlegen, das Fahrzeug anzuhalten.

 

(1) Winken mit der Kelle als Grundverwaltungsakt

Als ein solcher Grundverwaltungsakt könnte zunächst das Winken mit der Kelle vor Durchbrechung der Straßensperre durch den Unbekannten zu sehen sein. Hiermit haben die Polizisten dem Fahrer zu verstehen gegeben, dass er das Fahrzeug vor der Straßensperre zum Stehen bringen soll (vgl. § 36 Abs. 5 S. 2 StVO). Da ein Verwaltungsakt grundsätzlich formlos ergehen kann, ist auch der Erlass eines Verwaltungsaktes mittels Handzeichen möglich (§ 37 Abs. 2 S. 1 VwVfG). Dieser Verwaltungsakt ist auch nach § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG gegenüber dem Fahrer wirksam geworden, da er ihm gegenüber bekannt gegeben worden ist (§ 41 Abs. 1 VwVfG). Ein durch Handzeichen ausgedrückter Verwaltungsakt ist dann bekannt gegeben worden, wenn er von dem Betroffenen tatsächlich wahrgenommen wird. Hiervon kann ausgegangen werden.[11]

Jedoch kann letztlich ausgeschlossen werden, dass Ritter mit seinen Schüssen den „Kellen-Verwaltungsakt“ vollstrecken wollte. Die Polizisten wollten ausweislich des Einsatzprotokolls den Wagen zunächst anhalten, um die Identität des Fahrers feststellen (vgl. § 21 Abs. 3 S. 2 ASOG) und das Fahrzeug ggf. sicherstellen zu können (§ 38 Nr. 2 ASOG). Nachdem der Fahrer die Sperre durchbrochen hatte, hat sich jedoch die Zielrichtung des polizeilichen Handelns wesentlich geändert. Zwar ging es nach wie vor darum, den Fahrer zum Anhalten zu zwingen. Ziel der Maßnahme war jedoch nunmehr, andere Verkehrsteilnehmer vor der „radikalen Fahrweise“ des Unbekannten zu schützen. Daher kann der Schusswaffengebrauch hier nicht mehr als Vollstreckung des mit dem Kellewinken erlassenen Anhaltegebots verstanden worden; das rücksichtlose Durchbrechen der Straßensperre stellt insoweit eine Zäsur dar.

 

(2) Zuruf „Halt! Sofort stehen bleiben!“ als Grundverwaltungsakt

Als Grundverwaltungsakt, der durch die späteren Schüsse vollstreckt werden sollte, kommt jedoch der Zuruf Ritters „Halt! Sofort stehen bleiben!“ in Betracht. Hierbei handelt es sich um einen - mündlichen - vgl. § 37 Abs. 2 S. 1 VwVfG - Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG, da sich deutlicher als mit diesem Zuruf kaum ausdrücken lässt, dass der Betroffene sich nicht fortbewegen soll. Nach dem Sachverhalt steht auch fest, dass der Unbekannte den Zuruf vernommen hat, so dass er ihm gegenüber auch bekannt geben und damit wirksam geworden ist.[12] Denn der Unbekannte fuhr mit offenem Verdeck und hat Ritter auf dessen Zuruf auch noch „geantwortet“.

 

(3) Unanfechtbarkeit oder fehlende aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs (§ 6 Abs. 1 VwVG)

Aus diesem Grundverwaltungsakt zu vollstrecken war aber nur dann möglich, wenn er unanfechtbar war oder ein gegen ihn gerichteter Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung gehabt hätte. Unanfechtbarkeit scheidet vorliegend offenkundig aus, da die Klagefrist nach § 70, § 74 VwGO gegen das Anhaltegebot noch nicht abgelaufen war. Als Rechtsbehelf gegen das Anhaltegebot wäre deshalb auch noch ein Widerspruch nach §§ 68 ff. VwGO in Betracht gekommen, dem nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO grundsätzlich aufschiebende Wirkung zukommt. Dies gilt jedoch nach § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht bei unaufschiebbaren Anordnungen von Polizeivollzugsbeamten. Polizeivollzugsbeamte in diesem Sinne sind nur Beamte der sog. „Schutzpolizei“, in Berlin also nicht die Ordnungsbehörden, sondern nur die Polizei, der Ritter freilich angehört. Unaufschiebbar ist eine Maßnahme, wenn ein sofortiges polizeiliches Eingreifen erforderlich ist oder der mit dem Verwaltungsakt verfolgte Zweck mit hoher Wahrscheinlichkeit nur bei sofortiger Durchsetzung zu erreichen sein wird. Auch diese Voraussetzung ist hier gegeben, da das Anhaltegebot nur bei sofortiger Durchsetzung sinnvoll war.[13]

 

(4) Zuständigkeit der Polizei

Nach § 7 Abs. 1 VwVG ist für die Anwendung von Zwangsmitteln - wozu nach § 9 Abs. 1 lit. c VwVG auch die Ausübung unmittelbaren Zwangs gehört - die Behörde zuständig, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Vorliegend ist das Anhaltegebot von der Polizei erlassen worden, für die Ritter gehandelt hat. Damit ergibt sich die Zuständigkeit der Polizei für dessen Durchsetzung unmittelbar aus § 7 Abs. 1 VwVG.

 

(5) Ergebnis zu aa)

Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 VwVG lagen somit vor.

 

bb) Androhung des unmittelbaren Zwangs (§ 13 Abs. 1 VwVG)

Nach § 13 Abs. 1 VwVG sind Zwangsmittel anzudrohen, wobei § 10 UZwG Bln eine Spezialvorschrift für die Androhung unmittelbaren Zwangs darstellt, die bei der Anwendung von Schusswaffen zu beachten ist. Auf Grund der ausdrücklichen Regelung des § 10 S. 2 UZwG Bln gilt als Androhung unmittelbaren Zwangs auch die Abgabe eines Warnschusses, so dass eine Zwangsmittelandrohung vorliegt.

 

cc) Allgemeine Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch (§ 9 UZwG Bln)

§ 9 UZwG Bln legt indes noch weitere allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch fest, die gegenüber dem Unbekannten hätten beachtet werden müssen.

 

(1) Schusswaffengebrauch als ultima ratio (§ 9 Abs. 1 UZwG Bln)

Insbesondere dürfen nach § 9 Abs. 1 S. 1 UZwG Bln Schusswaffen nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs erfolglos angewendet worden sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Abzustellen ist dabei auf den Grundverwaltungsakt, der von der Polizei vollstreckt wird. Grundverwaltungsakt ist die Aufforderung der Polizisten, das Auto anzuhalten. Da der Fahrer des Wagens die Straßensperre bereits durchbrochen hatte, waren andere Maßnahmen der Polizei als die Abgabe von Schüssen auf die Reifen zu diesem Zeitpunkt nicht Erfolg versprechend. Insbesondere hatte Ritter keine Gelegenheit, Nagelbretter auszulegen, nachdem der Fahrer der Aufforderung nicht nachgekommen war, seinen Wagen anzuhalten.

 

(2) Keine Gefährdung Unbeteiligter und Zweck des Schusswaffengebrauchs (§ 9 Abs. 2 UZwG Bln)

Der Schusswaffengebrauch ist ferner nach § 9 Abs. 2 S. 1 UZwG Bln unzulässig, wenn Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden. Unbeteiligter ist vorliegend jedenfalls nicht der Fahrer, der als Verhaltensstörer nach § 13 Abs. 1 ASOG Adressat des Anhaltegebots war.[14]Nach dem Sachverhalt („klares Schussfeld“) ist auch nicht erkennbar, dass andere Verkehrsteilnehmer oder Passanten durch die Schüsse hätten gefährdet werden können. Ebenso scheidet eine „Gefährdung“ von Frau Labelle vorliegend aus: Zwar wollte Ritter das Frau Labelle gehörende Fahrzeug durch die Schüsse gezielt beschädigen, so dass ihr Eigentum  gefährdet war. Aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen über den Schusswaffengebrauch in den §§ 8 ff. UZwG Bln ergibt sich jedoch, dass mit „Gefährdung Unbeteiligter“ nur die Gefährdung von Leib und Leben der Unbeteiligten und nicht die Gefährdung von Sachen der Unbeteiligten gemeint ist. Folglich steht auch § 9 Abs. 2 1 UZwG Bln der Rechtmäßigkeit des Schusswaffengebrauchs nicht entgegen.

Außerdem war es auch Zweck des Schusswaffengebrauchs, den Autodieb angriffsunfähig zu machen (vgl. § 9 Abs. 2 S. 1 UZwG Bln), indem das zur Waffe umfunktionierte Fahrzeug unbrauchbar gemacht werden sollte.

 

(3) Ergebnis zu cc)

Die allgemeinen Vorschriften über den Schusswaffengebrauch in § 9 UZwG Bln sind gegenüber dem Unbekannten beachtet worden.

 

dd) Besondere Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch gegenüber Personen (§§ 11 ff. UZwG Bln)

Fraglich ist jedoch, ob darüber hinaus noch die besonderen Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs gegenüber Personen nach §§ 11 ff. UZwG Bln hätten beachtet werden müssen.

Dann müssten die §§ 11 ff. UZwG Bln hier überhaupt anwendbar sein. Teilweise wird vertreten, dass auch bei gezielten Schüssen auf Sachen u.U. die besonderen Voraussetzungen zu beachten sind. Bei Schüssen auf ein fahrendes Fahrzeug liegt es nahe, dass der Fahrer die Kontrolle über sein Auto verliert, so dass dies zu schwerwiegenden Folgen für ihn führen kann. Da infolge des Schusswaffengebrauchs gegen ein Fahrzeug damit auch Gefahren für Leib und Leben von Personen erwachsen können, müssen die besonderen Voraussetzungen vorliegen, unter denen ein Schusswaffengebrauch gegen Personen zulässig ist.[15]

Allerdings unterscheidet das UZwG ausdrücklich zwischen Schüssen „auf“ Personen (vgl. Wortlaut §§ 11 ff. UZwG) und der Waffeneinwirkung auf Sachen (vgl. § 9 Abs. 1 S. 2 UZwG Bln). Etwaige Fernwirkungen sind also hier unbeachtlich, wenn nur der Einsatz der Waffe auf eine Sache zielte.[16]

Damit waren die besonderen Voraussetzungen der §§ 11 ff. UZwG Bln nicht zu beachten

 

Anmerkung: A. A. vertretbar. In anderen Bundesländern, z.B. im Saarland, gibt es die Möglichkeit des Schusswaffengebrauchs gegenüber Personen zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben (vgl. § 57 Abs. 2 Nr. 1SPolG und die Falllösungnach saarländischem Landesrecht). Eine solche weite Ermächtigung findet sich nicht im Berliner Landesrecht.

 

ee) Ordnungsgemäße Ermessensausübung

Der Schusswaffengebrauch als Maßnahme der Polizeivollstreckung stand im Ermessen des handelnden Polizeivollzugsbeamten (§ 12 Abs. 1 ASOG). Damit ist noch fraglich, ob er auch entsprechend § 40 VwVfG ermessengerecht erfolgte.

 

(1) Berücksichtigung des Zwecks der Ermächtigung

Dies bedeutet zunächst, dass die Ermessensausübung entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben ist (vgl. § 40 Alt. 1 VwVfG). Zweifel an der Zweckgerechtigkeit einer Maßnahme des Verwaltungszwangs könnten dann bestehen, wenn der zu vollstreckende Verwaltungsakt  rechtswidrig ist, weil in diesem Fall an dessen zwangsweiser Durchsetzung kein öffentliches Interesse besteht. Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes offensichtlich ist. Ob tatsächlich bei der Kontrolle der Ermessensgerechtigkeit von Verwaltungszwangsmaßnahmen die Rechtmäßigkeit des zu vollstreckenden Verwaltungsakts eine Rolle spielen kann, braucht hier aber letztlich nicht geklärt zu werden;[17]denn die an den Unbekannten gerichtete mündliche Aufforderung, stehen zu bleiben, diente dem Schutz anderer vor Gefahren für Leib und Leben (und damit einem Schutzgut der öffentlichen Sicherheit) und war demnach offensichtlich von § 17 Abs. 1 ASOG gedeckt und an den richtigen Adressaten gerichtet (§ 13 Abs. 1 ASOG). Auch sonstige Rechtsfehler sind nicht ersichtlich. Da der Grundverwaltungsakt somit rechtmäßig war, war der Schusswaffengebrauch vom Zweck der Ermächtigung gedeckt.

 

(2) Berücksichtigung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens

Darüber hinaus müsste der Schusswaffengebrauch aber auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessen eingehalten (vgl. § 40 Alt. 2 VwVfG) und damit insbesondere dem in § 12 ASOG, § 9 Abs. 2 VwVG, § 4 Abs. 1 S. 1 UZwG Bln normierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Genüge getan haben.

 

Anmerkung: Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit siehe diesen Hinweis.

 

Die Maßnahme war geeignet, den Pkw zum Halten zu bringen. Da auch kein milderes Mittel erkennbar ist, waren die Schüsse auch erforderlich. Der Schusswaffengebrauch gegenüber dem Unbekannten war im Hinblick auf sein Verhalten und die dadurch hervorgerufenen Gefahren auch angemessen und führte folglich nicht zu einem Nachteil, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (§ 11 Abs. 2 ASOG, § 4 Abs. 2 UZwG). Dies wird vorliegend schon dadurch indiziert, dass die besonders strengen Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs gegenüber Personen erfüllt waren - Voraussetzungen, die ihrerseits bereits eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellen.[18]

 

(3) Ergebnis zu ee)

Damit hält der Schusswaffengebrauch auch einer Ermessenskontrolle stand.

 

ff) Ergebnis zu b)

Gegenüber dem Unbekannten war somit der Schusswaffengebrauch rechtmäßig.

 

c) Ergebnis zu 1.

Da der Schusswaffengebrauch gegenüber dem Unbekannten rechtmäßig war, kann insoweit keine Amtspflichtverletzung vorliegen.

 

2. Amtspflichtverletzung durch „Inanspruchnahme“ des Eigentums von Frau Labelle

Der Fall ist jedoch durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass Ritter auf das Fahrzeug geschossen hatte, obwohl er wusste, dass es nicht dem Fahrer gehörte. Er hat somit zielgerichtet auf das Eigentum von Frau Labelle zugegriffen, um den Unbekannten am Weiterfahren zu hindern.[19] Damit musste der Schusswaffengebrauch auch gegenüber Frau Labelle von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt sein. Als Rechtsgrundlage kommen insoweit auch hier nur § 12 VwVG i.V.m. §§ 8 ff. UZwG Bln in Betracht.

 

a) Allgemeine Voraussetzungen des Verwaltungszwangs (§ 6 VwVG)

Die Anwendung unmittelbaren Zwangs nach § 12 VwVG (und damit die Zulässigkeit des Gebrauchs von Schusswaffen nach §§ 8 ff. UZwG setzt freilich auch hier zunächst voraus, dass der Einsatz von Verwaltungszwang nach § 6 VwVG gegenüber Frau Labelle überhaupt zulässig war. Ihr gegenüber ist jedoch kein Verwaltungsakt erlassen worden, so dass ihr gegenüber aus dem an den Fahrer gerichteten Anhaltegebot nicht vollstreckt werden durfte. Denn die Vollstreckung eines Verwaltungsakts nach § 6 Abs. 1 VwVG ist nur gegenüber dem aus diesem Verwaltungsakt Verpflichteten möglich (der in den §§ 6 ff. VwVG als „Pflichtiger“ bezeichnet wird) und (natürlich) nicht gegenüber Dritten. Damit lagen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 VwVG gegenüber Frau Labelle nicht vor.

Jedoch könnte sich die Zulässigkeit des Verwaltungszwangs gegenüber Frau Labelle aus § 6 Abs. 2 VwVG ergeben. Danach kann der Verwaltungszwang auch ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und die Polizei hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt.

Ebenfalls ohne vorausgehenden Verwaltungsakt kann eine Maßnahme als unmittelbare Ausführung nach § 15 Abs. 1 S. 1 ASOG ergehen. Eine solche liegt aber nicht vor, weil zwar Frau Labelle nicht anwesend ist, aber doch wohl vermutet werden kann, dass ihr Wille Schüssen auf ihr geliebtes Auto entgegenstünde. Bei Maßnahmen nach § 15 ASOG steht aber gerade nicht der Bruch des entgegenstehenden oder vermuteten Willens im Vordergrund.[20]

Wer für diese Form des Verwaltungszwangs nach § 6 Abs. 2 VwVG zuständig ist, lässt sich § 7 Abs. 1 VwVG nicht unmittelbar entnehmen. Jedoch ist diese Bestimmung in Zusammenhang mit § 6 Abs. 2 VwVG so auszulegen, dass zuständig für die Ausübung von Maßnahmen des Sofortvollzugs die Behörde ist, die, wäre ein Verwaltungsakt erlassen worden, diesen zu vollstreckenden Verwaltungsakt erlassen hätte. Entscheidend ist daher für die Zuständigkeit nach § 7 Abs. 1 VwVG allein, auf den Willen welcher Behörde die Anwendung des Verwaltungszwangs nach § 7 Abs. 2 VwVG zurückzuführen ist. Dies ist vorliegend die Polizei, für die Ritter gehandelt hat.

 

Anmerkung: Dass sich die Zuständigkeit einer Behörde daraus ergibt, dass sie etwas tun will, ist sicherlich etwas ungewöhnlich. Allerdings geht es hier nur um die Zuständigkeit für die Anwendung von Verwaltungszwang, nicht um die Zuständigkeit für den im Rahmen des § 6 Abs. 2 VwVG zu prüfenden „fiktiven Grundverwaltungsakt“. Für die Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme insgesamt kommt es daher auch im Fall des § 6 Abs. 2 VwVG auf die „reguläre“ Zuständigkeit der Polizei an (siehe unten B. I. 2. a) bb) (1)).

 

aa)  Notwendigkeit der Abwehr einer drohenden Gefahr

Materielle Voraussetzung des Sofortvollzugs nach § 6 Abs. 2 VwVG ist zunächst, dass eine drohende Gefahr vorgelegen hat, wobei der Begriff der Gefahr in § 17 Abs. 1 ASOG legaldefiniert wird als eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Hier könnte eine drohende Gefahr für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer als Bestandteil der öffentlichen Sicherheit bestanden haben. Eine Gefahr für Leib oder Leben liegt vor bei einer Sachlage, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für Leib und Leben führen würde.[21] Drohend ist eine Gefahr, bei der der Schadenseintritt unmittelbar oder in allernächster Zeit bevorsteht und mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, oder wenn die Störung bereits begonnen hat.[22] Die Gefahr muss m.a.W. jederzeit eintreten können oder bereits eingetreten sein. Eine solche Sachlage lässt sich nach dem Sachverhalt bejahen: Der Unbekannte hat durch die Durchbrechung der Straßensperre deutlich gemacht, dass er bereit ist, das Fahrzeug auch als Waffe gegen Personen einzusetzen, die sich ihm in den Weg stellen, und dass er dabei auch den Tod oder jedenfalls erhebliche Verletzungen dieser Personen in Kauf nimmt. Dies hat sich später auch dadurch bestätigt, dass er entgegenkommende Fahrzeuge rücksichtslos von der Fahrbahn drängte. Unter diesen Umständen musste sich aus der insoweit maßgeblichen Sicht von Ritter aufdrängen, dass durch den Fahrstil des Unbekannten weitere Verkehrsteilnehmer erheblich gefährdet werden.

Eine gegenwärtige Gefahr lag somit vor. Wie oben festgestellt, war der Schusswaffengebrauch zur Gefahrenabwehr auch notwendig (B. I. 1. b) ee))

 

bb) Handeln der Polizei „innerhalb ihrer Befugnisse“

Die Polizei müsste darüber hinaus  innerhalb ihrer Befugnisse gehandelt haben. Dies ist der Fall, wenn sie berechtigt gewesen wäre, einen entsprechenden Grundverwaltungsakt gegenüber Frau Labelle zu erlassen. Dieser Grundverwaltungsakt könnte hier nur den Inhalt gehabt haben, den Fahrer an der Benutzung ihres Autos zu hindern. Als Ermächtigungsgrundlage für eine solche Polizeiverfügung wäre nur § 17 Abs. 1 ASOG in Betracht gekommen. Zu prüfen ist somit, ob eine solche fiktive Verfügung der Polizei von § 17 Abs. 1 ASOG gedeckt gewesen wäre.

 

Anmerkung: Allgemein zur Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts siehe diesen Hinweis, zur Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Gefahrenabwehrverfügung diesen Hinweis.

 

(1) Zuständigkeit der Polizei

Die Polizei müsste zum Erlass einer solchen Verfügung zuständig gewesen sein. Für polizeiliche Maßnahmen nach § 17 ASOG ist die Polizei originär nur nach § 4 Abs. 2 AZG, § 2 Abs. 4 ASOG, Nr. 23 ZustKat ASOG zuständig. Hier ergibt sich aber eine subsidiäre Zuständigkeit nach § 4 Abs. 1 S. 1 ASOG, da die Gefahrenabwehr durch Ordnungsbehörden nicht rechtzeitig möglich ist. Der fiktive Grundverwaltungsakt wäre somit formell rechtmäßig gewesen.

 

Anmerkung: Form- und Verfahrensgesichtspunkte können bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines fiktiven Verwaltungsakts sinnvoller Weise nicht geprüft werden, da die Einhaltung der Form- und Verfahrensvoraussetzungen Teil der Fiktion ist.[23]

 

(2) Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist somit, ob eine Verpflichtung von Frau Labelle, den Fahrer an der Benutzung ihres Autos  zu hindern, auf § 17 Abs. 1 ASOG hätte gestützt werden können. Insoweit lag jedenfalls eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor (siehe oben B. I. 1. B) ee) (1)). Tatbestandsvoraussetzung einer auf § 17 Abs. 1 ASOG gestützten Maßnahme ist weiterhin, dass diese sich an den richtigen Adressaten richtet. Wer polizeirechtlich in Anspruch genommen werden kann, bestimmt sich nach § 13 ff. ASOG.

 

Anmerkung: Die Frage, ob der polizeirechtlich in Anspruch Genommene überhaupt in Anspruch genommen werden darf,ist keine Frage des Entschließungs- oder gar des Rechtsfolgeermessens und damit auch keine Frage der Verhältnismäßigkeit. Sie darf auf keinen Fall mit der Frage verwechselt werden, ob die Auswahl zwischen mehreren Polizeipflichtigen ohne Ermessensfehler getroffen wurde. Auch diese Frage stellt sich nur, wenn mehrere Personen nach den §§ 13 ff. ASOG materiell polizeipflichtig sind, also überhaupt als Adressaten einer Polizeiverfügung in Betracht kommen, siehe hierzu den Baumfällig-Fall.

 

(a) Inanspruchnahme als Verhaltensstörer (§ 13 Abs. 1 ASOG)

Gemäß § 13 Abs. 1 ASOG ist die polizeiliche Maßnahme gegen diejenige Person zu richten, die die Gefahr verursacht. Insoweit ließe sich zwar argumentieren, dass Frau Labelle das Verhalten des Unbekannten ermöglicht (und damit mit „verursacht“) hat, indem sie ihr Fahrzeug auf offener Straße abgestellt hat. Tatsächlich ist die Frage, ob jemand als Störer nach § 13 Abs. 1 ASOG in Anspruch genommen werden kann, eine Kausalitätsfrage. Nach der überwiegend vertretenen Theorie der unmittelbaren Verursachung[24] ist jedoch nur derjenige aufgrund seines Verhaltens polizeipflichtig, der selbst die konkrete Gefahr unmittelbar herbeiführt, m.a.W.: in dessen eigener Person die Gefahrenschwelle überschritten wird. Das ist hier allein der Fahrzeugdieb, nicht jedoch der Eigentümer, der den Diebstahl in irgend einer Weise erleichtert oder ermöglicht. Eine Inanspruchnahme von Frau Labelle nach § 13 Abs. 1 ASOG wäre somit ausgeschieden.

 

(b) Inanspruchnahme als Zustandsstörerin (§ 14 Abs. 3 ASOG)

Auch eine Inanspruchnahme als Fahrzeugeigentümerin nach § 14 Abs. 3 S. 1 ASOG wäre hier nicht in Betracht gekommen, da der Dieb die tatsächliche Gewalt über das Fahrzeug (natürlich) ohne den Willen von Frau Labelle ausgeübt hat (§ 14 Abs. 3 S. 2 ASOG).[25]

 

Anmerkung: In den Ländern, in denen es an einer entsprechenden Ausnahmeklausel fehlt, bedarf es für die Verneinung der Zustandsverantwortlichkeit in solchen Fällen einigen Begründungsaufwands.[26]

 

(c) Inanspruchnahme als nicht verantwortliche Person (§ 16 ASOG)

Frau Labelle hätte folglich nur als sog. Nichtstörerin nach § 16 ASOG in Anspruch genommen werden können. Voraussetzung für eine rechtmäßige Inanspruchnahme als Nichtstörer wäre jedoch das (kumulative) Vorliegen der in § 16 ASOG genannten Voraussetzungen gewesen.[27]

Zunächst müsste eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorgelegen haben (§ 16 Nr. 1 ASOG), wobei der Begriff der Gefahr in § 17 Abs. 1 ASOG eben legaldefiniert wird als eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Eine drohende Gefahr (siehe oben B. I. 2. a) aa)) entspricht einer gegenwärtigen Gefahr. Sie ist auch erheblich, da mit Leib und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer auch wesentliche Rechtsgüter gefährdet sind.

Zudem hätten Maßnahmen gegen die Störer unmöglich oder erfolglossein müssen (§ 16 Nr. 2 ASOG). Das ist hier ebenfalls anzunehmen, weil der Störer der Aufforderung zum Anhalten nicht nachgekommen ist und ein gezielter Schuss auf ihn angesichts der Möglichkeit, das Fahrzeug fahruntüchtig zu schießen, als unverhältnismäßig anzusehen gewesen wäre.

Die Polizei hätte zudem die Gefahr selbst nicht oder nicht rechtzeitig abwehren können müssen (§ 16 Nr. 3 ASOG). Auch dies ist hier zu bejahen, weil der Zugriff auf das Fahrzeug (und damit auf dessen Eigentümer) die einzige Möglichkeit war, den Fahrer zu stoppen.

 

Anmerkung: Dass die Polizei die Gefahr letztlich selbst abgewendet hat, indem sie auf das Fahrzeug geschossen hat, muss hier unbeachtlich bleiben: Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer fiktiven Grundverfügung als Voraussetzung des Sofortvollzugs kann sinnvoller Weise nicht der Sofortvollzug als alternative Handlungsmöglichkeit in Betracht gezogen werden. Würde man dies hier tun, wäre der fiktive Grundverwaltungsakt rechtswidrig, weil ein Sofortvollzug möglich gewesen wäre, der Sofortvollzug wäre jedoch rechtswidrig, weil die fiktive Grundverfügung rechtswidrig wäre.

 

Schließlich wäre die Inanspruchnahme auch ohne erhebliche eigene Gefährdung von Frau Labelle möglich gewesen (§ 16 Nr. 4 ASOG).

Damit wäre eine Inanspruchnahme von Frau Labelle als nicht verantwortliche Person nach § 16 ASOG möglich gewesen.

 

Anmerkung: Nach dem BGH[28] läge allerdings wohl keine Inanspruchnahme von Frau Labelle als Nichtstörerin vor, sondern sie wäre nur als "Unbeteiligte" betroffen. Allerdings hatte die Polizei in dem vom BGH entschiedenen Fall - anders als im vorliegenden Fall - zum Zeitpunkt der Beschädigung nicht gewusst, dass es sich um ein Fahrzeug handelte, das nicht dem Täter gehörte.

 

(d) Ordnungsgemäße Ermessensausübung

Hätten somit die Voraussetzungen für den Erlass einer auf § 17 Abs. 1 i.V.m. § 16 Abs. 1 ASOG gestützten Polizeiverfügung gegenüber Frau Labelle vorgelegen, hätte deren Erlass jedoch im Ermessen der Polizeibehörde gestanden, so dass sie insoweit auch die Grenzen des Ermessens nach § 11, § 12 ASOG, § 40 VwVfG einzuhalten gehabt hätte. Jedoch gibt es hier keine Anhaltspunkte für eine Ermessensfehlerhaftigkeit der fiktiven Grundverfügung.

 

(e) Ergebnis zu (2)

Die fiktive Grundverfügung wäre somit auch materiell rechtmäßig gewesen.

 

(3) Ergebnis zu bb)

Damit wäre die fiktive Grundverfügung insgesamt rechtmäßig gewesen, so dass die Polizei im Sinne des § 6 Abs. 2 ASOG „innerhalb ihrer Befugnisse“ gehandelt hat.

 

cc) Ergebnis zu a)

Die allgemeinen Voraussetzungen des Verwaltungszwangs haben damit auch gegenüber Frau Labelle vorgelegen.

 

b) Besondere Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch gegenüber Frau Labelle

Ferner müssten noch die besonderen Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch gegenüber (dem Eigentum von) Frau Labelle vorgelegen haben. Fraglich ist, ob eine Androhung des Schusswaffengebrauchs erforderlich war. Nach § 13 Abs. 1 S. 1 VwVG ist eine Androhung dann entbehrlich, wenn die Voraussetzungen nach § 6 Abs. 2 VwVG vorlagen, was hier der Fall war. Als lex specialis (vgl. § 1 Abs. 2 UZwG Bln) könnte aber § 10 UZwG Bln in jedem Fall die Androhung verlangen. Der Warnschuss konnte hier nicht beachtlich sein, da er seine Warnfunktion gegenüber der abwesenden Frau Labelle nicht erfüllen kann. Aus dem Regelungszusammenhang der §§ 8 ff. UZwG lässt sich aber ersehen, das die Androhung des Schusswaffengebrauchs v.a. dem anvisierten Menschen gelten soll. Von einer Androhung kann also nach § 13 Abs. 1 S. 1 VwVG a.E. abgesehen werden, wenn diese einer abwesenden Person gelten soll.

Der Schusswaffengebrauch als Maßnahme der Polizeivollstreckung stand im Ermessen des handelnden Polizeivollzugsbeamten (§ 12 Abs. 1 ASOG). Insoweit ist aber eine Ermessensfehlerhaftigkeit der Inanspruchnahme von Frau Labelle nicht erkennbar. Es ging um die Abwendung von Gefahren für Leib und Leben Dritter. Dass diese Interessen den Eigentumsrechten von Frau Labelle vorgehen – und damit die Nachteilszufügung gegenüber Frau Labelle durch den erstrebten Erfolg gerechtfertigt ist –, lässt sich letztlich nicht bezweifeln.[29]

 

c) Ergebnis zu 2.

Somit waren auch die Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch gegenüber (dem Eigentum von) Frau Labelle gegeben, so dass auch insoweit der Schusswaffengebrauch rechtmäßig war und folglich keine Amtspflichtverletzung darstellen konnte.

 

3. Amtspflichtverletzung durch Fehlschüsse

Eine Amtspflichtverletzung könnte jedoch darin zu sehen sein, dass Ritter falsch gezielt und nicht die Reifen, sondern den Kofferraum, das Rücklicht und das Verdeck getroffen hat, was zu den hohen Reparaturkosten führte. Jedoch kann nicht bereits in jedem Fehlschuss für sich schon eine Amtspflichtverletzung gesehen werden: Fehlschüsse sind - gerade bei beweglichen Zielen - auch durch beste Ausbildung nicht zu verhindern. Wenn das Gesetz also den Schusswaffengebrauch zulässt, nimmt es im Ergebnis auch die Möglichkeit von Fehlschüssen hin, soweit die Schüsse im Grundsatz nach den „Regeln der Kunst“ abgegeben wurden. Dass es Ritter insoweit an Erfahrung oder Ausbildung mangelte, lässt sich dem Sachverhalt jedoch nicht entnehmen. Auch die Fehlschüsse als solche stellen damit keine Amtspflichtverletzung dar.

 

4. Amtspflichtverletzung wegen Fehlerhaftigkeit des dem Schusswaffengebrauch vorausgehenden Verhaltens

Jedoch könnte eine Amtspflichtverletzung darin zu sehen sein, dass die Polizisten im Vorfeld des Schusswaffengebrauchs fehlerhaft gehandelt haben, indem sie den Unbekannten durch die Art und Weise, wie sie ihn zu stoppen versuchten, letztlich zu dessen Verhalten provoziert haben, was dann wieder in vorhersehbarer Weise dazu führen musste, das ein für Frau Labelle potenziell schädlicher Schusswaffengebrauch notwendig wurde. Vorliegend wollten die Polizisten  den Unbekannten zunächst anhalten, um das gestohlene Auto nach § 38 Nr. 2 ASOG für Frau Labelle sicherzustellen. Da die Maßnahme im Wesentlichen im Interesse von Frau Labelle erfolgt wäre, ist auch anzunehmen, dass die Polizisten hierbei so verfahren mussten, dass die sicherzustellende Sache nicht beschädigt wird. Dafür, dass diese Amtspflicht zum Schutz der sicherzustellenden Sache vorliegend verletzt wurde, enthält der Sachverhalt jedoch keine Anhaltspunkte. Insbesondere war die Platzauswahl für die Errichtung der Straßensperre nicht zu beanstanden. Zunächst mussten die Polizisten nicht mit der kriminellen Energie des Unbekannten und deshalb mit einer gewaltsamen Durchbrechung der Straßensperre rechnen; zudem lässt sich nicht sagen, dass an anderer Stelle der Fahrer des Wagens ohne Schusswaffengebrauch hätte aufgehalten werden können oder dass die Polizisten eine günstigere Stelle noch hätten erreichen können. Andere Mittel als die improvisierte Straßensperre waren damit schlicht nicht vorhanden, um den Unbekannten aufzuhalten.[30]

 

5. Ergebnis zu I.

Mangels Amtspflichtverletzung kann Frau Labelle somit aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG keine Schadensersatzansprüche herleiten.

 

II. Anspruch aus § 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG

Ein Anspruch auf Ersatz der 5147,30 Euro könnte sich jedoch aus den Entschädigungsansprüchen nach §§ 59 ff. SPolG ergeben. Auch diese Ansprüche wären nach § 63 Abs. 1 ASOG gegen das Land Berlin zu richten, da Ritter in dessen Dienst steht.

 

1. Entschädigungsvoraussetzungen

Die Voraussetzungen eines solchen Entschädigungsanspruchs liegen auch vor. Insoweit ist eine Haftung nach § 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG gegeben; denn Frau Labelle hat den Schaden auf Grund einer rechtmäßigen Inanspruchnahme nach § 16 ASOG erlitten (siehe oben B. I. 2. a) bb)).

 

Anmerkung: Der BGH[31] und das OLG Hamm[32] haben in einem vergleichbaren Fall allerdings angenommen, dass in der Beschädigung des Fahrzeugs keine Inanspruchnahme des Fahrzeugeigentümers als Nichtstörer zu sehen sei, sondern dass es sich hierbei letztlich nur um einen „Unbeteiligten“ handele, der von der polizeilichen Maßnahme lediglich zufällig getroffen werde. Für diesen Fall enthalten manche Polizeigesetze keinen ausdrücklichen Entschädigungsanspruch - anders als z. B. § 59 Abs. 1 Nr. 2 ASOG oder § 51 Abs. 2 Nr. 2 BPolG. Insoweit ist umstritten, ob und auf welcher Rechtsgrundlage in den Bundesländern, in denen es wie im Saarland an einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage für die Entschädigung unbeteiligter Dritter fehlt, ein Entschädigungsanspruch in Betracht kommt.[33] Diejenigen, die nicht sehen, dass in dem Schusswaffengebrauch gegenüber dem Unbekannten zugleich eine Inanspruchnahme von Frau Labelle als Nichtstörerin zu sehen ist, müssen sich folglich mit diesem Problem näher auseinandersetzen, wobei die besseren Argumente wohl für eine analoge Anwendung des § 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG auf diesen Fall sprechen. Vertreten wird aber auch ein gänzlicher Ausschluss der Entschädigung,[34] eine unmittelbare Anwendbarkeit des § 59 Abs. 2 ASOG (indem auf das „Erfolgsunrecht“ abgestellt wird) oder ein Rückgriff auf die ungeschriebenen Entschädigungsansprüche aus Aufopferung bzw. enteignenden Eingriffs.[35]

 

2. Entschädigungsumfang

Da es sich bei Entschädigungsansprüchen nach § 59 ASOG jedoch nicht um Schadensersatzansprüche handelt, finden für die Berechnung des Umfangs der Entschädigung nicht die §§ 249 ff. BGB, sondern die besonderen Regelungen in § 60 ASOG Anwendung. Wie § 60 Abs. 1 S. 1 ASOG zeigt, kann insoweit insbesondere der Ersatz von Vermögensschäden verlangt werden, jedoch wird von vornherein nur Geldausgleich, nicht Naturalrestitution geschuldet (§ 60 Abs. 3 S. 1 ASOG). Zu dem Vermögensschaden gehören grundsätzlich auch die Kosten der Reparatur einer Sache, die durch die die zum Schadensausgleich verpflichtende Maßnahme beschädigt worden ist. Hier sind unbestritten Reparaturkosten in Höhe von 5147,30 Euro entstanden. Nach § 60 Abs. 5 S. 1 ASOG muss allerdings nicht ohne Weiteres ein vollständiger Schadensausgleich gewährt werden, vielmehr sind bei der Bemessung des Ausgleichs alle Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die Art und die Vorhersehbarkeit des Schadens und ob der Geschädigte durch die Maßnahme der Polizei geschützt worden ist. Nach § 60 Abs. 5 S. 2 ASOG ist zudem auch das Mitverschulden des Geschädigten zu berücksichtigen.

Selbst wenn dies in § 60 Abs. 5 ASOG nicht ausdrücklich gesagt wird, ist jedoch Ausgangspunkt der Berechnung des Schadensausgleichs der tatsächlich erlittene Vermögensschaden. Unangemessen hoch kann eine auf vollen Schadensersatz gerichtete Ausgleichsforderung nur sein, wenn weitere Umstände hinzutreten, die in der „Sphäre“ des Geschädigten liegen. Ein genereller „Abschlag“ gegenüber der tatsächlichen Schadenshöhe wäre nicht gerechtfertigt.[36] Damit wäre hier ein Ausgleich in Höhe von 5147,30 Euro zu gewähren, wenn nicht aus Gründen, die dem Verantwortungsbereich von Frau Labelle „zuzurechnen“ sind, ein „Abschlag“ gerechtfertigt ist.

 

a) Entschädigungsminderung, weil Maßnahme im Interesse des Geschädigten lag?

Insoweit könnte ein Abschlag zunächst dadurch gerechtfertigt sein, dass es letztlich nur deshalb zu dem Schusswaffeneinsatz gekommen ist, weil die Polizei eine Straßensperre errichtet hat, um das Fahrzeug für Frau Labelle sicherzustellen (§ 38 Nr. 2 ASOG). Prinzipiell kann der Umstand, dass die Maßnahme dem Schutz des Vermögens des Geschädigten gedient hat, einen „Ausgleichsabschlag“ rechtfertigen (§ 60 Abs. 5 S. 1 ASOG). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn ein gestohlenes Fahrzeug „fahruntüchtig“ geschossen (und damit beschädigt) wird, um zu verhindern, dass der Dieb das Fahrzeug (und sich selbst) dem Zugriff der Polizei entzieht: Denn für den Bestohlenen ist es zumeist besser, ein beschädigtes Fahrzeug zurück zu erhalten als gar keins. Das OLG Dresden[37] hat es daher in einem solchen Fall für gerechtfertigt gehalten, dem Geschädigten nur Entschädigung in Höhe der Hälfte des Schadens zu gewähren, der BGH hat zudem auch einen vollständigen Anspruchsausschluss für möglich gehalten.[38] Mit dieser Argumentation lässt sich aber im vorliegenden Fall eine Minderung des Ausgleichs kaum rechtfertigen: Beim Schusswaffengebrauch selbst spielte der Aspekt der Sicherstellung des Fahrzeugs keine Rolle mehr, sondern nur noch die Verhinderung der Gefährdung von Leib und Leben Dritter (siehe oben B. I. 1. b) aa)). Die Maßnahme diente damit gar nicht mehr dem Schutz des Vermögens von Frau Labelle, vielmehr wurde gerade auf das Vermögen von Frau Labelle zugegriffen, um Gefahren für Dritte abzuwehren.

 

b) Entschädigungsminderung, wegen „Mitvertretenmüssens“?

Auch eine Minderung des Schadensausgleichs nach § 60 Abs. 5 S. 2 ASOG kommt nicht in Betracht, da nicht erkennbar ist, inwieweit Frau Labelle den Schaden selbst zu vertreten hat: Dass sie den Diebstahl dadurch ermöglicht hat, dass sie den Wagen auf offener Straße abgestellt hat, kann für sich allein eine echte Obliegenheitsverletzung nicht begründen. Jedoch sind die in § 60 Abs. 5 ASOG genannten „Ausgleichsminderungsgründe“ nicht abschließend („insbesondere“), sondern es sind „alle Umstände“ zu berücksichtigen. Es könnte daher erwogen werden, den Schadensausgleich deshalb zu mindern, weil Frau Labelle den Diebstahl ihres Fahrzeugs letztlich dadurch ermöglicht hat, dass sie das - für Diebe höchst attraktive Auto - auf offener Straße geparkt hat und somit den Diebstahl objektiv erleichtert hat. Hierbei könnte auch berücksichtigt werden, dass Autos älterer Bauart über weniger effektive Diebstahlssicherungen verfügen als neuere Modelle, so dass es schon deshalb im eigenen Interesses als sinnvoll erscheint, solche Wagen in einer Garage oder einem bewachten Parkplatz abzustellen. Generell ließe sich annehmen, dass derjenige, der ein Auto auf einer öffentlichen Straße abstellt, hiermit das Risiko eingeht, dass es entwendet wird und die Benutzung des Fahrzeugs durch den Dieb eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründet, so dass dann auch mit rechtmäßigen polizeilichen Maßnahmen gerechnet werden muss, die zu Schäden an dem Fahrzeug führen.[39] Eine solche Argumentation wird jedoch wohl der Wertung des § 14 Abs. 3 S. 2 ASOG nicht gerecht, die den Eigentümer im Fall des Verlustes seiner Sache ohne seinen Willen von seiner Verantwortlichkeit für diese Sache freistellt - und damit das Risiko, dass von dieser Sache Gefährdungen für Dritte ausgehen, gerade nicht mehr dem Eigentümer, sondern der Allgemeinheit zuweist.

 

c) Ergebnis zu 2.

Da weitere Gründe, die eine Minderung des Schadensausgleichs rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich sind, hat Frau Labelle damit einen Anspruch auf Ausgleich in Höhe der gesamten 5147,30 Euro.

 

3. Zug-um-Zug-Verpflichtung (§ 60 Abs. 4 ASOG)

Jedoch könnte der Anspruch zur Zeit noch nicht begründet sein, weil Frau Labelle bisher noch nicht angeboten hat, an das Land Berlin ihre Ansprüche abzutreten, die ihr gegen den Dieb zustehen: Dieser müsste nach § 823 Abs. 1 BGB grundsätzlich gegenüber Frau Labelle auch für die Schäden einstehen, die durch den rechtmäßigen Schusswaffengebrauch seitens der Polizei entstanden sind, weil auch diese Beschädigungen auf die Eigentumsverletzung durch den Dieb zurückzuführen sind. Nach § 60 Abs. 4 ASOG ist in einem solchen Fall ein Ausgleich jedoch nur zu gewähren, wenn diese Ansprüche an den Ausgleichspflichtigen abgetreten werden. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass das Land Berlin die Abtretung dieser Ansprüche (zumindest bisher) nicht verlangt hat und diese Ansprüche auch wirtschaftlich wertlos sind, weil der Dieb eben unbekannt entkommen ist. In einem solchen Fall wäre es bloße Förmelei, den Ausgleichsanspruch nur Zug um Zug gegen die Abtretung der Schadensersatzansprüche gegenüber dem unbekannten Dieb zu gewähren.[40]

 

4. Ergebnis zu II.

Frau Labelle steht damit ein Anspruch auf Schadensausgleich in Höhe von 5147,30 Euro aus §§ 59 ff. ASOG zu.

 

III. Entschädigungsansprüche nach den Grundsätzen des „enteignenden Eingriffs“

Ein entsprechender Entschädigungsanspruch in Höhe von 5147,30 Euro könnte sich zudem auch aus den ungeschriebenen Grundsätzen über die Entschädigung bei enteignenden Eingriffen ergeben. Ein solcher Entschädigungsanspruch kommt in Betracht, wenn eine an sich rechtmäßige Maßnahme unmittelbar auf die Rechtsposition des Eigentümers einwirkt und dabei im konkreten Fall zu Nebenfolgen und Nachteilen führt, die die Schwelle des Zumutbaren überschreiten.[41] Ein Rückgriff auf dieses allgemeine - vom BGH mittlerweile auf den Rechtsgedanken der §§ 74, 75 Einl. PrALR gestützte[42] - Institut  ist jedoch ausgeschlossen, weil die polizeilichen Entschädigungsansprüche eine positivrechtliche Konkretisierung auch der Grundsätze über die Haftung bei enteignendem Eingriff darstellen[43]. Ansprüche aus „enteignendem Eingriff“ kommen daher hier nicht in Betracht.

 

IV. Schadensersatzansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag

Eine Haftung des Landes Berlin könnte schließlich noch nach § 678 BGB analog wegen unberechtigter öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag bzw. nach § 280 Abs. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB analog wegen Verletzung von Nebenpflichten aus berechtigter öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag in Betracht kommen. Voraussetzung einer solchen Haftung wäre jedoch, dass die Regelungen über die öffentlich-rechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag im vorliegenden Fall überhaupt zur Anwendung kommen können. Dies ist jedoch hier schon deshalb ausgeschlossen, weil Ritter mit dem Schusswaffengebrauch kein Geschäft von Frau Labelle als Eigentümerin des Fahrzeuges geführt hat; denn diese war polizeirechtlich nicht für die Beseitigung der Gefahren verantwortlich, die durch den Gebrauch ihres Fahrzeugs durch den Dieb ausgingen (siehe oben B. I. 2. a) bb)). Dass der Polizeieinsatz ursprünglich auch ihrem Interesse gedient hat, als es noch um die Sicherstellung des Fahrzeugs ging, ist insoweit unbeachtlich. Zudem ist ohnehin anzunehmen, dass die (öffentlich-rechtlichen) Rechtsfolgen eines Polizeieinsatzes auch in vermögensrechtlicher Hinsicht abschließend durch das ASOG geregelt sind, so dass auch insoweit ein Rückgriff auf die allgemeinen ungeschriebenen Grundsätze über die öffentlich-rechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag als unzulässig erscheint.[44]

Schadensersatzansprüche aus öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag kommen daher im vorliegenden Fall nicht in Betracht.

 

V. Ergebnis zu B.

Damit hat Frau Labelle einen Anspruch auf Schadensausgleich in Höhe von 5147,30 Euro aus §§ 59 ff. ASOG. Die Klage von Frau Labelle auf Zahlung dieses Betrages ist folglich in vollem Umfang begründet.

 

C. Gesamtergebnis

Die Klage von Frau Labelle ist somit zulässig und begründet und hat deshalb Aussicht auf Erfolg.

 

 

Siehe zu vergleichbaren Fällen: BGH, III ZR 174/10 v. 3. 3. 2011 = NJW 2011, 3157 ff:; OLG Brandenburg, 2 U 119/95 v. 30.1.1996 = NJW-RR 1996, 924 ff.; OLG Dresden, 6 U 1522/02 vom 19. Februar 2003, http://www.justiz.sachsen.de = LKV 2003, 582 ff.; OLG Hamm, 11 U 40/87 v. 7.10.1987 = NJW 1988, 1096 ff.

 

 

© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Georg Hellmich

Stand der Bearbeitung: September 2015


[1] So BGHZ 43, 34, 39; BVerwGE 37, 231 237.

[2] So Dagtoglou, in: Bonner Kommentar, Art. 34 Rn. 357 (Bearbeitung 1970);  Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 40 Rn. 517; Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 34 Rn. 305 (Bearbeitung 2009).

[3] Windthorst, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, § 11 Rn. 18.

[4] Maurer, § 26 Rn. 21.

[5] Nachfolgend wird auf den Verweis in das Berliner Landesrecht bzgl. des VwVG verzichtet.

[6] OLG Brandenburg, NJW-RR 1996, 924, 925.

[7] Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 417.

[8] VGH München, 10 C 09.2122  v. 5.11.2009, Abs. 9 ff. = BayVBl. 2010, 220 f.; Götz, § 18 Rn. 19; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 423; Schoch, Jura 2013, 1115 f.; s. hierzu aber auch Schenke, NJW 2011, 2838, 2842.

[9] Nachfolgend wird auf den Verweis in das Berliner Landesrecht bzgl. des VwVfG verzichtet.

[10] Vgl. U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 35 Rn. 38.

[11] U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 41 Rn. 101.

[12] Vgl. U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 41 Rn. 96.

[13] Vgl. Pietzner/Ronellenfitsch, § 54 Rn. 14.

[14] OLG Hamm NJW 1988, 1096.

[15] OLG Brandenburg NJW-RR 1996, 924, 925; Rachor, in: Lisken/Denninger, F Rn. 958.

[16] So wohl Pewestorf, in: Pewestorf/Söllner/Tölle, S. 779; vgl. auch OLG Dresden, 6 U 1522/02 v. 19.2.2003, S. 12 f. des Urteilsumdrucks = LKV 2003, 582, 584.

[17] Siehe hierzu Geier BayVBl. 2004, 389 ff.

[18] Rachor, in: Lisken/Denninger, F Rn. 957.

[19] Deutlich OLG Dresden, 6 U 1522/02 v. 19.2.2003, S. 9 des Urteilsumdrucks = LKV 2003, 581, 583.

[20] Pewestorf, in: Pewestorf/Söllner/Tölle, S. 185f.

[21] Götz, § 6 Rn. 1 ff.

[22] Götz, § 6 Rn. 25.

[23] vgl. zu ähnlichen Fällen U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 35 Rn. 67.

[24] Dazu Götz, § 9 Rn. 10 ff.

[25] BGH, NJW 2011, 3157.

[26] siehe hierzu (für das sächsische Polizeirecht) OLG Dresden, 6 U 1522/02 v. 19.2.2003, S. 5 ff. des Urteilsumdrucks =  LKV 2003, 582.

[27] Siehe hierzu: Schoch, Jura 2007, 676 ff.

[28] BGH, NJW 2011, 3157.

[29] Deutlich auch OLG Hamm NJW 1988, 1096 ff.

[30] Vgl. OLG Dresden, 6 U 1522/02 v. 19.2.2003, S. 13 des Urteilsumdrucks = LKV 2003, 582, 584.

[31] BGH, NJW 2011, 3157.

[32] OLG Hamm, NJW 1988, 1096 f.

[33] hierzu ausführlich Ossenbühl, S. 399 ff.; Rachor, in: Lisken/Denninger, M Rn. 35 ff.

[34] so OLG Hamm NJW 1988, 1096 f.

[35] so jetzt BGH, NJW 2011, 3157.

[36] Rachor, in: Lisken/Denninger, M Rn. 103.

[37] OLG Dresden, 6 U 1522/02 v. 19.2.2003, S. 10 f. des Urteilsumdrucks = LKV 2003, 582, 583.

[38] so jetzt BGH, NJW 2011, 3157.

[39] So OLG Hamm NJW 1996, 1096.

[40] So OLG Dresden, 6 U 1522/02 v. 19.2.2003, S. 11 des Urteilsumdrucks = LKV 2003, 582, 583 f.

[41] Vgl. Sproll, in: Detterbeck/Windthorst/Sproll, § 17 Rn. 59 ff.

[42] BGHZ 91, 20, 27  ff.

[43] Ossenbühl, S. 413; Rachor, in: Lisken/Denninger, M Rn. 132

[44] So jetzt deutlich BGH, III ZR 70/03 v. 13.11.2003 = NJW 2004, 513, 514 f.

 


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