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Deutsche Verfassungen - Änderungen nach dem 1. März 2014

Die sechzehn deutschen Landesverfassungen finden Sie nach dem Stand vom 1. März 2014 in der 10. Auflage der von mir herausgegebenen (und in einer Einführung [S. XVII - CXLVII] erläuterten) "Verfassungen der deutschen Bundesländer mit dem Grundgesetz" (Beck'sche Rechtstexte, München 2014) und nach dem Stand vom 11. April 2024 hier.

Die sich nach dem 1. März 2014 ergebenden Verfassungsänderungen (und einige unvollendete Initiativen zu ihnen) sollen in dieser Rubrik aufgeführt werden, und zwar in der in den Beck'schen Rechtstexten 2014 verwendeten Reihung (Nrn. 1 bis 16 die Landesverfassungen in alphabetischer Reihenfolge, Nr. 17 das Grundgesetz)

Derzeit (Stand 11. April 2024) verzeichnen wir seit dem 1. März 2014 76 Verfassungsänderungen, und zwar  in dreizehn Ländern sowie im Bund:

      • in Baden-Württemberg 5,
      • in Berlin 4, 
      • in Brandenburg 3, 
      • in Bremen 10 (einschließlich der Nichtigerklärung des Art. 61 Satz 2 durch das Bundesverfassungsgericht), 
      • in Hamburg 8, 
      • in Hessen 16 (auf einen Schlag)
      • in Mecklenburg-Vorpommern 2,
      • in Niedersachsen 3, 
      • in Nordrhein-Westfalen 4, 
      • in Rheinland-Pfalz 2, 
      • im Saarland 5, 
      • in Sachsen-Anhalt 2, 
      • in Schleswig-Holstein 4 sowie 
      • im Bund 8.

Eine Tabelle der Änderungen der Landesverfassungen und des Grundgesetzes zwischen dem 1. März 2014 und dem 11. April 2024 finden Sie hier; die Tabelle wird aktualisiert, nachdem eine Verfassungsänderung im betreffenden Gesetzblatt verkündet ist.

Die meisten Änderungen galten dem Wahl- und Parlamentsrecht. Sechs Änderungen betrafen Ausweitungen der direkten Demokratie (Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt), sechs Änderungen die sog. Schuldenbremse (Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Saarland, Sachsen-Anhalt). Kinderrechte wurden in Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen-Anhalt formuliert; eine entsprechende Initiative auf Bundesebene (Januar 2021) lag zur Beratung in den Ausschüssen des Bundestages (vgl. unten 17 h).

Drei Länder (Bayern, Sachsen und Thüringen) sind in den zehn Jahren seit dem 1. März 2014 ohne Verfassungsänderung ausgekommen.

Einige Parlamentsinitiativen (Beispiele: vom Juni 2016 in Thüringen - Nr. 16 a, vom Dezember 2016 im Bund - Nr. 17 c, vom Februar 2017 in Schleswig-Holstein - Nr. 15 e, vom April 2017 in Bremen - Nr. 5 d, vom Dezember 2017 in Thüringen - Nr. 16 b, vom Januar 2019 in Bayern - Nr. 2, und von 2020/21 in Thüringen - 16 c)  haben sich erledigt, sind unten aber dennoch skizziert, weil sie trotz ihres Scheiterns von Interesse sind.   

Eine Volksinitiative in Hamburg ("Rettet den Volksentscheid!"), die die - in Hamburg ohnehin schon weitreichende - Volksbeteiligung an der Ausübung der Staatsgewalt modifizieren und - auch auf Kosten der Bürgerschaft - stärken wollte, scheiterte am 13. Oktober 2016 vor dem Hamburgischen Verfassungsgericht; das Urteil finden Sie hier.  

Eine Volksinitiative in Berlin (vgl. unten Nr. 3 b; sichtlich in Anlehnung an Hamburg "Volksentscheid retten" genannt), hat im Juni 2016 die für die Zulassung eines Volksbegehrens geltenden Hürden nehmen können, mit Verlautbarung vom 26. Juli 2017 aber auf die Fortsetzung des Verfahrens verzichtet.

Eine im Januar 2021 lancierte etwas kümmerliche Initiative der Bundesregierung, Art. 6 GG um Kinderrechte zu ergänzen, ist - ein erneutes Armutszeichen des Deutschen Bundestages - im Juni 2021 gescheitert (unten Nr. 17 h). 

1. Baden-Württemberg

2. Bayern

3. Berlin

4. Brandenburg

5. Bremen

6. Hamburg

7. Hessen

8. Mecklenburg-Vorpommern

9. Niedersachsen

10. Nordrhein-Westfalen

11. Rheinland-Pfalz

12. Saarland

14. Sachsen-Anhalt

15. Schleswig-Holstein

16. Thüringen

17. Grundgesetz

1. Baden-Württemberg

a) 2015: Volksabstimmungen, Kinder und Jugendrechte, Staatsziele, Umbenennung des Staatsgerichtshofes

Am 23. September 2015 befaßte sich der Landtg in erster Lesung (LT-Drs. 15/136) zustimmend mit drei Verfassungsänderungsentwürfen, die an die Ausschüsse überwiesen wurden. Dabei geht es einmal um  Erleichterungen für die direktdemokratische Teilhabe (Entwurf vom 15. Juli 2015), sodann um drei neue Staatsziele (Kinder- und Jugendrechte, Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse, Ehrenamt; Entwurf vom 22. September 2015), schließlich - vielleicht eine der überflüssigsten deutschen Verfassungsänderungen der letzten Jahrzehnte - um die Umbenennung des Staatsgerichtshofs (Entwurf vom 15. September 2015; der neue Name "Verfassungsgerichtshof" soll die Ergänzung der Zuständigkeiten um die Verfassungsbeschwerde zum Ausdruck bringen). Der Ständige Ausschuß empfahl die Annahme der Änderungen (LT-Drs. 15/7742). Das Plenum folgte der Empfehlung in 2. und 3. Beratung am 25. November 2015 (LT-PlPr. 15/143). Die Änderungen wurden am 1. Dezember 2015 ausgefertigt und am 4. Dezember 2015 im Gesetzblatt (S. 1030, 1030, 1032) veröffentlicht. Sie traten am 5. Dezember 2015 in Kraft.

b) 2020: Schuldenbremse, Art. 84 LVerf.

2020 übernahm Baden-Württemberg auf Iniatiative der vier Fraktionen GRÜNE, der CDU, der SPD und der FDP/DVP (LT-Drs. 16/7462) die Schuldenbremse des Art. 109 Abs. 3 GG in die Landesverfassung und gab dem Art. 84 LVerf. seine heutige, stark erweiterte Fassung (Gesetz vom 26. Mai 2020, GBl. S. 305, verkündet am 29. Mai, in Kraft getreten am 30. Mai).

c) 2022: Absenkung des Wahl- und Abstimmungsalters auf 16 Jahre (Artt. 26, 28 LVerf.), kein zwingender LT-Alterspräsident (Art. 30 LVerf.), Digitales (Verkündung von Normen, Art. 62 LVerf.; Beschlußfassung in Gremien, Art. 92a LVerf.)

Das Gesetz vom 26. April 2022 (GBl. S. 237) – verkündet am 29. April, gemäß seinem Art. 3 in Kraft seit dem 30. April – setzte im wesentlichen das aktive Wahl- und Abstimmungsalter von bisher 18 auf 16 Jahre herab und machte die Verfassung mit der Elektronik (bei der Verkündung von Gesetzen und Rechtsverordnungen und bei Gremienbeschlüssen) bekannt:

Die Regierungsfraktionen hatten zunächst (Entwurf vom 17. November 2021, Drs. 17/1281, S. 2, 15-16, 17-18), ermuntert durch acht andere Bundesländer und Österreich, nur die Absenkung des Mindestalters für die aktive Wahl- und Stimmberechtigung auf 16 Jahre im Blick (Art. 26 Abs. 1 LVerf. im Abschnitt „Die Grundlagen des Staates“; redaktionelle Folgeänderung für die unveränderte passive Wahlberechtigung in Art. 28 Abs. 2 S. 1 LVerf. im Abschnitt „Der Landtag“).

Unter dem 15. März 2022 ergänzten die Regierungsfraktionen ihre Initiative um drei weitere Änderungen (Anlage 2, Beschlußempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 24. März 2022, Drs. 17/2202, S. 76-77), denen sich der Ständige Ausschuß (wie zuvor schon der Ausschuß des Innern, für Digitalisierung und Kommunen) anschloß:

1. Satz 2  („Die erste Sitzung [des Landtags] wird vom Alterspräsidenten einberufen und geleitet“) des Absatzes 3 des Art. 30 (der sich mit Wahlperiode und Sitzungen befaßt) im Abschnitt „Der Landtag“ wurde gestrichen. 

Begründung a.a.O. S. 77: „Durch die Aufhebung der Regelung kann der Landtag im Rahmen seiner Geschäfts­ordnungsautonomie selbst bestimmen, welche Person die erste Sitzung einberuft und leitet, insbesondere ob das Kriterium des Lebensalters oder des Dienstalters für das Amt des Alterspräsidenten entscheidend ist.“ 

Der erste Teil des Satzes trifft zu, der zweite Teil nicht, denn der gestrichene Satz 2 ließ ja nicht fest, welches "Alter" er meinte. So hatte denn auch der Landtag die Geschäftsordnung (§ 2) bereits unter der Geltung des Satzes 2 am 18. Juli 2019 dahin geändert, daß der "dienst"älteste – nicht mehr der lebensälteste – Abgeordnete als "Alterspräsident" die erste Sitzung einberufen und leiten sollte, der Lebensältere nur bei gleichem Dienstalter (GBl. S. 371) – eine vernünftige Entscheidung, weil es hier mehr um parlamentarische Professionalität als um Lebensweisheit geht. Die Regelung wird durch die Streichung des Art. 30 Abs. 3 S. 2 LVerf. nicht in Frage gestellt, weil mit ja ein Alterpräsidium (irgendeiner Art) nicht verboten wurde. Nach freundlicher Auskunft der Landtagsverwaltung vom 8. August 2023 besteht derzeit keine Absicht, die Geschäftsordnung insoweit erneut in irgendeiner Richtung zu ändern. 

Einziger "Zugewinn" der Streichung: Auch nicht Lebens- oder Dienstälteste dürfen nunmehr mit der Einberufung und Leitung der ersten Sitzung betraut werden. Es gibt Wichtigeres, sollte man denken.

2. Dem Art. 63 (Ausfertigung, Verkündung, Inkrafttreten) im (zu eng betitelten) Abschnitt „Die Gesetzgebung“ wurde folgender Absatz 5 angefügt: 

„Nach Maßgabe eines Gesetzes können die Aus­fertigung von Gesetzen und Rechtsverordnungen und deren Verkündung in elektronischer Form vorgenom­men werden.“

Begründung a.a.O. S. 77: „Die neue Regelung zur Digitalisierung des Gesetzblatts soll dem Stand der Digita­lisierung Rechnung tragen.

In Baden-Württemberg erfolgt die Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen und Rechtsverordnungen entspre-chend den Vorgaben der Landesverfassung in ei­nem analogen Gesetzblatt. Dies ist angesichts der zunehmenden Digitalisierung nicht mehr zeitgemäß. Daher soll durch eine Änderung der Landesverfassung das Gesetzblatt digitalisiert werden, so dass die Ausfertigung und Verkündung von Ge­setzen und Rechtsverordnungen in elektronischer Form erfolgen kann. Die Einzel­heiten der Regelungen sollen einem Gesetz vor-behalten bleiben.“

Eine vernünftige Modernisierung, ohne die jedenfalls Gesetze wohl unverändert nur im gedruckten Gesetzblatt zu veröffentlichen wären.

3. Im Abschnitt „Schlußbestimmungen“ wurde nach Art. 92 (Begriff der Mehrheit und Minderheit der Mitglieder des Landtags) folgender Art. 92a eingefügt: 

„Die Anwesenheit im Rahmen von Beschlussfassungen nach dieser Verfassung umfasst die Teilnahme in elektronischer Form. Näheres kann in der Geschäftsordnung des jeweiligen Gremiums bestimmt werden.“

Begründung a.a.O. S. 77: „Die Anwesenheit im Rahmen von Beschlussfassungen nach dieser Verfassung um-fasst die Teilnahme in elek­tronischer Form. Näheres kann in der Geschäftsord­nung des jeweiligen Gremi-ums bestimmt werden

Mit der Neuregelung zur digitalen Beschlussfassung wird aus Gründen der Rechts­sicherheit klargestellt, dass Beschlussfassungen im Sinne der Landesverfassung auch ohne physische Präsenz der Stimmberechtigten möglich sind. 

Die Klarstellung dient der Rechtssicherheit zum einen mit Blick auf die Handha­bung während der Coronapandemie zur Verringerung der Infektionsschutzrisiken, zum anderen wird dem Stand der Digitalisierung Rechnung getragen. 

Ob und unter welchen Voraussetzungen virtuelle Beschlussfassungen zulässig sein sollen, wird der Geschäftsordnungsautonomie des jeweiligen Gremiums überlas­sen.“

Die Klarstellung bezieht sich nur auf die Anwesenheit bei Beschlussfassungen. Die Anwesenheit gemäß dem Zitierrecht nach Artikel 34 ist nicht umfasst.“

Zu Recht betont die Begründung, daß es sich um eine Klarstellung handele. Auch eine Verfassung verträgt derartiges, solange es nicht überhand nimmt.

Insgesamt leidet die Novelle an dem verfahrensrechtlichen Makel, daß die Verfassungsänderung gleichzeitig mit der Änderung des Landeswahlgesetzes (Artikel 2 der Novelle) beschlossen, ausgefertigt, verkündet und (siehe Art. 3) in Kraft gesetzt wurde. Jedenfalls § 7 LWG, das neue Mindestwahlalter übernehmend, hätte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mindestens die Verkündung und das Inkrafttreten der Verfassungsänderung abwarten müssen. Daß auch andere Verfassungsgeber immer wieder denselben Fehler begehen (siehe die Beispiele auf dieser website), macht die Sache nicht besser.


2. Bayern 

Unter dem 16. Januar 2019 brachten die Fraktionen der CSU und der Freien Wähler einen Entwurf zur Ergänzung des Art. 141 Abs. 4 Satz 1 BV um das "Klima" ein (LT-Drs. 18/101). Er erweiterte das Staatsziel Umweltschutz ausdrücklich um den Klimaschutz und hätte womöglich klimaschädliche Bestrebungen und Maßnahmen im Lande erschweren können. Die Initiative verfehlte jedoch in zweiter Lesung am 26. Februar 2019 (PlPr. 18/11) die erforderliche Zweidrittelmehrheit. 

3. Berlin

a) 2015/2016: Bezirkverordnetenversammlung - Wahlberechtigung

Die Pressemitteilung des Senats von Berlin vom 27. Oktober 2015 berichtet aus der Senatssitzung vom selben Tage in etwas (sprachlich mißlungenen und) euphemistischen Worten so (Hervorhebung nicht im Original):

"Der Senat hat heute auf Vorlage von Innen- und Sportsenator Frank Henkel – nach Stellungnahme durch den Rat der Bürgermeister – beschlossen, den Entwurf des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung der Verfassung von Berlin (VvB) beim Abgeordnetenhaus einzubringen. Der Senat hatte dem Gesetzentwurf in erster Befassung am 29. September 2015 zugestimmt. Ziel ist die Klarstellung, dass die Wahlberechtigung zu der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Wohnbezirk nach Art. 70 Absatz 1 Satz 2 VvB besteht, sobald die wahlberechtigte Person seit mindestens drei Monaten ihren Wohnsitz in Berlin hat. Bisher ist dort geregelt, dass die wahlberechtigte Person seit mindestens drei Monaten in dem entsprechenden Bezirk wohnen muss, um an der Wahl zur BVV im Wohnbezirk teilnehmen zu können. Es besteht somit bezüglich der Voraussetzungen des aktiven Wahlrechts bei BVV-Wahlen nach o.g. Artikel Anpassungsbedarf zwischen Verfassungstext und der Regelung im Landeswahlgesetz (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 LWG). Mit der Verfassungsänderung wird dies umgesetzt."

Die Vorlage (AH-Drs. 17/2571), die etwas deutlicher von "unbeabsichtigter Diskrepanz" und Redaktionsversehen" bei der Änderung des Art. 70 Abs 1 VvB im Jahre 2005 spricht,  ist unter dem 13. November 2015 eingebracht und in erster Lesung am 26. November 2015 (AH-PlPr. 17/72, S. 7416) an die Ausschüsse (Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten; Inneres, Sicherheit und Ordnung)  überwiesen worden. Sie empfahlen am 20. Januar und am 29. Februar 2016 einstimmig die Annahme der Vorlage. Entsprechend votierte das Plenum in zweiter Lesung am 17. März 2016 (PlPr. 17/73, 6206-6213, 6218f.). Das Gesetz wurde am 22. März ausgefertigt und am 5. April 2016 verkündet (GVBl. S. 114). Es trat am 6. April 2016 in Kraft.

Verfassung und Gesetz stimmen seitdem überein. Der Vorgang hat den Makel, daß die 2005 eingeführte Änderung auch hinsichtlich ihrer Anknüpfung an einen dreimonatigen Wohnsitz im Bezirk erstens durchaus sinnvoll war und zweitens nicht nachweislich auf einem Redaktionsversehen bei der Verfassungsänderung beruhte (vgl. AH-Drs. 15/4068. Die dort gewählte Begründung thematisiert zwar - wie die Lesungen im Plenum - diesen Punkt nicht wörtlich, aber doch der Sache nach, wenn sie vom "Lebensumfeld" der Wahlberechtigten spricht.

Das "Redaktionsversehen" gab es wohl eher bei der anschließenden Änderung des Landeswahlgesetzes, die von Art. 70 Abs. 1 VvB nur die Herabsetzung des Wahlalters auf 16, nicht aber die Bindung an den dreimonatigen Bezirkswohnsitz übernahm - möglicherweise dem Umstand geschuldet, daß das Gesetz das Thema zusammen mit der Berechtigung, zum Abgeordnetenhaus zu wählen, in einer Ziffer regelt.

b) 2016/2017: Fakultatives Referendum zu Änderungen von Volksgesetzen durch das Abgeordnetenhaus? - Artt. 62 Abs. 5, 63 Abs. 4 LVerf. (neu)

Die Trägerin des Volksbegehrens "Volksentscheid retten!" wollte Volksgesetze gegen Änderungen durch das Abgeordnetenhaus dadurch schützen, daß sie gegen derartige Änderungen (deren Inkrafttreten zunächst hinausgeschoben wird), ein sog. Einspruchsbegehren zuläßt, das zu einem Volksentscheid über das vom Abgeordnetenhaus beschlossene Änderungsgesetz führen kann (vgl. im einzelnen https://www.volksentscheid-retten.de/ziele-gesetz-zeitplan/). Fakultative Referenden zu allen Parlamentsgesetzen schlugen Fraktions-Initiativen in Thüringen (2016/17; vgl. unten Nr. 16) und in Schleswig-Holstein (2017; vgl. unten Nr. 15 e)

Das Begehren sah (in seiner letzten Version) vor:

Art. 62 (5) 1Ein vom Abgeordnetenhaus beschlossenes Gesetz, das ein durch Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz aufhebt oder ändert, tritt frühestens vier Monate nach seiner Verkündung in Kraft. 2Durch Einspruchsbegehren kann im Wege der freien Sammlung ein Volksentscheid über das vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz verlangt werden. 3Kommt das Einspruchsbegehren zustande[1], tritt das Gesetz nur nach Zustimmung durch Volksentscheid in Kraft. 4Absatz 3 Satz 6 gilt entsprechend. 5Die Sätze 1 bis 4 gelten auch für Gesetze, mit denen das Abgeordnetenhaus einen mit Volksbegehren begehrten Entwurf eines Gesetzes sachlich unverändert angenommen hat. 6Ein Einspruchsbegehren für verfassungsändernde Gesetze im Sinne des Artikels 100 Satz 2 findet keine Anwendung.

Art. 63 (4) 1Ein Einspruchsbegehren kommt zustande, wenn mindestens zwei vom Hundert der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten innerhalb von vier Monaten nach der Verkün­dung des Gesetzes, das ein durch Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz aufhebt oder ä̈ndert, dem Einspruchsbegehren zustimmen. 2Dem Gesetz, das ein durch Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz aufhebt oder ändert, wird durch Volksentscheid zugestimmt, wenn eine Mehrheit der Teilnehmenden und zugleich mindestens ein Fü̈nftel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten zustimmt. 3Einem Gesetz, das ein durch Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz aufhebt oder ändert, das die Verfassung von Berlin ändert, wird durch Volksentscheid zugestimmt, wenn zwei Drittel der Teilnehmenden und zugleich mindestens 35 vom Hundert der zum Abgeordnetenhaus Wahlbe­rech­tigten zustimmen. 4Die Sätze 1 bis 3 gelten auch für Gesetze, mit denen das Abgeordnetenhaus einen mit Volksbegehren begehrten Entwurf eines Gesetzes sach­lich unverändert angenommen hat.”

Diese Neuerungen sollten für eine stärkere Verbindlichkeit von Volksentscheiden sorgen: 

„Laut Artikel 3 Satz 1 VvB wird die gesetzgebende Gewalt durch Volksentscheide und durch die Volksvertretung ausgeü̈bt. Die Gleichrangigkeit parlamentarischer und direktdemokratischer Gesetzgebungsgewalt ermöglicht es dem Parlament, im Volksentscheid zustande gekommene Gesetze wieder zu ändern. Davon machte das Abgeordnetenhaus von Berlin im Januar 2016 Gebrauch, indem es das im Mai 2014 mit 739.124 Ja-Stim­men zustande gekommene Gesetz zum Erhalt des Tempelhofer Feldes änderte. Zwar ist grundsätzlich geboten, dass das Parlament ein durch Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz ändern oder aufheben kann, nur muss, damit sich die Gleichrangigkeit der Gesetzgebungsgewalten im ganzen Verfahren abbildet, den Bürgerinnen und Bü̈r­gern ein Weg eröffnet werden, ü̈ber die Ä̈nderung oder Aufhebung abzustimmen. Das bestehende Verfahren eignet sich in diesem Fall aufgrund seiner zeitlichen Dauer, dem erforderlichen Aufwand und des geltenden Wiederholungsverbots (innerhalb einer Legislaturperiode) nicht. Mit der mit diesem Gesetz bezweck­ten Einfü̈hrung eines Einspruchsbegehrens entscheiden die Berlinerinnen und Berliner selbst, ob die vom Abgeordnetenhaus vorgeschlagene Ä̈nderung oder Aufhebung eines durch Volksentscheid zustande gekommenen Gesetzes erforderlich ist. Volksentscheide bekommen somit eine stärkere Verbindlichkeit, ohne dass die gesetzgebende Gewalt der Volksvertretung grundsätzlich eingeschränkt wird.“

In der Einzelbegründung zu Artikel 62 Abs. 5 heißt es:

„Laut Artikel 3 VvB wird die gesetzgebende Gewalt durch Volksentscheide und durch die Volksvertretung ausgeübt. Diese Gleichwertigkeit muss sich auch in den Verfahren abbilden: wenn ein per Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz durch die Volksvertretung geändert oder aufgehoben werden soll, muss den Abstimmungsberechtigten die Möglichkeit eingeräumt sein, ihren Willen erneut durch Abstimmung unmittelbar auszuüben.

Die Einführung der Einspruchsmöglichkeit im Falle einer Aufhebung oder Änderung von durch Volksentscheid beschlossenen Gesetzen durch das Abgeordnetenhaus (Einspruchsbegehren) soll die Machtbalance zwischen Volk und seinen Vertretern ausgleichen. Die erforderliche Sammlung von Unterschriften soll garantieren, dass ein Volksentscheid über das Aufhebungs- oder Änderungsgesetz nur dann stattfindet, wenn ausreichend Abstimmungsberechtigte einen Einspruch begehren. Das Einspruchsbegehren wird ausschließlich über die freie Unterschriftensammlung nachgewiesen, entsprechend der Regeln zum Nachweis der Unterstützung eines Volksbegehrens, um ein vereinfachtes Verwaltungsverfahren zu ermöglichen.“

Und die in Art. 63 Abs. 4 geregelten Quoren beim fakultativen Referendum werden im einzelnen so begründet:

„Fü̈r das Zustandekommen des Einspruchsbegehrens liegt das Unterschriftenquorum unterhalb dem eines Volksbegehrens, da der Trä̈gerin nach Bekanntwerden des Änderungs- oder Aufhebungsgesetzes nur wenig Zeit zur Vorbereitung bleibt.

Die Zustimmungsquoren für Volksentscheide nach Einspruchsbegehren sind dieselben wie für Volksentscheide nach Volksbegehren. Sofern ein Volksentscheid durch Einspruchsbegehren verlangt wird, tritt die vom Abgeordnetenhaus geplante Gesetzesänderung nur dann in Kraft, wenn die Mehrheit der Teilnehmenden dieser zustimmt und die Zustimmung zugleich 20 vom Hundert der Abstimmungsberechtigten bei einfachen Gesetzen und 35 vom Hundert bei Verfassungsä̈nderungen entspricht. Die Orientierung am Zustimmungsquorum eines Volksentscheids durch Volksbegehren ist dadurch begrü̈ndet, dass für die vom Abgeordnetenhaus geplante Ä̈nderung oder Aufhebung die gleiche Hü̈rde gelten sollte, wie fü̈r das Gesetz, das durch Volksentscheid zustande kam und welches das Abgeordnetenhaus zu ä̈ndern bezweckt.“

Nachdem die Initiative beträchtlich mehr als die notwendige Zahl von Unterschriften gesammelt hatte, stellte sie am 7. Juli 2016 den Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens.

Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hatte seitdem zu prüfen, ob das Begehren zulässig ist, § 17 II AbstG; eine Frist setzt das Gesetz nicht. Liegt das Prüfergebnis vor, hat der Senat binnen 15 Tagen Stellung zu nehmen, § 17 IV AbstG. Verstößt das Begehren seiner Ansicht nach gegen § 11 (Gegenstand) oder § 12 (Zulässigkeit, insbesondere Vereinbarkeit mit Bundesrecht und der Verfassung von Berlin) AbstG, hat er die Sache binnen 15 Tagen dem Verfassungsgerichtshof vorzulegen, § 17 VI 1 AbstG.

Das Prüfergebnis der Senatsverwaltung für Inneres und Sport liegt seit dem 7. April 2017 vor,  nachdem sie im Interesse der Transparenz des Verfahrens am 2. Februar 2017 vorab ein unter dem 24. Oktober 2016 erstattetes Rechtsgutachten zur Frage der Vereinbarkeit des Entwurfs mit höherem Recht ins Netz gestellt hatte (https://www.berlin.de/sen/inneres/aktuelles/ artikel.556950.php). Die Pressemitteilung vom 7. April 2017 (http://www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2017/pressemitteilung.580785.php) lautet:

"Erstmals hat die Senatsverwaltung für Inneres und Sport die Zulässigkeit eines beantragten Volksbegehrens geprüft, das auf eine Änderung der Verfassung von Berlin gerichtet ist. Die Zulässigkeitsprüfung des Volksbegehrens „Volksentscheid retten!“, in die auch die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung einbezogen war, ist nach intensiver Prüfung abgeschlossen. Das Ergebnis hat die Innenverwaltung heute den Vertrauenspersonen mitgeteilt.

Wesentliche Regelungen des beantragten Volksbegehrens sind zulässig; dazu gehören die Senkung der Quoren bei Volksbegehren und Volksentscheiden, die regelmäßige Zusammenlegung von Volksentscheiden mit allgemeinen Wahlen und das Verbot mehrmaliger Volksbegehren zu einem Thema innerhalb einer Legislaturperiode.

Die beabsichtigte Regelung von Einspruchsbegehren und fakultativem Referendum verstößt allerdings gegen das Grundgesetz.

Diese Regelung besagt folgendes: Wenn das Berliner Abgeordnetenhaus ein Gesetz ändern oder aufheben will, das durch einen Volksentscheid zustande gekommen ist, muss es in der ersten Phase mindestens vier Monate abwarten, um zu sehen, ob sich in einem vereinfachten Volksbegehren (dem Einspruchsbegehren) nicht mindestens 2 % der Wahlberechtigten gegen diesen Willen des Abgeordnetenhauses (ein Änderungs- oder Aufhebungsgesetz zu beschließen) ausgesprochen haben. Wäre ein solches Einspruchsbegehren erfolgreich, könnte das vom Abgeordnetenhaus beschlossene Änderungs- oder Aufhebungsgesetz nur dann in Kraft treten, wenn es die Zustimmung in einem sodann durchzuführenden Volksentscheid erhält (Zweite Phase: fakultatives Referendum; bei einfachen Gesetzen: Zustandekommen bei Zustimmung von mindestens 20 % der Wahlberechtigten als Quorum, bei einfacher Mehrheit; bei verfassungsändernden Gesetzen: Zustandekommen bei Zustimmung von mindestens 35 % der Wahlberechtigten als Quorum, bei 2/3 Mehrheit).

Diese Regelung ist mit dem im Grundgesetz verbindlich vorgegebenen Prinzip der repräsentativen Demokratie nicht vereinbar. Denn sie erschwert dem Abgeordnetenhaus als gewählter Volksvertretung, selbst dringende und eilbedürftige Änderungen von Volksgesetzen vorzunehmen.

Diese Einschätzung beruht auf einer Grundsatzentscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 2009. Nach dieser Entscheidung kann ein Volksbegehren in Berlin selbst dann zulässig sein, wenn es künftig zu einer sehr starken Belastung des Berliner Landeshaushalts führt. Diese plebiszitfreundliche Verfassungsauslegung knüpfte der Verfassungsgerichtshof allerdings ausdrücklich an die Erwartung, dass das Abgeordnetenhaus seinen haushaltspolitischen Handlungsspielraum im Fall haushaltsbelastender Volksentscheide jederzeit durch eine Änderung oder Aufhebung des haushaltsbelastenden Volksgesetzes zurückgewinnen könne. Diese Möglichkeit der jederzeitigen – also erforderlichenfalls auch sehr kurzfristigen – Änderung oder Aufhebung finanzwirksamer Volksgesetze schließt die beabsichtigte Regelung des Einspruchsbegehrens und des fakultativen Referendums jedoch gerade aus.

In dem heute übermittelten Unterrichtungsschreiben der Innenverwaltung wurden die Vertrauenspersonen des Volksbegehrens allerdings darauf hingewiesen, dass eine Behebung der Zulässigkeitsmängel durch Änderung des Gesetzentwurfs auch im erreichten Verfahrensstadium nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Würden die Vertrauenspersonen einen geänderten Gesetzentwurf vorlegen, hätte die Innenverwaltung nach § 17 Abs. 3 des Abstimmungsgesetzes zu prüfen, ob die vorgesehenen Änderungen den Gegenstand des Volksbegehrens unberührt lassen.

Bleibt der Gesetzentwurf unverändert, muss die Innenverwaltung den Gesetzentwurf – vorbehaltlich der förmlichen Entscheidung des Senats – dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin vorlegen. Nur der Verfassungsgerichtshof ist nach dem Berliner Abstimmungsgesetz befugt, die Unzulässigkeit eines beantragten Volksbegehrens endgültig festzustellen."

Die Pressemitteilung läßt nicht erkennen, wie die Senatsverwaltung fakultative Referenden beurteilt, die Volksgesetze vor Änderungen druch das Parlament "schützen", die nicht finanzwirksam sind.

Die InitiatorInnen waren sich über das weitere Vorgehen - Weiterverfolgung des unveränderten Entwurfs oder Anpassung des Entwurfs an die Hinweise der Senatsverwaltung - offenbar (wie sich bereits in Mitteilungen auf ihrer website vom 12. Juni 2017 andeutete) nicht einig, zumal der ursprüngliche Zeitplan, der an einen Volksentscheid am Tag der Bundestagswahl 2017 dachte, längst nicht mehr einzuhalten war. So teilten sie kurz vor Ablauf der von der Senatsverwaltung mehrfach verlängerten Frist zur Stellungnahme am 26. Juli 2017 mit, daß sie das Begehren derzeit nicht weiterverfolgen würden. Eine erneute Initiative rechtzeitig vor dem nächsten Wahltermin wollten sie nicht ausschließen.

c) 2020: Beschlußfähigkeit des Abgeordnetenhauses in außergewöhnlichen Notlagen, Art. 43 Abs. 3-7 VvB

Art. 43 Abs. 1 VvB erklärt das Abgeordnetenhaus für beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder anwesend sind. In der Sorge, daß die Corona-Pandemie der Zusammenkunft so vieler im Wege stehen könnte, fügte das verfassungsändernde Gesetz vom 17. Dezember 2020 (GVBl. S.1478) dem Art. 43 VvB die folgenden Abätze an:

„(3) Das Abgeordnetenhaus ist abweichend von Absatz 1 im Falle der außergewöhnlichen Notlage einer Pandemie oder Naturkatastrophe beschlussfähig, wenn mehr als ein Viertel der gewählten Abgeordneten anwesend ist.
(4) Das Abweichen nach Absatz 3 bedarf eines Beschlusses mit mehr als vier Fünfteln der gewählten Abgeordneten oder, wenn dies auf Grund der Notlage unmöglich ist, mit mehr als vier Fünfteln der Mitglieder des Ältestenrats des Abgeordnetenhauses. Dieser Beschluss tritt nach spätestens drei Monaten oder auf Verlangen eines Fünftels der gewählten Abgeordneten oder der Mitglieder des Ältestenrats außer Kraft. Der Beschluss nach Satz 1 tritt auch außer Kraft auf schriftlichen Antrag aller Mitglieder zweier Fraktionen.
(5) Die Absätze 3 und 4 finden keine Anwendung auf Wahlen und Beschlussfassungen nach Artikel 4 Absatz 2, Artikel 54 Absatz 2, Artikel 56 Absatz 1, Artikel 57 Absatz 2 und 3, Artikel 84 Absatz 1 und Artikel 100. Gleiches gilt für Änderungen der Geschäftsordnung.
(6) Alle Gesetze, die das Abgeordnetenhaus während der außergewöhnlichen Notlage nach den Absätzen 3 und 4 beschlossen hat, sind innerhalb von vier Wochen nach einem Wiederzusammentreten des Abgeordnetenhauses nach Absatz 1 durch Beschluss des Abgeordnetenhauses zu bestätigen, der in einer Lesung erfolgen kann, und treten anderenfalls außer Kraft.
(7) Die Absätze 3 bis 7 treten mit Ablauf der 18. Wahlperiode außer Kraft.“

Absatz 7 überrascht, weil er anzunehmen scheint, daß der Corona-Schrecken schon im Oktober 2021 vorbei sein wird und neue Pandemien nicht zu erwarten sein werden, und überdies nicht beachtet, daß die Neuregelung ja eigentlich auch für "Naturkatastrophen" (vgl. Absatz 3) gelten soll, zu denen eine Pandemie ausweislich des Textes nicht zählt, so daß die neuen Absätze 3 bis 6 ihre Bedeutung auch in pandemiefreien Zeiten behalten.

Redaktionell kritisch sei auch angemerkt: Absätze 3 und 4 sprechen zudem - wie schon bisher Artt. 43 Abs. 1, 57 Abs. 3 S. 1, 100 S. 1 VvB - von "gewählten" Abgeordneten, so als gäbe es auch nicht gewählte, und verraten damit beiläufig die Geschichtsvergessenheit auch der Abgeordneten der 18. Wahlperiode. 

Die gesamte Regelung ist - unabhängig davon - nicht leicht erklärlich. Sie setzt voraus, daß "anwesend" im Sinne des Art. 43 Abs. 1 VvB nur die körperlich präsenten Abgeordneten sind und daß diese Präsenz von mehr als der Hälfte der Abgeordneten in Zeiten einer Pandemie oder Naturkatastrophe gefährdet sein könnte. Die erste Annahme mutet im digitalen Zeitalter anachronistisch an, die zweite überängstlich und zugleich (weil sie davon ausgeht, daß jedenfalls mehr als ein Viertel der Abgeordneten unter allen Umständen wird anwesend sein können) überoptimistisch. Die Erläuterungen der fünf Fraktionen, die den Änderungsantrag unter dem 18. November 2020 einbrachten (AH-Drs. 18/3179), ändern an diesem Eindruck nichts. 

Der minimalinvasive Eingriff in den Verfassungstext, wie ihn der Wissenschaftliche Parlamentsdienst des Abegordnetenhauses in seiner Gutachtlichen Stellungnahme vom 29. März 2020 vorgeschlagen hatte (Streichung des Art. 43 Abs. 1 VvB, der das Abgeordnetenhaus für beschlußfähig erklärt, wenn mehr als die Hälfte der Mitgieder anwesend ist), wäre - wenn man überhaupt an eine Verfassungsänderung denken wollte - ein besserer Weg gewesen. 

d) 2021: Bedingtes Bekenntnis zu Europa, Art. 1 Abs. 2 VvB

Unter dem 25. März 2021 brachte die Fraktionen des Abgeordnetenhauses (ohne die AfD) den Entwurf einer Neufassung des Absatzes 2 des Art. 1 VvB ein (AH-Drs. 18/3543). Sie ergänzt die bisherige Aussage, Berlin sei ein Land der Bundesrepublik, um ein detailliertes und bedingtes Bekenntnis zur Europäischen Union, das ähnlich auch in den anderen deutschen Verfassungen zu finden ist. Ausschüsse und Plenum (AH-PlPr. 18/77 vom 22. April 2021; 18/78 vom 6. Mai 2021) hatten mehrheitlich nichts auszusetzen. Das am 17. Mai 2021 ausgefertigte und am 26. Mai 2021 (in GVBl. S. 502) verkündete Gesetz trat am 27. Mai 2021 in Kraft.

e) 2023: Herabsetzung der AH-Wahlberechtigung auf 16 Jahre, Art. 39 III VvB

Durch Gesetz vom 20. Dezember 2023, mehrheitlich beschlossen am 14., verkündet am 23. und in Kraft am 24. Dezember 2023 (GVBl. S. 457), wurde das Mindestalter für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt, damit dem Vorbild sechs anderer Bundesländer (Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein) und dem, was seit 2005 für die Bezirksverordnetenversammlungen und seit 2023 für die Wahlen zum Europäischen Parlament gilt, folgend.

Der Senat hatte seinen Entwurf im September 2023 (AH-Drs. 19/1169, S. 6-7) so begründet:

"Aus staats- und gesellschaftspolitischen Gründen ist es wichtig, junge Menschen frühzeitig in demokratische Entscheidungsprozesse einzubeziehen und ihnen demokratische Teilhabe zu ermöglichen. Jugendliche sollen sich in diese Prozesse einbringen und aktiv an der Willensbildung des Volkes beteiligen können, zumal landespolitische Entscheidungen weitreichende Konsequenzen für die folgenden Generationen haben können. Damit Jugendliche ihren politischen Einfluss bei Wahlen zum Abgeordnetenhaus ausüben können, sollen sie ab 16 Jahren das aktive Wahlrecht erhalten.

Die Absenkung des Mindestalters für die Ausübung des aktiven Wahlrechts eröffnet den 16-und 17-jährigen zugleich die Möglichkeit, Volksbegehren zu unterstützen und an Volksentscheiden teilzunehmen, da die dortige Unterstützungsberechtigung an das Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus geknüpft ist (Artikel 63 Absätze 1 bis 3 der Verfassung von Berlin). Einer gleichzeitigen Änderung des Artikel 63 VvB bedarf es mithin nicht.

In Berlin sind 16- und 17-Jährige bereits bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (Artikel 70 Absatz 1 der Verfassung von Berlin) wahlberechtigt. Mit Gesetz vom 11. Januar 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 11) hat der Bundesgesetzgeber das Wahlalter für die Wahlen zum Europäischen Parlament ebenfalls auf 16 Jahre gesenkt.

Verfassungsrechtlich ist eine Absenkung der Altersgrenze auf 16 Jahre für das aktive Abgeordnetenhauswahlrecht unbedenklich. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Verknüpfung der Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich an, sofern das Wahlalter nicht willkürlich festgesetzt wird (vgl. BVerfGE 36, 139 <141>). Eine Bindung des aktiven Wahlalters etwa an die bürgerlich-rechtliche Geschäftsfähigkeit (18 Jahre) ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zwingend. Das abweichende Wahlalter für Wahlen zum Deutschen Bundestag steht hier auch nicht entgegen. Die Entscheidung hängt allein davon ab, ob die Herabsetzung unter Berücksichtigung der Fähigkeiten von 16 bis 17-Jährigen für sinnvoll erachtet wird.

Durch die Änderung erhalten – Stand Ende Juni 2023 – rund 50.000 Berlinerinnen und Berliner zusätzlich das aktive Wahlrecht. Bezogen auf die Zahl der über 18-Jähirgen von rund 2.500.000 Bürgerinnen und Bürgern entspricht dies einem Anwachsen der Wählerschaft um rund 2 Prozent.

Das passive Wahlrecht (Wählbarkeit) bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus soll dem Beispiel anderer Bundesländer, die das aktive Wahlalter gesenkt haben, folgend unverändert an die Vollendung des 18. Lebensjahres geknüpft bleiben. Dies ist aufgrund der bedeutenden, sich landesweit auswirkenden und gerade in Gesetzgebungsverfahren sehr abstrakten Entscheidungen, die Abgeordnete zu treffen haben, sachgerecht. Darüber hinaus stehen Mitglieder des Abgeordnetenhauses in besonderer Weise im Licht der Öffentlichkeit, weshalb eine Absenkung des Mindestalters für das passive Wahlrecht auch wegen des Minderjährigenschutzes nicht angemessen erscheint. Die umfangreichen und vielfach die Anwesenheit im Parlament erfordernden Aufgaben der Abgeordneten wären kaum mit dem Schulbesuch oder einer Ausbildung in Einklang zu bringen."

Die gebotene Folgeänderung des § 1 Abs. 1 des Landeswahlgesetzes wurde an denselben Tagen beschlossen, ausgefertigt, verkündet und Kraft gesetzt wie die Verfassungsänderung. Daß diese Gleichzeitigkeit gegen die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt, wurde – wie so oft – nicht bemerkt oder jedenfalls hingenommen.


4. Brandenburg

a) 2014/2015: Zwei Landtags-VizepräsidentInnen, Art. 69 LVerf.

Im Dezember 2014 brachten die beiden die Regierung tragenden Fraktionen den Antrag ein, künftig zwei Vizepräsidenten des Landtages vorzusehen (LT-Drs. 6/209; dazu Bericht und Empfehlung des Hauptausschusses vom 16. März 2015, LT-Drs. 6/851). Am 18. März 2015 wurde die Änderung  mit Wirkung von der 7. Wahlperiode an beschlossen, am 2015 ausgefertigt und am 2015 verkündet (GVBl. I 2015, Nr. 6). Die Opposition wurde für die Änderung gewonnen, nachdem für die Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten in Anlehnung an Art. 41 Abs. 2 Satz 2 VvB den Fraktionen das Vorschlagsrecht in der Reihenfolge ihrer Stärke zugestanden wurde (und sich damit die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß auch Oppositionsfraktionen zum Zuge kommen) und das Inkrafttreten auf den Begin der kommenden Legislaturperiode hinausgeschoben wurde.

b) 2019: Schuldenbremse, Untersuchungsausschüsse, Volksbegehren

Unter dem 17. Januar 2019 brachten die Fraktionen der SPD, der CDU, Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung ein, der die Schuldembremse des Art. 109 GG unmittelbar in der Landesverfassung verankert (LT-Drs. 6/10391), in den Landtag ein, der am 31. Januar 2019 über ihn in erster Lesung beriet und ihn zur weiteren Beratung an den Hauptausschuß überwies (LT-PlPr. 6/72).

Art. 103 (Kreditaufnahme) LV sollte danach die folgende Fassung erhalten:

"(1) Der Haushalt des Landes ist grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. 

(2) Zur Berücksichtigung einer von der Normallage abweichenden negativen kon-junkturellen Entwicklung kann von dem in Absatz 1 genannten Grundsatz abgewi-chen werden. Im Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituatio-nen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, kann aufgrund eines Beschlusses mit einfacher Mehr-heit des Landtags von dem in Absatz 1 genannten Grundsatz abgewichen werden. Der Beschluss nach Satz 2 ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. 

(3) Die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistun-gen, die zu Ausgaben in künftigen Haushaltsjahren führen können, bedarf einer der Höhe nach bestimmten Ermächtigung durch Gesetz. Gleiches gilt für die in Ausnahme von Absatz 1 zulässige Aufnahme von Krediten. Für die Kreditaufnah-me gemäß Absatz 2 Satz 1 kann eine Abweichung von der gesetzlich bestimmten Höhe im Ergebnis des Haushaltsvollzuges vorgesehen werden. 

(4) Das Nähere regelt ein Gesetz.“ 

Zur Erläuterung heißt es (S. 2) u.a.:

"In Artikel 103 Absatz 1 der Landesverfassung werden die bestehenden Möglichkeiten der Nettokreditaufnahme aufgehoben und durch die Vorgabe eines grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichenden Haushalts ersetzt.

Absatz 2 definiert die Ausnahmeregelungen zur Berücksichtigung einer negativen Abweichung von der konjunkturellen Normallage und zur Abweichung im Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen.

Absatz 3 stellt klar, dass zulässige Ausnahmen von Absatz 1 immer einer der Höhe nach bestimmten Ermächtigung durch Gesetz bedürfen. Diese Ausnahmen betreffen ausschließlich die in Artikel 109 Absatz 3 GG vorgesehen Sachverhalte einer Kreditaufnahmemöglichkeit zur

–  symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung und

–  Bewältigung von Naturkatastrophen oder außergewöhnlicher Notsituationen, die sich der Kontrolle des Landes entziehen und die Finanzlage des Landes erheblich beeinträchtigen.

Absatz 4 legt fest, dass die weiteren Bestimmungen zur Ausgestaltung des grundsätzlichen Kreditaufnahmeverbots und der hiervon im Rahmen des Grundgesetzes zulässigen Ausnahmen einer gesetzlichen Regelung vorbehalten bleiben. Dies soll durch eine gesonderte Änderung der Landeshaushaltsordnung (LHO) erfolgen."

Dieselben Fraktionen legten am 5. März 2019 einen Änderungsantrag vor (Anlage 2 zu LT-Drs. 6/11341), der weitere, von der Schuldenbremse völlig unabhängige Themen (Aufgaben des Landtages, Recht der Untersuchungsausschüsse, Volksbegehren - Artt. 55, 72, 78 LVerf.) aufnahm. Nach einer (in LT-Drs. 6/11341 dokumentierten) Anhörung wurde die Änderung in der Gestalt der Empfehlungen des Hauptausschusses am 15. und 16. Mai 2019 in zweiter und dritter Lesung beraten sowie am 16. Mai 2019 beschlossen (LT-PlPr. 6/77, 78), ausgefertigt und verkündet (GVBl. I Nr. 16). Sie trat am 1. Januar 2020 in Kraft (Art. 2). Das Änderungsdatum ist, was die Schuldenbremse anlangt, einsichtig, hinsichtlich der anderen Änderungen, die sofort hätten in Kraft treten können, nicht.

c) 2021/2022: Bekämpfung des Antisemitismus, Schutz jüdischen Lebens; Freundschaft mit Polen; Parlamentsrecht

Unter dem 4. Juni 2021 brachten die Fraktionen der SPD, der CDU, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung ein, dessen zentrales Anliegen die Bekämpfung des Antsemitismus und der Schutz jüdischen Lebens sind (LT-Drs. 7/3680). Daneben hebt der Entwurf die Freundschaft mit Polen hervor, versucht sich (in einem Artikel!) in gendergerechter Sprache und modernisiert das Parlamentsrecht an zwei Stellen (Stellung der Fraktionen; Besetzung des Landtagspräsidiums).

Im einzelnen geht es - der Reihenfolge der zu ändernden Artikel nach - um die Änderung (eingerückt jeweils darunter die späteren Modifkationen des Hauptausschuses) 

des Art. 2 Abs. 1: Der Relativsatz "welches die Zusammenarbeit mit anderen Völkern, insbesondere mit dem polnischen Nachbarn, anstrebt" wird ersetzt durch den Relativsatz "welches die Zusammenarbeit mit anderen Völkern anstrebt und hierbei die Freundschaft mit dem Nachbarn Polen stetig vertieft". Damit soll "die ständig wachsende Partnerschaft zur Republik Polen nachvollzogen werden" (LT-Drs. 7/3680, S. 7). Das Motiv ist nachvollziehbar, die Änderung selbst prätentiös und vereinnahmend.

  • Die Formulierung des Hausptausschuses ("... und hierbei insbesondere die freundschaftllichen Beziehungen mit dem Nachbarland Polen pflegt und weiterentwickelt.") ist ein wenig zurückgenommener und insofern zu begrüßen. 

des Art. 3 Abs. 1 und 2: Vor den "Bürgern" und "Einwohnern" sollen künftig die "Bürgerinnen" und "Einwohnerinnen" genannt und damit (LT-Drs. 7/3680, S. 8) ein erster Schritt zur "geschlechtergerechten Sprache" in der Verfassung gemacht werden. Wenn man eine derartige sprachliche Anpassung für geboten hält, wäre es professioneller gewesen, in einem Aritkel 3 des Änderungsgesetzes das Justizministerium mit einer entsprechenden redaktionellen Ergänzung des gesamten Verfassungstextes (und dessen anschließender Neubekanntmachung) zu betrauen oder, wenn man derartiges dem Landesministerium nicht zutraut, sie selbst sofort vorzunehmen. Die Ergänzung nur des Art 3 (und beiläufig der ergänzten Art. 67 Abs. 1 S. 2 und Art. 69 Abs. 1) wirkt lächerlich.

  • Der Hauptausschuß ist konsequenter und gendert den gesamten Text der Verfassung.

des Art. 7a: Der bisherige einzige Satz wird zu Absatz 1 und sein zweiter Halbssatz um die Wörter "Antisemitismus sowie" ergänzt. In einem neuen Absatz 2 soll es heißen: "Das Land fördert die Stärkung des jüdischen Lebens". Das Motiv ist ehrenwert, aber die Ausgestaltung - etwa wenn ein Vergleich mit dem 4. Abschnitt des 2. Hauptteils erlaubt ist - eher kümmerlich. Unabhängig davon scheint mir dies eher ein Bundesthema.

  • Der Hauptausschuß fügt in Absatz 1 zwischen "Antisemitismus" und "sowie" ", Antiziganismus" ein. Das ist ein Anfang. Absatz 2 vereinfacht und verstärkt er etwas: "Das Land fördert das jüdische Leben und die jüdische Kultur". Das Motiv ist ehrenwert, die Sprache eher unbeholfen (Gehört Kultur nicht zum Leben?).

des Art. 67 Abs. 1 S. 2: Die Beschreibung der Funktionen der Landtags-Fraktionen soll dadurch modernisiert (und an die Änderung des Fraktionsgesetzes 2019 angepaßt) werden, daß an die Stelle der Formulierung "und unterstützen die parlamentarische Willensbildung"  die Formulierung "sie sind Adressat der politischen Willensäußerung der Bürgerinnen und Bürger und unterstützen den parlamentarisch-politischen Willenbildungsprozess"  tritt. Ich bin nicht sicher, wie man darauf kommen kann, in dieser (nichtssagenden und sprachlich völlig verunglückten) Änderung liege eine "Präzisierung" der Rechtsstellung der Fraktionen (LT-Drs. 7/3680, S. 8).

  • Der Hauptausschuß hat sich daran nicht gestört.

des Art. 69 Abs. 1: Daß das Präsidium nicht mehr in der ersten Sitzung des neuen Landtages gewählt werden muß, erscheint sinnvoll; wenn die Opposition bestimmte Besetzungsrechte haben soll, muß man wissen, wer Opposition ist, und das steht regelmäßig nicht bereits vor oder in der ersten Sitzung fest.

  • Den Hauptausschuß hat das nicht gehindert vorzuschlagen, die alte Formulierung "in der ersten Sitzung" wieder einzufügen.

Die Streichung des Rechtes der Fraktionen, die Präsidentin (den Präsidenten) und die VizepräsidentInnen in der Reihenfolge ihrer Stärke zur Wahl vorzuschlagen, dürfte sich (ohne daß die Begründung des Entwurfs, a.a.O. S. 8, dies zu erkennen gibt) gegen die AfD richten. Nach dem neuen Satz 2 soll ein/e VizepräsiidentIn einer Oppositiionsfraktion angehören. Daß die Regelung auch die "Möglichkeit" zulasse, daß die/der PräsidentIn einer Oppositionsfraktion angehört (so die Begründung, a.a.O. S. 8), mag formal stimmen, hat aber mit der politischen Realität nichts zu tun.

    • Der Hauptausschuß hatte in der Sache nichts einzuwenden. Die auch hier vorgetragenen Proteste der AfD verhallten.  

In der ersten Beratung am 16. Juni 2021 (LT-PlPr 7/46) überwies der Landtag den Entwurf an den Hauptausschuß.

Der Hauptausschuß brauchte ein Jahr, um seinen Bericht und seine Beschlußempfehlung vorzulegen (LT-Drs. 7/5718 vom 20. Juni 2022). Seine Änderungs- und Ergänzungsvorschläge sind in die obirge Liste der von den Regierungsfraktionen eingebrachten Änderungsentwürfe eingetragen. Eine knappe verfassungsändernde Mehrheit, bestehend aus den Regierungsfraktionen und der Fraktion DIE LINKE, nahm gegen die Stimmen der vor allem durch die Neufassung des Art. 69 Abs.1 gekränkten AfD die Änderungsvorschläge in der Fassung des Hauptausschusses am 23. Juni 2022 an (LT- PlPr. 7/70). Das Gesetz wurde am 5. Juli 2022 ausgefertigt und am 6. Juli 2022 verkündet (GVBl. I Nr. 19). Es tritt am 7. Juli 2022 in Kraft.

Insgesamt: Die Intensivierung und Erweiterung der Artt. 2 I, 7a sind in der Sache angemessen (wenngleich  sprachlich nicht sonderlich gelungen). Die Sprechblase des neuen Art. 67 I 2 ist sinnlos. Die Umformulierung des Art. 69 I 2 trägt den Makel eines kurzsichtigen politischen Manövers; ihn mindert der Umstand, daß sie im Kern zur Ursprungsfassung des Art. 69 I zurückkehrt.

Die nun fast durchgängige sog. Gendergerechtigkeit der Sprache (die für die keine ist, die mehr als zwei Geschlechter kennen) wirkt unbeholfen, fast lächerlich. "Einwohneranträge" heißen nach wie vor so, sind also nicht in "Einwohnerinnen- und Einwohneranträge" umbenannt worden, ebenso wenig sind "Bürgerbegehren" und "Bürgerentscheid" gegendert worden. Daran, daß "die Person" weiblich und "der Mensch" männlich ist, stört sich der verfassungsändernde Gesetzgeber übrigens nicht. 

Redaktionell hilfreich wäre es - wenn man sich schon mit Krümelkram abgibt - gewesen, auch die Sätze (nicht nur, wie üblich, die Absätze) zu nummerieren. In Art. 22 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 müßte es "haben" statt "hat" heißen. Und wenn man schon Hand an Art. 6 Abs. 1 legt, hätte einem auffallen können, daß der Rechtsweg nicht nur dem offen steht, dessen Rechte verletzt sind, sondern jedem, der annimmt, seine Rechte seien verletzt. 

5. Bremen

a) 2015: Schuldenbremse, Artt. 131a, 131b, 131c LVerf.

2012 ergriffen Fraktionen der Bürgerschaft Initiativen zur Einführung einer Schuldenbremse nach dem Vorbild des Grundgesetzes sowie von Ländern wie Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein (CDU: Entwurf vom 5. Juni 2012, Drs. 18/444; SPD und Grüne: Entwurf vom 10. Juli 2012 (Neufassung des Art. 131a, Einfügung der Artt. 131b und 131c), Drs. 18/523). Eine erste Lesung fand am 12. Juli 2012 statt (PlPr. 18/24, S. 1533-1541). Ein nichtständiger Ausschuß nach Art. 125 LV wurde mit der weiteren Befassung betraut. Er holte 2013 Stellungnahmen diverser Sachverständiger ein, die auf der website der Bürgerschaft nachgelesen werden können. Unter dem 29. April 2014 teilte der Senat der Bürgerschaft auf Anfrage mit, welche Auswirkungen die Reform seiner Ansicht nach auf die Kommunen haben würde, nachdem Art. 146 LV derzeit auf Artt. 131-133 LV verweist, so daß die Schuldenbremse dann auch die Kommunen erfassen würde (Drs. 18/1370). Die letzte Sitzung des Ausschusses fand am 11. November 2014 statt. Bericht und Beschlußempfehlung legte der Ausschuß unter dem 16. Dezember 2014 der Bürgerschaft vor.  

Das Plenum verabschiedete die Änderung, den Empfehlungen entsprechend, in dritter Lesung am 22. Januar 2015. Sie wurde am 27. Januar 2015 ausgefertigt und am 29. Januar 2015 (GBl. S. 23) verkündet.  

b) 2015/16: Nichtigerklärung und Ersatz des Art. 61 Satz 2 LVerf. 

Satz 2 des Art. 61 LVerf., nach dem durch Gesetz Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtsstellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen werden konnte, erklärte das Bundesverfassungsgericht durch Beschluß vom 30. Juni 2015 für nichtig (Entscheidungsformel: BGBl. I 2015 S. 1932). In seiner Pressemitteilung vom 11. August 2015 hieß es dazu:

"Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften durch Landesgesetz verstößt gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung

Pressemitteilung Nr. 59/2015 vom 11. August 2015

Beschluss vom 30. Juni 2015

2 BvR 1282/11

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat Art. 61 Satz 2 der Bremischen Landesverfassung (LV-Bremen) mit heute veröffentlichtem Beschluss für nichtig erklärt und damit zugleich einer Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen in Deutschland" teilweise stattgegeben. Den Ländern obliegt die Prüfung, ob einer Religionsgemeinschaft auf ihren Antrag der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen ist.

Indem Art. 61 Satz 2 LV-Bremen diese Prüfung dem Landesparlament zuweist, verstößt er gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Durch die Durchführung des verfassungswidrigen Gesetzgebungsverfahrens ist die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV verletzt. Die Richter Voßkuhle, Hermanns und Müller haben ein gemeinsames Sondervotum zu dem Beschluss abgegeben.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Beschwerdeführerin ist die Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen in Deutschland", die ihre Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts auch für das Gebiet der Freien Hansestadt Bremen erstrebt. Dieser Status vermittelt unter anderem das Steuererhebungsrecht, Organisations- und Rechtssetzungsautonomie sowie die Dienstherrenfähigkeit. In der Staatspraxis folgt auf die Erstverleihung des Körperschaftsstatus in einem Land noch die Durchführung von sogenannten Zweitverleihungsverfahren in den weiteren Ländern.

In Bezug auf die Beschwerdeführerin fand die Erstverleihung im Jahr 2006 in Berlin statt. Ihr ging ein Gerichtsverfahren voraus, in dem unter anderem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 19. Dezember 2000 (BVerfGE 102, 370 ff.) die Voraussetzungen konkretisierte, unter denen eine Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen kann. Die Zweitverleihung ist mittlerweile in 12 der übrigen 15 Länder erfolgt. In Nordrhein-Westfalen ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen; ein Verwaltungsgerichtsverfahren in Baden-Württemberg ist mit Blick auf das hiesige Verfassungsbeschwerdeverfahren ruhend gestellt. In Bremen ist - anders als in den übrigen Ländern - nach Art. 61 Satz 2 LV-Bremen die Verleihung des Körperschaftsstatus durch förmliches Gesetz der Bremischen Bürgerschaft vorgesehen. Die Bürgerschaft lehnte einen vom Senat eingebrachten Gesetzentwurf über die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Beschwerdeführerin am 12. Mai 2011 ab.

Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mittelbar zugleich gegen Art. 61 Satz 2 LV-Bremen.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise begründet.

1. Neben den ausdrücklich in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV genannten Voraussetzungen muss eine Religionsgemeinschaft für die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts weitere, ungeschriebene Voraussetzungen erfüllen (vgl. BVerfGE 102, 370). Sie muss rechtstreu sein, insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des Religions- und Staatskirchenrechts nicht gefährdet. Sind die Voraussetzungen erfüllt, hat die antragstellende Religionsgemeinschaft einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Verleihung des Körperschaftsstatus. Die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität verwehrt es dabei dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten; diese können jedoch Rückschlüsse auf das von der Religionsgemeinschaft zu erwartende Verhalten zulassen.

2. Die Prüfung obliegt dem jeweiligen Land, für dessen Staatsgebiet die Religionsgemeinschaft die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Rechte in Anspruch nehmen will.

a) Mit der Verleihung des Körperschaftsstatus nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV an eine Religionsgemeinschaft vollziehen die Länder kein Bundesgesetz im Sinne des Art. 83 GG. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei den Normen des Grundgesetzes überhaupt um Bundesgesetze in diesem Sinne handeln kann. Denn jedenfalls setzt dies eine Kompetenzzuweisung an den Bund voraus, die im Bereich des Staatskirchenrechts gerade fehlt. Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV enthält keine kompetenzrechtliche Aussage. Die Bestimmung unterscheidet sich insoweit nicht von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG oder Art. 8 Abs. 1 GG, die ebenfalls zwar bundesrechtliche Grundrechtsgarantien - der Rundfunk- und Versammlungsfreiheit - statuieren, für die bundesstaatliche Kompetenzverteilung jedoch ohne Bedeutung sind. Zur Gewährleistung des verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs obliegt es den Ländern dementsprechend gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 8 WRV, das Verfahren der Verleihung des Körperschaftsstatus weiter landesrechtlich zu regeln.

b) Die Freie Hansestadt Bremen ist - trotz der bereits erfolgten Erstverleihung - verfassungsrechtlich nicht daran gehindert, in Bezug auf die Beschwerdeführerin ein Zweitverleihungsverfahren unter Inanspruchnahme einer eigenständigen Prüfungskompetenz durchzuführen. Alleiniger Prüfungsmaßstab sind die geschriebenen und ungeschriebenen Voraussetzungen des Anspruchs aus Art. 4 Abs. 1 und 2 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV. Es handelt sich insoweit um eine gebundene Entscheidung, die den Ländern keinen Gestaltungs- oder Ermessensspielraum lässt.

aa) Nach der gängigen Staatspraxis und der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur muss einer Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, dieser Status in jedem Land gesondert verliehen werden. Die Erstverleihung entfaltet zwar Rechtswirkung über das Gebiet des verleihenden Landes hinaus, weil die im Körperschaftsstatus enthaltene Rechtsfähigkeit mit bundesweiter Verbindlichkeit begründet wird. Soweit einfaches Bundesrecht hieran Rechtsfolgen knüpft, können diese ebenfalls bundesweite Wirkung entfalten. Die Erstverleihung führt aber nicht dazu, dass die Körperschaft hoheitliche Befugnisse und kraft einfachen Landesrechts zuerkannte Privilegien über die Grenzen des verleihenden Landes hinaus ausüben darf. Jedenfalls das Besteuerungsrecht aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 6 WRV, die Dienstherrenfähigkeit und die Widmungsbefugnis sind in diesem Sinne als hoheitliche Befugnisse einzuordnen.

bb) Diese Begrenzung der Rechtswirkungen des Verleihungsaktes entspricht dem bundesstaatlichen Kompetenzgefüge. Das Land Berlin kann die Beschwerdeführerin nicht mit hoheitlichen Kompetenzen ausstatten, die über sein eigenes Staatsgebiet hinausreichen. Über die Landesgrenzen hinaus kann sich die Wirkung des Verleihungsaktes nur insoweit erstrecken, als die nicht verleihenden Länder in ihrer Kontrolle über die Ausübung von Staatsgewalt auf ihrem Gebiet nicht beeinträchtigt werden.

Auch die staatskirchenrechtlichen Besonderheiten des Körperschaftstatus rechtfertigen die Begrenzung der Rechtswirkungen des Verleihungsaktes. Die Befugnis der Beschwerdeführerin, als Körperschaft des öffentlichen Rechts Hoheitsgewalt auf bremischem Staatsgebiet auszuüben, kann nicht von einer rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung durch das Land Berlin abhängen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Bewertung, ob die Beschwerdeführerin die Gewähr der Rechtstreue bietet. Mit diesem Erfordernis soll den erhöhten Gefahren eines Missbrauchs der Vergünstigungen, die mit dem Körperschaftsstatus verbunden sind, entgegen gewirkt werden. Die Möglichkeit, diesen durch eingehende Prüfung zu begegnen, darf der Freien Hansestadt Bremen schon deshalb nicht genommen werden, weil sie sich die Ausübung landesrechtlicher Hoheitsgewalt auf ihrem Staatsgebiet wird zurechnen lassen müssen.

Ob die Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus vorliegen, ist jeweils bezogen auf die Organisation als solche zu prüfen. Insbesondere die Gewähr der Rechtstreue wird in der Regel nicht regional teilbar sein. Die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten gebietet deshalb, dass die Länder ihre jeweilige Prüfung nicht völlig losgelöst von den in den anderen Ländern gewonnenen Ergebnissen durchführen, sondern sie angemessen berücksichtigen. Diese Beteiligungsform kann jedoch die Durchführung eines Zweitverleihungsverfahrens nicht ersetzen.

3. Die in Art. 61 Satz 2 LV-Bremen vorgesehene Verleihung des Körperschaftsstatus durch förmliches Gesetz verstößt gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), weil sie der Bremischen Bürgerschaft die Möglichkeit eröffnet, Einzelpersonengesetze zu erlassen. Hierdurch wird zugleich der Anspruch der antragstellenden Religionsgemeinschaft auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verletzt.

a) Art. 61 Satz 2 LV-Bremen weist eine funktional der Verwaltung vorbehaltene Tätigkeit ohne zwingende Gründe in die ausschließliche Kompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers, der Bremischen Bürgerschaft. Die Verleihung des Körperschaftsstatus an eine Religionsgemeinschaft stellt den Erlass einer gebundenen Entscheidung im Wege des Verfassungsvollzugs dar. Bei der Ermittlung der Voraussetzungen erfüllt die Bremische Bürgerschaft funktional eine exekutivische Tätigkeit im Einzelfall: Bei Vorliegen der Voraussetzungen ist dem Antrag stattzugeben, anderenfalls ist er abzulehnen. Ein Entscheidungs- und Wertungsspielraum, der sich sonst regelmäßig aus der allgemeinen politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ableiten lässt, ist nicht gegeben.

b) Der Widerspruch zwischen Art. 61 Satz 2 LV-Bremen und dem Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) führt zur Verfassungswidrigkeit der Norm. Wird einer Religionsgemeinschaft, die sich auf ihren Anspruch aus Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV beruft, der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts rechtswidrig vorenthalten, stellt dies einen Eingriff in grundrechtlich geschützte Interessen dar.

Zugleich werden mittelbar die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen den Eingriff in die Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verkürzt. Gegenüber Eingriffen, die unmittelbar durch den Erlass eines Gesetzes oder sein Unterlassen bewirkt werden, ist die Verfassungsbeschwerde der einzige mögliche Rechtsbehelf, während gegen Maßnahmen oder die Untätigkeit der Verwaltung sonst der jeweilige fachgerichtliche Rechtsweg eröffnet ist.

4. Ob weitere Grundrechte der Beschwerdeführerin durch die konkrete Handhabung des Verfahrens verletzt worden sind, bedarf keiner Entscheidung, weil das Verfahren schon in seiner abstrakten Ausgestaltung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Soweit die Beschwerdeführerin auch eine Rechtsverletzung durch die Ablehnung des Gesetzesantrags festgestellt haben will, bleibt die Verfassungsbeschwerde daher ohne Erfolg.

Abweichende Meinung des Richters Voßkuhle, der Richterin Hermanns und des Richters Müller

Die Senatsmehrheit verkennt, dass es von Verfassungs wegen keiner konstitutiven Zweitanerkennung einer Religionsgemeinschaft in jedem einzelnen Land zur Ausübung der mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verbundenen Hoheitsrechte bedarf.

1. Bei dem Anspruch von Religionsgemeinschaften auf Gewährung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV handelt es sich um materielles Bundesrecht, welches nach Art. 30, 83 GG durch die Länder als eigene Angelegenheit auszuführen ist. Angesichts des gebundenen Anspruchs, der unmittelbar aus dem Bundesverfassungsrecht folgt, bedarf es keines gesonderten Kompetenztitels für die Setzung entsprechender Regelungen durch den Bund. Da die Verleihungsvoraussetzungen abschließend geregelt sind, existiert auch keinerlei landesrechtliche Konkretisierungskompetenz. Hieraus folgt, dass es sich bei der Verleihung des Körperschaftsstatus um den Akt eines Landes handelt, dessen Vollzug im ganzen Bundesgebiet Geltung beansprucht. Dem steht nicht entgegen, dass Art. 83 GG dem Wortlaut nach nur auf „Bundesgesetze" Anwendung findet. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum hierunter nur förmliche Gesetze und Rechtsverordnungen, nicht aber vollzugsfähige materielle Ansprüche aus dem Grundgesetz fallen sollten. Hieran vermag auch der von der Senatsmehrheit bemühte Vergleich mit der Rundfunkfreiheit oder der Versammlungsfreiheit nichts zu ändern. Er geht insoweit fehl, als die herangezogenen Grundrechte noch näherer Ausgestaltung zugänglich sind, also lediglich - ohne Treffen einer Zuständigkeitsentscheidung - denjenigen binden, der die Veranstaltung von Rundfunksendungen oder Versammlungen zu regeln hat.

2. Nach diesen Maßstäben steht die künstliche Aufspaltung des Verleihungsverfahrens in die Entscheidung über die Eigenschaft als juristische Person des öffentlichen Rechts, welcher nach der von der Senatsmehrheit vertretenen Auffassung bundesweite Geltung zukommen soll - einerseits - und die Zuerkennung von hiermit verbundenen Rechten, welche erst durch konstitutive Entscheidung in jedem einzelnen Land erfolgen soll, im Sinne eines Auffüllens einer leeren rechtlichen Hülle - andererseits - mit der Verfassung nicht in Einklang.

Die von der Senatsmehrheit vertretene Zweistufigkeit der Verleihung des Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV ist offensichtlich von dem Bemühen getragen, die Hoheitsrechte der Länder zu wahren und die Eigenstaatlichkeit der Länder im Bereich der durch Art. 140 GG inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung besonders hervorzuheben. Jedoch ist die einstufige Konzeption nicht nur kompetenzrechtlich vorgegeben, sondern wahrt auch die Hoheitsrechte der Länder in gebotenem Maße. Auch wenn das Gros der mit dem Körperschaftstatus verbundenen Privilegien bereits bundesrechtlich vorgesehen ist, sei es durch grundgesetzliche Vorgabe, sei es durch einfaches Bundesrecht, ist es den Ländern freigestellt, darüber hinausgehende landesspezifische Privilegien an den Status zu knüpfen. Die Belange der übrigen Länder werden ausreichend berücksichtigt. Dies ergibt sich in prozeduraler Hinsicht aus der Beteiligung im Verleihungsverfahren sowie in materieller Hinsicht aus dem Umstand, dass namentlich bei der ungeschriebenen Voraussetzung der Gewähr der Rechtstreue das gesamte Bundesgebiet in den Blick zu nehmen ist. Schließlich liegt wegen der Möglichkeit der Statusentziehung auch keine unwiderrufliche Bindung der übrigen Länder an die einmal getroffene Verleihungsentscheidung vor."

Die Bremische Bürgerschaft reagierte auf den Beschluß des Gerichts in einer Pressemitteilung (u.a.) so:

"Um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen wird die Bürgerschaft ein Gesetzgebungsverfahren auf den Weg bringen, um die Exekutive zu ermächtigen, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verleihen zu können. Zur Änderung der Landesverfassung sind generell drei Lesungen im Gesetzgebungsverfahren erforderlich und – soweit die Änderungen über die redaktionelle Streichung des vom BVerfG für nichtig erklärten Artikels hinausgehen – die Einsetzung eines nicht-ständigen Ausschusses.

Bedauerlich ist aus Sicht der Bürgerschaft, dass das Bundesverfassungsgericht sich nicht inhaltlich mit der Frage beschäftigt hat, ob die Zeugen Jehovas die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung erfüllen. Diese Frage wird künftig der Senat und gegebenenfalls im Anschluss an eine Verwaltungsentscheidung die Gerichtsbarkeit beantworten müssen."

In seiner Sitzung am 24. November 2015 beschloß der Senat, die Zuständigkeit einstweilen an den Senator für Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften zu übertragen, der davon bereits am 30. November 2015 Gebrauch machte (ABl. 2016 Nr. 6 vom 11. Januar 2016). Im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt wäre es vielleicht ratsamer gewesen, die Neuregelung des Art. 61 LVerf. und des Kirchensteuergesetzes (vgl. sogleich) abzuwarten. Aber offenbar drängte die Zeit.

Unter dem 24. November 2015 haben die Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen der Bürgerschaft vorgeschlagen (Drs. 19/169), Art. 61 LVerf. dahin zu ändern, daß "in Satz 2" die Wörter "durch Gesetz" gestrichen werden und "nach Satz 2" der Satz "Das Nähere regelt ein Gesetz" als Satz 3 "angefügt" wird. Einzelheiten im Sinne des neuen Satzes 3 finden sich im gleichzeitig vorgeschlagenen neuen § 2a des Kirchensteuergesetzes.

In der Begründung heißt es:

"Die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist in Art. 61 BremLV geregelt. Bisher vorgesehen ist, dass die Verleihung durch Gesetz und damit durch die Bremi-sche Bürgerschaft zu erfolgen hat. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat Artikel 61 Satz 2 der Bremischen Landesverfassung mit Beschluss vom 30. Juni 2015 für nichtig erklärt und damit zugleich einer Verfassungsbeschwerde der Religi-onsgemeinschaft „Jehovas Zeugen in Deutschland“ teilweise stattgegeben. 

Die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes an eine Reli-gionsgesellschaft folgt ausschließlich formellen Kriterien. Gleichzeit wohnt diesem formellen Akt aber auch das informelle Element der gesellschaftlichen „Anerkennung“ einer Religionsgesellschaft inne. Ein solches gesellschaftliches Gütesiegel wird als umso stärker empfunden, wenn eine solche Verleihung nicht durch eine Verwal-tungsbehörde, sondern durch ein staatliches Parlament erfolgt. 

Das Verhältnis zu Religionen gehört zu den innersten Überzeugungen, die ein Mensch haben kann. Einem objektiven Prüfmaßstab kann dieses Verhältnis natur-gemäß nicht unterliegen. Insoweit stehen diese Fragen auch immer in der Nähe zu Gewissensentscheidungen der Abgeordneten. 

Der Zwiespalt zwischen Anwendung der formalen Kriterien für eine Verleihung und der individuellen Bewertung einer Religionsgesellschaft wird umso größer, wenn die-se gesellschaftlich hochstrittige Glaubensinhalte vertreten, beispielsweise zum Verhältnis der Geschlechter oder zur homosexuellen Lebensweise. Solche Glaubensinhalte alleine sind rechtlich kein Grund, die Verleihung der Körperschaftsrechte zu verweigern. Selbstverständlich machen es aber frauenfeindliche oder homophobe Positionen vielen Abgeordneten mehr als schwer, eine „Anerkennung“ auszusprechen. 

Das bisherige Bremer System wird somit weder den Antragstellern, noch den Abgeordneten gerecht, da es zu einer Vermischung des Diskurses zwischen formalen An-erkennungskriterien und diskursiven Glaubensinhalten führt. Dementsprechend positioniert sich auch der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts: Die in Art. 61 Satz 2 Bremische Landesverfassung vorgesehene Verleihung des Körperschaftsstatus durch förmliches Gesetz verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung aus Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG, weil sie der Bremischen Bürgerschaft die Möglichkeit eröffne, Einzelpersonengesetze zu erlassen. Hierdurch werde zugleich der Anspruch der antragstellenden Religionsgemeinschaft auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verletzt. 

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die Aufgabe der Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf die Verwaltung zu übertragen. Hierfür ist eine gesetzliche Grundlage erforderlich, die auch Regelungen für den möglichen Entzug der Körperschaftsrechte enthalten muss. Bisher haben nur wenige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Bayern eine solch umfassende gesetzliche Regelung geschaffen. 

Im Zuge der Neuregelung ist zu prüfen, ob die bestehenden Rechte und Pflichten der öffentlich-rechtlichen Körperschaften noch zeitgemäß und angesichts der Neuregelung noch angemessen sind. Ein umfassendes Vorlagerecht zum Staatsgerichtshof soll nicht mehr allen Körperschaften öffentlichen Rechts zustehen, sondern nur noch den beiden Gemeinden des Landes Bremen."

Redaktionell berücksichtigt der Vorschlag nicht, daß Satz 2 dank der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr gilt, so daß aus ihm auch nichts mehr "gestrichen" und ihm nichts mehr "angefügt" werden kann. Der Vorschlag sollte also lauten, dem unveränderten Satz 1 die (dann im vollen Wortlaut aufgeführten)  Sätze 2 und 3 anzufügen; eine entsprechende Anregung habe ich den beiden Fraktionen (erfolglos) übermittelt.

Bemerkenswert ist am Rande, daß die von den beiden Fraktionen ebenfalls vorgeschlagene Änderung des Art. 140 Abs. 1 Satz 1 LVerf. die Antragsbefugnis zum Staatsgerichtshof auf "Gemeinden" beschränken möchte. Bisher steht sie allen  Körperschaften des öffentlich-rechtlichen Rechtes des Landes Bremen, also auch den entsprechenden Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus im Lande, zu (ähnlich Art. 130 Abs. 1 Satz 2 LVerf. Rheinland-Pfalz, dort ohne ausdrückliche Beschränkung auf Körperschaften des Landes). Da den Körperschaften kaum vorgehalten werden kann, sie hätten von ihrem Antragsrecht in der Vergangenheit übermäßig oder gar querulatorisch Gebrauch gemacht (vgl. als einschlägige Verfahren: E. des StGH vom 23. Oktober 1965 [St 2, 4/64, 1/65], BremStGHE 1950-1969, S. 125 - Antrag von Kirchen; E. des StGH BremStGH vom 23. September 1974 [St 1, 2/1973] 1970-1976, S. 38) - Antrag der Rechtsanwaltskammer), wirkt der Änderungsvorschlag ziemlich kleinlich und unnötig feindselig.

Unter dem 7. Dezember 2015 haben die beiden Fraktionen eine Neufassung ihres Antrages eingebracht (Drs. 19/207). Er verzichtet - zu Recht - auf die Änderung des Art. 140 Abs. 1 Satz 1 LVerf., beläßt also allen Körperschaften des öffentlichen Rechts des Landes die Antragsbefugnis nach Art. 140 Abs. 1 Satz 1 LVerf..

Der oben angemerkte redaktionelle Fehler bei der Formulierung der den Art. 61 LVerf. betreffenden Änderung wird jedoch beibehalten und ihm der weitere Fehler hinzugefügt, daß die Änderung, obwohl eine Nr. 2 (zuvor Änderung des Art. 140) nun entfällt, nach wie vor mit "1." eingeleitet wird.

Verfassungswidrig bestimmt zudem Art. 3, daß das "Gesetz", also nicht nur die Verfassungsänderung (Art. 1), sondern auch die auf sie gestützte Gesetzesänderung (Art. 2), gleichzeitig verkündet werden und in Kraft treten soll. Richtigerweise müßte die Ermächtigung (Art. 61 Satz 3 LV) in Kraft sein, ehe das Ausführungsgesetz (ausgefertigt oder) verkündet wird (vgl. BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Andere Länder begehen denselben Fehler (vgl. unten Nrn. 6 f], 8, 10 b], 12 a], 15 d]).

In der ersten Lesung am 9. Dezember 2015 wurde der Entwurf an den nichtständigen Ausschuß nach Art. 125 Abs. 2 LVerf. zur weiteren Beratung überwiesen. Der Ausschuß stimmte am 26. Februar 2016 zu (Drs. 19/309); den redaktionellen Fehler ("Änderung" des dank der Nichtigerklärung nicht mehr existenten Satzes 2) behielt er bei. Dasselbe gilt für die zweite und die dritte Lesung am 16. und 17. März 2016 (PlPr. 19/16 und 17), in denen die Verfassungsänderung mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen wurde. Sie wurde am 22. März 2016 ausgefertigt und am 24. März 2016 verkündet (GBl. S. 200). Am 25. März 2016 trat sie in Kraft.

c) 2016: Immunität der Abgeordneten, Art. 95 LVerf.

2016 beschloß Bremen, die Immunität der Abgeordneten zeitgemäß zu begrenzen und zu modifizieren.

Unter dem 13. Juni 2016 beantragte der Verfassungs-und Geschäftsordnungsausschuß der Bürgerschaft eine entsprechende Änderung des Art. 95 LVerf. (Drs. 19/642):

"(1) Die Mitglieder der Bürgerschaft dürfen ohne Einwilligung der Bürgerschaft während der Dauer ihres Mandats nicht verhaftet oder sonstigen ihre körperliche Freiheit und die Ausübung ihres Mandats beschränkenden Maßnahmen unterworfen werden, es sei denn, sie werden bei der Ausübung einer Straftat oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen. Dieser Einwilligungsvorbehalt gilt entsprechend für gegen Mitglieder der Bürgerschaft gerichtete und die Ausübung ihres Mandats beschränkende Durchsuchungs- und Telekommunikationsüberwachungsmassnahmen.

(2) Auf Verlangen von einem Viertel der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft wird jedes gegen Mitglieder der Bürgerschaft gerichtete Straf- oder Ermittlungsverfahren, jede Haft oder sonstige Beschränkung ihrer persönlichenFreiheit sowie jede gegen sie gerichtete Durchsuchungs- oder Telekommunikationsüberwachungsmassnahme für die Dauer ihres Mandats aufgehoben.

(3) Das Nähere regelt die Geschäftsordnung.“

Zur Begründung führte er u.a. aus:

"Nach Artikel 95 Abs. 1 der Bremischen Landesverfassung bedarf grundsätzlich jede Strafverfolgungsmaßnahme der Genehmigung der Bremischen Bürgerschaft.

Der Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss hat sich mit der Frage befasst, ob und inwieweit in einer modernen gefestigten Demokratie noch eineBerechtigung für einen solch umfassenden Verfolgungsschutz besteht. Die Immunität der Abgeordneten ist historisch betrachtet ein traditionelles Sonderrecht des Parlaments. Sie soll das Parlament vor Pressionen und sonstigen Maßnahmen der Exekutive schützen, die seine Arbeitsfähigkeit, insbesondere seine Aufgabe als Kontrollorgan der Regierung, beeinträchtigen können. Die Immunität soll gerade dazu beitragen, dass das Parlament in kritischen Situationen handlungsfähig bleibt. Im Zeitalter der Medienöffentlichkeit kann jedesmöglicherweise abweichende Verhalten von Abgeordneten höchster Aufmerksamkeit sicher sein. Vorfälle aus der der jüngeren Vergangenheit haben gezeigt, dass an die Bremische Bürgerschaft gerichtete Anträge auf Aufhebung der Immunität regelmäßig ein erhebliches Medieninteresse nach sich ziehen. Auch wenn sich im Einzelfall der Anfangsverdacht lediglich auf Vorwürfe von geringer Bedeutung bezieht, ist es denkbar, dass einem entsprechenden Antrag auf Aufhebung der Immunität eine ganz beträchtliche Verstärkerfunktion zukommt. Demgegenüber wird der Einstellung eines Verfahrens oft nicht die gleiche Publizität zuteil. Dies wirft ein negatives Bild auf die Arbeit der Abgeordneten und kann dazu führen, das Ansehen und die politische Arbeit der Betroffenen zu schädigen.

Nach Auffassung des Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschusses bedarf es des Schutzes vor sämtlichen Untersuchungs- bzw. Ermittlungshandlungen nicht. Dieser soll regelhaft erst bei Verhaftungen oder die körperliche Freiheit beschränkenden Maßnahmen sowie bei gegen Mitglieder der Bremischen Bürgerschaftgerichteten und die Ausübung ihres Mandats beschränkenden Durchsuchungs- und Telekommunikationsüberwachungsma.nahmen greifen, weil hierdurch die Arbeits- bzw. Handlungsfähigkeit der Bremischen Bürgerschaft nachhaltig berührt wird. Nach wie vor ist ein sogenanntes Reklamationsrecht der Bremischen Bürgerschaft vorgesehen, mit dem verlangt werden kann, dass jedes gegen Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft gerichtete Straf- oder Ermittlungsverfahren sowie jede Haft oder sonstige Beschränkung der persönlichen Freiheit für die Dauer des Mandats aufgehoben wird. Dieses Reklamationsrecht soll künftig als Minderheitenrecht ausgestaltet werden. Damit wird der Minderheitenschutz aber auch die Rechtsposition des betroffenen Abgeordneten gestärkt. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Ausgestaltung als Minderheitenrecht auch vor solchen Entscheidungen schützen würde, in denen sich die Parlamentsmehrheit sachfremde Erwägungen der Strafverfolgungsorgane im Hinblick auf die Strafverfolgung zu eigen macht.

Der Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss hat auch die Frage diskutiert, ob das als Minderheitenrecht ausgestaltete Reklamationsrecht nach Artikel 105 Abs. 3 der Bremischen Landesverfassung auf einen Parlamentsausschuss delegiert werden kann. In dem nach der ersten Lesung gemäß Artikel 125 der Landesverfassung einzusetzenden Ausschuss sollen diese Fragestellung und das Ob und Wie einer Änderung des Immunitätsrechts weiter erörtert werden. Der Ausschuss sollte auch in einer Anhörung u. a. Vertreter der Staatsanwaltschaft Bremen zur praktischen Ausgestaltung anhören. Alle Abgeordneten sollten zu den Sitzungen des Ausschusses und zur Anhörung als ständige Gäste eingeladen werden."

In der ersten Lesung am 15. Juni 2016 überwies die Bürgerschaft die Vorlage antragsgemäß an den nicht ständigen Ausschuß nach Art. 125 LVerf.. Nach einer Anhörung im Oktober 2016 behielt der Ausschuß den Kerngedanken einer Begrenzung der Immunität beit, empfahl unter dem 12. Dezember 2016 zugleich aber auch nicht unwesentliche Modifizierungen (Drs. 19/871; zur entsprechenden Änderung der Anlage 2 der Geschäftsordnung der Bürgerschaft Drs. 19/872). Danach sollte Art. 95 LVerf. lauten: 

"(1) Abgeordnete dürfen ohne Einwilligung der Bürgerschaft während der Dauer ihres Mandats nicht verhaftet oder sonstigen ihre Freiheit und die Ausübung ihres Mandats beschränkenden Maßnahmen unterworfen werden, es sei denn, sie werden bei der Ausübung einer Straftat oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen. 

(2) Eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen einen Abgeordneten richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die dieser als Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte, ist unzulässig. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwendet werden. 

(3) Die nach Absatz 1 erforderliche Einwilligung erteilt der Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss mit der Mehrheit von drei Vierteln seiner Mitglieder. 

(4) Das Nähere regelt die Geschäftsordnung.“

Zur Erläuterung führte der Ausschuß zu Absatz 1 des vorgeschlagenen Art. 95 LVerf.  aus:

"Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Bürgerschaft als Schutzzweck des Art. 95 werden durch solche Handlungen gegen Abgeordnete nicht berührt, die unterhalb der Schwelle von Verhaftungen oder qualifizierten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gegen Abgeordnete liegen. Deshalb bedarf es des Schutzes vor Untersuchungs- und Ermittlungsmaßnahmen nicht. 

Die Immunität schützt die Abgeordneten der Bürgerschaft während der Dauer ihres Mandats. Dementsprechend erstreckt sich der Schutz auf die Zeit von der Konstituierung einer neugewählten Bürgerschaft an bis zur Beendigung des Mandats. Auf den Grund für den Verlust der Abgeordneteneigenschaft kommt es nicht an.

Der Schutz des Art. 95 Abs. 1 erstreckt sich auf Verhaftungen sowie sonstige die Freiheit und die Ausübung des Mandats beschränkende Maßnahmen. Sonstige Maßnahmen der Ermittlungsbehörden gegen Abgeordnete sind danach bereits auf Grundlage der Verfassung erlaubt.

Der Begriff der Verhaftung (Art. 95 Abs. 1 Alternative 1) ist weit zu fassen. Unter Verhaftungen fallen dementsprechend alle Arten von Freiheitsentziehungen, insbesondere die Strafhaft, die Untersuchungshaft, die vorläufige Festnahme nach §§ 127, 127 b StPO, die Unterbringung nach § 81 StPO, die einstweilige Unterbringung nach § 126 a StPO, aber auch Maßnahmen der Sicherung und Besserung, Ersatzfreiheitsstrafen und andere Haftarten, wie Erzwingungshaft, Schutz-, Beuge- und Zivilhaft sowie die Unterbringung nach dem PsychKG. 

Unter sonstigen die Freiheit eines Abgeordneten beschränkenden Maßnahmen (Art. 95 Abs. 1 Alternative 2) sind solche Maßnahmen zu verstehen, die die körperliche Bewegungsfreiheit des Abgeordneten für eine gewisse Zeit aufheben, wie z.B. körperliche Untersuchungen, Aufenthaltsbeschränkungen, Platzverweise, vorübergehendes polizeiliches Anhalten oder Festhalten. 

Zusätzlich verlangt der Tatbestand der 2. Alternative des Artikels 95 („freiheitsbeschränkende Maßnahmen“) das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals „Beschränkung der Ausübung des Mandats“ durch die freiheitsbeschränkende Maßnahme. Daraus ergibt sich, dass nicht jede Freiheitsbeschränkung unter dem Vorbehalt der Einwilligung der Bürgerschaft steht und deshalb etwa jeder staatliche Zwang von einem Abgeordneten fernzuhalten ist. Der Schutz der persönlichen Freiheit der Abgeordneten stellt keinen Selbstzweck dar. Sie besitzt einen eindeutigen funktionalen Bezug im Hinblick auf die Mandatsausübung. Maßgeblich sind die konkreten tatsächlichen Umstände des Einzelfalls."

Und zu Absatz 2 hieß es:

"Abs. 2 wiederholt den Wortlaut des § 160 a Abs. 1 StPO für die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft. 

Die Vorschrift sieht ein Beweiserhebungs- und ein Beweisverwertungsverbot für solche Erkenntnisse vor, für die den Abgeordneten ein Zeugnisverweigerungsrecht als Berufsgeheimnisträger zukommt. Sie schützt die Abgeordneten als Berufsgeheimnisträger in deren Eigenschaft vor grundrechtseingreifenden Ermittlungstätigkeiten, insbesondere vor denen der Telekommunikationsüberwachung oder auch der Hausdurchsuchungen."

 Die Bürgerschaft folgte den Vorschlägen des nicht ständigen Ausschusses nach Art. 125 LVerf. am 15. Dezember 2016 (PlPr. 19/34; Druckfassung liegt noch nicht vor). Das Gesetz wurde am 20. Dezember ausgefertigt und am 21. Dezember verkündet (GBl. S. 904). Es trat am 22. Dezember 2016 in Kraft.

Bemerkenswert ist  Absatz 2: Er übernimmt weder die Sätze 3 bis 5 des Absatzes 1 des § 160a StPO noch - was wichtiger ist - dessen Absatz 4 Satz 1 (Verstrickungsregelung). Zwar läßt das Bundesrecht Immunitäts-Landesrecht unberührt, § 6 Abs. 2 Nr. 1 EGStPO, und erstreckt es seine Geltung auf die jeweils anderen Länder und den Bund, § 152a StPO; doch überrascht es nicht wenig, daß der Sinn der Neuregelung insgeheim (denn die Begründung sagt dazu nichts, und der karge Norm-Text verhüllt es eher) womöglich darin besteht, "verstrickte" Abgeordnete über das bisher übliche Maß hinaus vor dem Zugriff der Ermittler zu schützen. Was geht da vor sich?

Entwarnung wäre nur dann möglich, wenn man annähme, § 160a Abs. 4 StPO stelle nur ohnehin bestehende Grenzen des Schutzes des Berufsgeheimnisses klar, weil gegen den "verstrickten" Abgeordneten nicht als Zeugen (und Zeugnisverweigerungsberechtigten) ermittelt werde. 

d) 2017: Verlängerung der Wahlperiode von vier Jahren auf fünf, Art. 75 Abs. 1 S. 1 LVerf.

Unter dem 4. April 2017 brachten alle Fraktionen der Bürgerschaft den Antrag ein, über eine Änderung des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 der Landesverfassung (Verlängerung der Wahlperiode von vier Jahren auf fünf)  einen Volksentscheid am Tag der Bundestagswah (24. September 2017) herbeizuführen (Drs. 19/1029; neu Drs. 19/1068 vom 9. Mai 2017); vgl. Art. 70 Abs. 1 lit. a) LVerf.. Das Plenum stimmte am 10. Mai 2017 (PlPr. 19/43 TOP 15) einstimmig für den Antrag, der am 13. Juni 2017 im Amtsblatt (S. 335) bekannt gemacht wurde.

Bremen ist derzeit das einzige Bundesland mit einer vierjährigen Wahlperiode. Nicht alle Fraktionen plädieren für eine Verlängerung, aber alle waren sich darin einig, daß in dieser Frage, die die Gestaltungsmacht der BürgerInnen einschränkt, die BürgerInnen selbst entscheiden sollten. 

Der Volksentscheid fand am Tag der Bundestagswahl, also am 24. September 2017, statt. Die Rechtsgrundlagen finden Sie hier, ein Muster des Stimmzettels hier. Mit knapper Mehrheit entschieden sich die Abstimmungsberechtigten gegen eine Verlängerung der Wahlperiode. Den Abgeordneten wird das zu denken geben. Möglicherweise sind die Instrumente der direkten Demokratie in Bremen noch nicht so handlich, daß sie der Bürger mehrheitlich als Ausgleich einer Verlängerung des Mandats ansieht.

e) 2018: Intensivierung der Kontrolle der Exekutive durch Akteneinsichtsrechte der Mitglieder von Parlamentsausschüssen, Artt. 99, 105, 129 Abs. 2 LVerf.

2018 griff der Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuß der Bürgerschaft der Sache nach eine Initiative der CDU-Fraktion aus dem Jahre 2016 wieder auf, die die Kontrolle der Exekutive dadurch stärken wollte, daß stimmberechtigte Mitglieder von Parlamentsausschüssen das Recht erhielten, direkt in Verwaltungsakten einzusehen (Drs. 19/1703 vom 20. Juni 2018). Der Antrag erledigte sich durch Annahme eines modifizierten Entwurfs des nichtständigen Ausschusses nach Art. 125 LVerf. vom 9. August 2018 (Drs. 19/1766) am 29. August 2018 (PlPr. 19/67, S. 5562-5563 - 2. Lesung) und 27. September 2018 (PlPr. 19/70, S. - 3. Lesung). Das Gesetz, das einen neuen Art. 99 einfügt, Art. 105 Abs. 4 ändert, Art. 105 Abs. 8 anfügt und Art. 129 Abs. 2 modifiziert, wurde am 2. Oktober ausgefertigt und am 4. Oktober 2018 verkündet (GBl. Nr. 80 S. 433). Es trat am 5. Oktober 2018 in Kraft. 

Bei der Gelegenheit erinnerte sich die Bürgerschaft an die Skurrilität, daß die Landesverfassung bis dahin die Absätze ihrer Artikel nicht nummerierte, und ermächtigte in Art. 2 des Änderungsgesetzes den Senator für Justiz und Verfassung, den Wortlaut "in der ab dem 4. [recte: 5.] Oktober 2018 geltenden Fassung mit arabischen Absatzbezeichnungen" im Gesetzblatt bekannt zu machen. Wie sie aussehen sollen (in Klammern oder nicht, mit anschließendem Punkt oder nicht), sagt die Vorschrift nicht, und die Nummerierung der Sätze, die nicht weniger wichtig wäre, hat sie - wie die meisten Landesgesetzgeber und der Bund - auch vergessen. Immerhin zehn Monate später erblickte die Bekanntmachung das Licht der Welt (GBl. 2019 S. 524) - natürlich mit weiterhin  unmummerierten Sätzen.

f) 2019: Ernennung statt Wahl der Mitglieder von Ausschüssen und Deputationen, Artt. 105, 129 Abs. 1 S. 2 LVerf.; Sitzungsausschluß, Art. 85 Abs. 2 LVerf.

Unter dem 25. März 2019 brachten die Fraktionen der SPD, der CDU, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und der FDP einen Dringlichkeitsantrag zur Änderung der Landesverfassung (Drs. 19/2116) ein, dessen wesentliches Ziel es war, die Wahl der Mitglieder von Ausschüssen der Bürgerschaft und Deputationen durch eine im Bund und einigen anderen Bundesländern bereits übliche Bennenung zu ersetzen:

"Für die Zusammensetzung von Ausschüssen der Bremischen Bürgerschaft ist in Art. 105 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 BremLV ein Wahlverfahren normiert. Gleiches gilt für die Deputationen nach Art. 129 Abs. 1 Satz 2 BremLV. In der Praxis stellt sich dieses Wahlverfahren als keine echte Wahl dar, da das Plenum keine Wahlfreiheit bei der Entscheidung über der Ausschussbesetzung hat. Vielmehr hat es bei der Wahl der Ausschussmitglieder dem Vorschlag der Fraktionen zu folgen

Vor diesem Hintergrund soll für die Ausschüsse künftig ein Benennungsver-fahren vorgesehen werden, wie es bereits für den Bundestag und fast alle Land-tage geregelt ist. Das Benennungsprinzip folgt zum einen den Traditionen des deutschen Parlamentsrechts und trägt zum anderen der Bedeutung der Fraktionen als maßgebliche Faktoren der parlamentarischen Willensbildung Rechnung.

Zudem sprechen praktische Erwägungen für eine Änderung des Verfahrens bei der Besetzung von Ausschüssen. Dem Benennungs- und Entsendungsrecht entspricht ein grundsätzliches jederzeitiges Auswechsel- und Abberufungsrecht, das sich nach den Satzungen der Fraktionen und Gruppen richtet. Wenn Abgeordnete aus ihrer Fraktion ausgetreten sind, müssen diese lediglich abberufen und ein neues Mitglied benannt werden. Es ist nicht erforderlich, auf die nächste Sitzung des Plenums zu warten. Dieses Verfahren ist für die Fraktionen praktikabler und ermöglicht durch eine zeitnahe Umsetzung eine Kontinuität in der Ausschussarbeit.

Für die Wahl der Mitglieder der Deputationen gelten die vorstehenden Erwägungen ebenfalls. Auch hierfür soll das Wahlverfahren durch das Benennungsverfahren ersetzt werden."

Daneben sollte der Sitzungsausschluß künftig nicht mehr in der Verfassung geregelt werden:

"Nach Artikel 85 Abs. 2 BremLV kann ein Mitglied bei grober Ungebühr oder wiederholten Zuwiderhandlungen gegen die zur Aufrechterhaltung der Ordnung gegebenen Vorschriften von einer oder mehreren Sitzungen durch Beschluss der Bürgerschaft ausgeschlossen werden. Bremen ist das einzige Land, in dem eine solche Regelung unmittelbar in der Landesverfassung verankert ist. Die Kommentarliteratur zur Bremischen Landesverfassung sieht im Regelungsgehalt des Art. 85 Abs. 2 BremLV „typisches parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht“, welches nicht in die Landesverfassung gehört. Vor diesem Hintergrund soll die Vorschrift des Art. 85 Abs. 2 BremLV aufgehoben werden. Eine einfachgesetzliche Rechtsgrundlage für einen Sitzungsausschluss wird künftig im Abgeordnetengesetz vorgesehen."

Alle diese Vorschläge wurden in das Gesetz vom 14. Mai 2019, verkündet am 24. Mai 2019 (GBl. S. 365), in Kraft tretend mit Beginn der 20. Wahlperiode (Art. 2), übernommen. 

g) 2020 I: Verschiebung der Erhöhung der Abgeordneten-Diäten, Art. 154a Abs. 2 LVerf.

Mit Rücksicht auf die Corona-bedingt angespannte wirtschaftliche Lage verständigten sich die fünf Fraktionen der Bürgerschaft darauf, die gemäß Art. 82 Abs. 2 S. 2 LVerf. an sich anstehende indizierte Diätenerhörung um ein Jahr zu verschieben (LT-Drs. 20/382, 421). Dementsprechend wurde dem Art. 154a LVerf. mit dem Änderungsgesetz vom 16. Juni 2020 (GBl. S. 468) ein zweiter Absatz angehängt:

„(2) Abweichend von Artikel 82 Absatz 2 Satz 2 verändert sich die Höhe des Entgeltes der Abgeordneten vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 nicht. Bei der nächsten Veränderung wird die 2019 wirksam gewordene Festlegung des Entgeltes und die Einkommens- und Kostenentwicklung in der Freien Hansestadt Bremen im letzten dieser Veränderung vorausgehenden Jahr zugrunde gelegt."

Die Verschiebung ist honorig, das unverändert maßgebliche Index-Verfahren verwerflich, weil es die regelmäßigen Diäten-Erhöhungen praktisch der Wahrnehmung der Öffentlichkeit entzieht.

h) 2020 II: Information der Bürgerschaft über wichtige Rechtsverordnungen, Art. 79 LVerf.; Erleichterung von Bürgeranträgen, Artt. 87 Abs. 2, 148 Abs. 1 S. 2 LVerf.

Corona veranlaßte die Bürgerschaft im Jahr 2020 zu einer weiteren Verfassungsänderung: Statt von Art. 80 Abs. 4 GG Gebrauch zu machen und die Landesverordnungsermächtigungen des Infektionsschutzgesetzes durch Landesgesetz umzusetzen, begnügte sich das Parlament mit der (allerdings eine Verfassungsänderung erfordernden) Einführung einer Pflicht des Senats, die Bürgerschaft auch über die Vorbereitung von Rechtsverordnungen von "grundsätzlicher Bedeutung" frühzeitig und vollständig zu unterrichten, in Eilfällen die Unterrichtung unverzüglich nach Beschlußfassung nachzuholen (Art. 79 Abs. 1 Sätze 2 und 3 LVerf.; Begründung LT-Drs. 20/715, 755).
Das Nähere regelt nach Art. 79 Abs. 4 (neu) ein Gesetz. Beschränkt auf die Information über Corona-Verordnungen, gilt insoweit nun das Coronaverordnungs-Beteiligungsgesetz vom 22. Dezember 2020 (GBl. S. 1720). Bereits eine Woche vor der Verfassungsänderung hatte der Senat einen Entwurf auf den Weg gebracht  (Senats-Entwurf vom 10. November 2020, LT-Drs. 20/694), der auf Vorschlag des Verfassungs- und Geschäftsordnungs-Ausschusses vom 15. Dezember 2020 (LT-Drs. 20/757) seine nunmehrige Gestalt erhielt. Das Gesetz vermeidet die unerklärlichen Wirrnisse, in die sich im Januar 2021 das Abgeordnetenhaus von Berlin bei einem vergleichbaren Projekt verstrickte (vgl. das Berliner COVID-19-Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 1. Februar 2021, GVBl. Berlin S. 102).

Der andere Teil der Verfassungsänderung erleichert künftige Bürgeranträge (Begründung LT-Drs. 20/705, 755), nachdem die bisherigen Erfahrungen mit diesem Instrument eher ernüchternd waren. Das Quorum wurde halbiert (Art. 87 Abs. 2 S. 1) und das bisherige Tabu, soweit Haushalt, Dienst- und Versorgungsbezüge sowie Abgaben betreffend, gestrichen (Art. 87 Abs. 2 S. 3). Für die Stadtgemeinde Bremen soll Entsprechendes gelten (Art. 148 Abs. 1 S. 2). 

Das Gesetz wurde am 22. Dezember 2020 ausgefertigt und am 29. Dezember verkündet (GBl. S. 468). Es trat am 23. Dezember 2020 in Kraft (Art. 2).

i) 2021: Stärkung der Kinderrechte

Über die Änderungsinitiative heißt es im Bericht des 1. Bürgerschaftsausschusses nach Art. 125 Abs. 2 LVerf. vom 18. März 2021 (LT-Drs. 20/878, S.1-2):

"Mit Datum vom 5. Mai 2020 legten die Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vor (Drucksache 20/374). Der Gesetzentwurf sieht neben Regelungen zum Antirassismus unter anderem vor, die Kinderrechte zu stärken. In ihrer Sitzung am 13./14. Mai 2020 beschloss die Bürgerschaft (Landtag) den Gesetzentwurf in erster Lesung und überwies ihn zur Beratung und Berichterstattung an den 1. Ausschuss nach Artikel 125 Absatz 2 der Bremischen Landesverfassung [PlPr. 20/10]. 

Der Ausschuss beriet den Gesetzentwurf in seinen Sitzungen am 29. Mai 2020, 30. Juni 2020, 28. Oktober 2020 und 27. November 2020. Da die Beratungen zum Antirassismus rechtlich schwierig sind und deshalb mehr Zeit beanspruchen, verständigte sich der Ausschuss darauf, die Verfassungsänderung zu den Kinderrechten abzutrennen und gesondert in die Bürgerschaft (Landtag) einzubringen. 

Der Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, Drs. 20/375, sieht vor, Artikel 25 Absatz 1 der Bremischen Landeverfassung um zwei Sätze zu ergänzen. Damit sollen die Kernprinzipien der UN-Kinderkonvention, das Recht auf Berücksichtigung des Kindeswohls und das Recht auf Beteiligung des Kindes, normiert werden. In der Sitzung des Aus-schusses am 30. Juni 2020 beantragte die CDU-Fraktion, Artikel 25 Absatz 1 der Bremischen Landesverfassung um ein Recht der Kinder auf gerechte Lebenschancen und Teilhabe durch Bildung zu erweitern. 

Nach intensiver Diskussion und Abwägung der einzelnen Positionen verständigte der Ausschuss sich einstimmig nach Artikel 25 Absatz 1 der Bremischen Landesverfassung die folgenden Absätze 2 und 3 einzufügen: 

(2) Bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, ist das Wohl des Kindes wesentlich zu berücksichtigen. Kinder haben in Angelegenheiten, die ihre Rechte betreffen, einen Anspruch auf Beteiligung und auf angemessene Be-rücksichtigung ihres frei geäußerten Willens entsprechend ihrem Alter und ih-rer Reife.

(3) Eltern, soziale Gemeinschaft und staatliche Organisation haben die beson-dere Verantwortung, gemeinsam allen Kindern gerechte Lebenschancen und Teilhabe entsprechend ihren Talenten und Neigungen zu ermöglichen. 

Darüber hinaus ist Gegenstand der vorliegenden Verfassungsänderung eine Änderung des Artikels 148 Absatz 1 Satz 2 der Bremischen Landesverfassung. Hier wurde bei der letzten Änderung der Bremischen Landesverfas-sung mit Gesetz vom 22. Dezember 2020 irrtümlich gestrichen, dass auf die Verwaltung der Stadtgemeinde Bremen auch die Vorschriften der Landesverfassung über die Bürgerschaft anzuwenden sind. Dies entspricht der bis dahin geltenden Rechtslage und muss deshalb korrigiert werden. 

Der vorliegende Bericht wurde vom 1. Ausschuss gemäß Artikel 125 Absatz 2 der Bremischen Landesverfassung im schriftlichen Umlaufverfahren beschlossen. Der Ausschuss empfiehlt einstimmig die Bremische Landesverfassung entsprechend zu ändern."

Der Ausschuß begründete die Ergänzung des Art. 25 so (LT-Drs.20/878, S. 3-4):

"Zu Artikel 25 Absatz 2 

Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit Gesetz vom 8. April 2003 ausdrückliche Kinderrechte in die Landesverfassung aufgenommen. Artikel 25 Absatz 1 lautet seitdem: „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen.“ 

Der Wortlaut benennt bisher weder das Recht auf Berücksichtigung des Kindeswohls noch das Recht auf Beteiligung des Kindes ausdrücklich. Diese beide Kernprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention sind dennoch schon heute unmittelbar geltendes Verfassungsrecht im Land Bremen, da sie aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 5 Absatz 1 der Landesverfassung) abgeleitet werden. Angesichts ihrer besonderen Bedeutung für die Rechte von Kindern sollen die beiden Kernprinzipien gleichwohl in den Wortlaut der Landesverfassung aufgenommen werden, auch um ihre Beachtung in der Rechtspraxis zu fördern. 

Der neue Absatz 2 Satz 1 benennt in Anlehnung an das Kindeswohlprinzip des Artikel 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention die staatliche Verpflichtung, das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, als einen wesentlichen Gesichtspunkt in die Entscheidungs- und Abwägungsprozesse einzubeziehen. Mit dem Kindeswohlprinzip wird einer strukturellen Besonderheit der Lebensphase „Kindheit“ Rechnung getragen: Da 

Minderjährige in den meisten ihrer Angelegenheiten von Dritten (Eltern, Vormündern) vertreten werden, die an ihrer Stelle entscheiden dürfen, verfügen sie über weniger Möglichkeiten als Erwachsene, ihre Interessen selbst zur Geltung zu bringen und ihre Lebensbedingungen nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen und mitzugestalten. Das Kindeswohlprinzip verpflichtet daher alle staatlichen Instanzen, die Entscheidungen für Kinder oder mit Wirkung für Kinder treffen, dabei von sich aus die Belange der Kinder in besonderem Maße zu berücksichtigen. Das Kindeswohlprinzip sichert damit letzten Endes die gleichwertige Repräsentation der Kindesbelange sowohl bei gesetzgeberischen Entscheidungen als auch bei Maßnahmen im Einzelfall. 

In Übereinstimmung mit Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention ist der neue Absatz 2 Satz 2 darauf gerichtet, allen Kindern die Gelegenheit zu ga-rantieren, in allen sie betreffenden Angelegenheiten gehört zu werden. Dieses Kernprinzip der Kinderrechtskonvention erkennt Kinder als Menschen mit eigenem Willen und eigener Stimme an. Es nimmt sie ernst als Individuen mit dem wachsenden Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit. Die Ermittlung und Berücksichtigung der Meinung des Kindes ist alters- und reifeangemessen auszugestalten. Damit wird der dynamischen Autonomieentwicklung von Kindern und Jugendlichen Rechnung getragen. Die nach der Landesverfassung bestehenden Rechte und Pflichten der Eltern bleiben unberührt. 

Zu Artikel 25 Absatz 3 

Eine gerechte Gewährleistung von Lebenschancen für alle Kinder ist nicht nur eine besondere gesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung für die junge nachwachsende Generation. Es ist eine gesellschaftliche und soziale Grundfrage, jungen Menschen gerechte Chancen so weit wie nur möglich unabhängig von Herkunft, Milieus, Wohnort oder sozialem Umfeld für eine allgemeine gesellschaftliche Teilhabe zu eröffnen. Es ist eine Grundfrage von gesellschaftlicher Gerechtigkeit und einer zeitgemäßen Konkretisierung der universellen und allgemeinen Menschenwürde, mit Priorität Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass individuelle Talente und Neigungen auch zu angemessenem sozialem und wirtschaftlichem Erfolg und gerechter gesellschaftlicher Teilhabe werden können. 

Dieses ist mit Blick auf Bremen nicht zuletzt auch deshalb von besonderer Bedeutung, als in keinem anderen Bundesland tatsächlich der statistische Zusammenhang von Chancen und Herkunft so hoch ist. Dieses betrifft (und begrenzt) nicht nur die individuellen Chancen auf Teilhabe, sondern wirft tief-greifende Fragen der gesellschaftlichen Solidarität und Stabilität auf. Es ist angemessen, dem mit einer Ergänzung der Landesverfassung Rechnung zu tragen, hier eine besondere und allgemeine Verantwortung mit dem Nach-druck der Verfassung herauszustellen und mit einem zusätzlichen Staatsziel dazu aufzufordern, Fehlentwicklungen ggf. entgegenzuwirken".

Ohne Aussprache fand der Text am 24. und 25. März 2021 (PlPr. 20/24) die erforderliche Mehrheit. Das Gesetz wurde am 11. Mai ausgefertigt und am 26. Mai verkündet (GBl. S. 475). Es trat am folgenden Tag in Kraft.

Die Zukunft wird zeigen, ob die sicher gutgemeinten (wenn auch nicht sonderlich gut formulierten) Änderungen irgendetwas zum Wohl der Kinder werden beitragen können. Ich bezweifle es. Schaden werden sie aber hoffentlich nicht anrichten.

h) 2023: Würde, Toleranz, Diskriminierung

Die Geburt der jüngsten Verfassungsänderung dauerte fast drei Jahre. Am recht bescheidenen Inhalt des schließlich am 28. Februar 2023 beschlossenen und verkündeten und am 1. März 2023 in Kraft getretenen Textes (GBl. S. 204) kann das kaum gelegen haben.

1. Aus dem letzten Halbsatz der Präambel wurde das Wort „Arbeitswilligen“ gestrichen und damit die Peinlichkeit behoben, daß nur den „Arbeitswilligen“ „ein menschenwürdiges Dasein gesichert“ werden sollte. Wer – z.B. aus Alters-, Krankheits- oder Behinderungsgründen – nicht „arbeitswillig“ war, hatte dieses Privileg zuvor offenbar nicht.

2. In Art. 5 Abs. 1 wurde der Punkt am Ende durch die Wörter [und den Punkt] „und geschützt.“ ersetzt, damit die Achtung der Würde durch ihren Schutz ergänzt, wie wir es seit jeher aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG gewohnt sind. 

3. In Art. 65, der von Aufgaben und Bekenntnissen der Hansestadt handelt, wurde ein neuer Absatz 1a eingefügt: 

„Demokratiefeindlichen Bestrebungen, insbesondere der Wiederbelebung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt und Willkürherrschaft, sowie rassistischen, antisemitischen und sonstigen menschenverachtenden Aktivitäten entschieden entgegenzutreten, ist Verpflichtung aller staatlichen Organisation und Verantwortung jeder und jedes Einzelnen. Die Freie Hansestadt Bremen fördert die Entwicklung einer offenen, vielfältigen und toleranten Gesellschaft sowie eines respektvollen und friedlichen Miteinanders.“

Die „Verantwortung“ auch „jeder und jedes Einzelnen“ (Satz 1 am Ende) zu formulieren, mag trotz ihrer Vagheit und mutmaßlichen Folgenlosigkeit sinnvoll sein, gehört aber nicht hierher, wo es um Aufgaben des Staates (so die Überschrift der mit Art. 64 beginnenden dritten Hauptteils) geht, sondern in den 1. Hauptteil „Grundrechte und Grundpflichten“.    

Die redaktionelle Änderung in Absatz 2 Satz 1 (Das Wort „Sie“ wurde durch die Wörter „Die Freie Hansestadt Bremen“ ersetzt) war ersichtlich unnötig.

Der langwidrige Gang und die Motive der Novelle werden im abschließenden Bericht des 1. Ausschusses gem. Art. 125 LVerf. vom 6. Dezember 2022 (Drs. 20/1710) anschaulich:

„Am 3. März 2020 reichte die Fraktion der CDU den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen (Drs. 20/304) ein. Danach soll in einem neuen Artikel 65 Absatz 2 die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sowie die Verantwortung jedes Einzelnen, die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen, als weiteres Staatsziel aufgenommen werden. 

Mit Datum vom 5. Mai 2020 brachten die Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke einen weiteren Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Bremischen Landesverfassung ein (Drs. 20/375). Nach diesem Gesetzentwurf soll in der Präambel das Wort „Arbeitswilligen“ gestrichen werden. Außerdem ist vorgesehen, das Wort „Rasse“ in Artikel 2 Absatz 2 durch die Wörter „aus rassistischen Gründen“ zu ersetzen. Dem Artikel 19 soll ein neuer Absatz 2 angefügt werden, wonach die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischer und faschistischer Bestrebungen, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische, antisemitische und weitere menschenverachtende Hetze nicht zuzulassen, Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Verantwortung jeder und jedes Einzelnen ist. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf eine Stärkung der Kinderrechte in Artikel 25 der Landesverfassung vor. 

In ihrer Sitzung am 13./14. Mai 2020 unterbrach die Bürgerschaft (Landtag) die erste Lesung des Gesetzentwurfs der CDU-Fraktion (Drs. 20/304). Den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke (Drs. 20/375) beschloss sie in erster Lesung. Beide Gesetzentwürfe überwies die Bürgerschaft (Landtag) zur Beratung und Berichterstattung an den 1. Ausschuss nach Artikel 125 Absatz 2 der Bremischen Landesverfassung. 

Der 1. Ausschuss nach Artikel 125 Absatz 2 der Bremischen Landesverfassung beriet die überwiesenen Anträge in seinen Sitzungen am 29. Mai 2020, 30. Juni 2020, 28. Oktober 2020, 27. November 2020, 16. November 2021, 22. Februar 2022 und 6. Dezember 2022. 

In der Sitzung am 30. Juni 2020 erörterte der Ausschuss die vorgeschlagene Änderung zur Präambel und stellte darüber Einvernehmen fest. 

Nach intensiver Diskussion verständigte er sich auf eine Verfassungsänderung zur Stärkung der Kinderrechte und legte der Bürgerschaft (Landtag) mit Bericht und Dringlichkeitsantrag vom 18. März 2021 einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Ergänzung des Artikels 25 der Bremischen Landesverfassung vor (Drs. 20/878). Die Bürgerschaft (Landtag) beschloss das Gesetz in ihrer Sitzung am 24./25. März 2021 in zweiter Lesung und in ihrer Sitzung am 5./6. Mai 2021 in dritter Lesung. 

Im September 2020 brachte die CDU-Fraktion einen neuen Gesetzesvorschlag in die Beratungen des 125er Ausschusses ein. Für Artikel 65 wurde folgende Formulierung vorgeschlagen: „Äußerungen oder Bestrebungen, die der Wiederbelebung, Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt und Willkürherrschaft dienen sowie rassistischen und antisemitischen Aktivitäten entschieden entgegenzutreten, ist Verpflichtung aller staatlichen Organisation und Verantwortung jedes Einzelnen. Gewalt, extremistischen oder menschenverachtenden Weltbildern und der Herabwürdigung von Menschen stellt diese Verfassung die Ziele einer offenen, vielfältigen und toleranten Gesellschaft und eines respektvollen und friedlichen Miteinanders in der Freien Hansestadt Bremen entgegen“. Im Mai 2021 regte die CDU-Fraktion zudem die Ergänzung des Artikel 5 Absatz 1 um die Wörter „und geschützt“ an. 

Zur Ausschusssitzung am 28. Oktober 2020 legten die Koalitionsfraktionen einen Konsensvorschlag vor, der in Bezug auf Artikel 65 die folgende Formulierung vorsah: „Demokratiefeindlichen Bestrebungen, insbesondere der Wiederbelebung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt und Willkürherrschaft, sowie rassistischen, antisemitischen und sonstigen menschenverachtenden Aktivitäten entschieden entgegenzutreten, ist Verpflichtung aller staatlichen Organisation und Verantwortung jeder und jedes Einzelnen. Die Freie Hansestadt Bremen fördert die Entwicklung einer offenen, vielfältigen und toleranten Gesellschaft sowie eines respektvollen und friedlichen Miteinanders.“ Hierzu erklärte die CDU-Fraktion in der Sitzung, sie sei mit dem Vorschlag einverstanden und habe wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass ihre Anregungen aufgenommen worden seien. Auch die FDP-Fraktion erklärte, mit dem Koalitionsvorschlag zu Artikel 65 einverstanden zu sein. 

In Bezug auf die Änderung von Artikel 2 sah der Konsensvorschlag der Koalitionsfraktionen vor, zusätzlich zur Ersetzung von „Rasse“ durch „aus rassistischen Gründen“ in Absatz 2 den folgenden Satz anzufügen: „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Menschen.“ CDU und FDP erklärten, mit der Formulierung „aus rassistischen Gründen“ nicht einverstanden zu sein. In Bezug auf die vorgeschlagene Schutz- und Gewährleistungspflicht kritisierte die CDU-Fraktion den Begriff „gruppenbezogen“ als sperrig und unkonkret. Da er zudem wie eine ungewollte Einschränkung gelesen werden könne, schlug die CDU-Fraktion die Streichung dieses Begriffs vor. Die FDP-Fraktion schloss sich dem an und betonte die Individualität der Menschenwürde. Sie stellte zur Diskussion, den Satz insgesamt wie folgt zu formulieren; „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede Verletzung der Würde jedes einzelnen Menschen.“ Im Laufe der Sitzung wurden von den Fraktionen weitere Formulierungsvarianten entwickelt, eine Einigung konnte jedoch nicht erzielt werden. 

Wegen der unterschiedlichen Positionen in Bezug auf die Abwehr von Antisemitismus, Rassismus und nationalsozialistischem Gedankengut beschloss der Ausschuss, sachverständige Stellungnahmen von Frau Prof. Dr. MaishaMaureen Auma (Hochschule Magdeburg), Herrn Prof. Dr. Johannes Hellermann (Universität Bielefeld), Herrn Dr. Christoph Maierhöfer (Vizepräsident OVG Bremen), Herrn Prof. Dr. KyrillAlexander Schwarz (Universität Würzburg), Herrn Prof. Dr. Tarik Tabarra (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) und Herrn Prof. Dr. Dr. Markus Thiel (Deutsche Hochschule der Polizei) einzuholen. Inhaltlich befassten sich die Sachverständigen zum einen mit der Frage, welche der in den vorliegenden Gesetzentwürfen vorgeschlagenen Formulierungen an welcher Stelle der Bremischen Landesverfassung für am ehesten geeignet gehalten werden, das bisherige Schutzniveau, das die Landesverfassung gegen rassistische Diskriminierung bietet, bei Streichung des Begriffes „Rasse“ zu gewährleisten. Zum anderen thematisierten die Sachverständigen die Frage, welche Rolle der Standort einer Formulierung bei der Gewährleistung des Schutzniveaus, insbesondere im Hinblick auf die Verankerung in Artikel 2 oder Artikel 65 der Landesverfassung, spielt. Die Sachverständigen beantworteten die Fragen unterschiedlich und kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen und Vorschlägen. Die Einzelheiten ergeben sich aus den dem Bericht beigefügten Stellungnahmen der Sachverständigen. 

Mit E-Mail vom 11. Mai 2021 brachten die Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ebenfalls einen geänderten Gesetzentwurf in die Ausschussberatung ein. Danach sollen in Artikel 2 Absatz 2 die Wörter „seiner Rasse“ durch die Wörter „oder rassistisch“ ersetzt werden. Die mit dem Konsensvorschlag vom September 2020 zur Diskussion gestellte Ergänzung des Artikels 2 Absatz 2 um eine Schutz und Gewährleistungspflicht hielten die einbringenden Fraktionen nicht mehr aufrecht. 

Die Fraktionen der CDU und der FDP legten mit EMail vom 3. November 2021 gemeinsam einen weiteren Gesetzentwurf vor. Danach sollen in Artikel 2 Absatz 2 die Worte „seiner Rasse“ durch die Worte „seiner Hautfarbe oder anderer äußerlicher Merkmale“ ersetzt werden. 

In seiner Sitzung am 16. November 2021 beriet der Ausschuss diesen Antrag. Die Fraktionen der CDU und der FDP betonten ihren Willen nach einer einvernehmlichen Verständigung für eine Verfassungsänderung betreffend Rassismus. Man sei davon ausgegangen, dass Diskriminierungen häufig aufgrund von Äußerlichkeiten wie der Hautfarbe erfolgten und dass dieser Aspekt in Artikel 2 Absatz 2 der Landesverfassung bislang noch nicht berücksichtigt werde. Die Aufzählung des Artikels 2 solle zur begrifflichen Klarheit beitragen und jede mögliche Diskriminierung enthalten. Die Ergänzung um die Komponente der Hautfarbe und der äußerlichen Merkmale wäre nach Ansicht von CDU und FDP allumfassend, eindeutig und verifizierbar. Mit der vorgeschlagenen Ergänzung würden alle Merkmale in einer Deutlichkeit zusammengefasst, die man in der Verfassung für notwendig halte. Der Begriff der Rasse sollte aus der Landesverfassung entfernt werden, da es diese Kategorisierungen von Menschen nicht gebe. 

Die Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke lehnten den Vorschlag von CDU und FDP zu Artikel 2 Absatz 2 ab. Zum einen erfasse das Merkmal der Hautfarbe nur einen Teilbereich rassistischer Diskriminierung. Zum anderen werde die Ausweitung auf beliebige „äußerliche Merkmale“ dem Charakter der Diskriminierungsverbote des Artikels 2 Absatz 2 nicht gerecht. Dieser folge gerade nicht wie der allgemeine Gleichheitssatz in Absatz 1 einem allumfassenden Ansatz, sondern stelle einzelne Merkmale unter einen besonderen Diskriminierungsschutz. Andere äußerliche Merkmale könnten sich sowohl auf Auffälligkeiten in der Gestik und Mimik oder Besonderheiten in der Sprache erstrecken als auch auf veränderliche äußerliche Merkmale, wie beispielsweise Piercings oder Tattoos. Der allgemeine Gleichheitssatz schütze bereits ausreichend vor Diskriminierungen aufgrund derartiger Merkmale. Ihre Aufnahme in die besonderen Diskriminierungsverbote würde diese tendenziell entwerten. Nicht zuletzt hätte eine Verfassungsänderung, durch die ausgerechnet Rassismus nicht mehr vom Wortlaut der Diskriminierungsverbote in Artikel 2 Absatz 2 adressiert werde, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität eine nicht hinnehmbare Symbolwirkung. Dieser Ansicht schlossen sich CDU und FDP nicht an, da sie auch eine mögliche Diskriminierung aufgrund von körperlichen Merkmalen wie Piercings oder Tattoos von Artikel 2 Absatz 2 umfasst wissen wollen. 

In der Sitzung am 22. Februar 2022 brachte die Fraktion Die Linke einen weiteren Gesetzgebungsvorschlag ein. Sie beantragte, Artikel 2 der Bremischen Landesverfassung in Anlehnung an die Regelung in der Landesverfassung von Thüringen dahingehend zu ändern, das Wort „Rasse“ durch die Worte „ethnischen Zugehörigkeit“ zu ersetzen. Danach würde Artikel 2 Absatz 2 der Bremischen Landesverfassung wie folgt lauten: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner sozialen Stellung, sexuellen Identität, seiner religiösen und politischen Anschauungen bevorzugt oder benachteiligt werden.“ 

Auch dieser Vorschlag fand letztlich keine verfassungsändernde Mehrheit im Ausschuss. Fraglich sei bereits, ob der Begriff vom Schutzniveau her dem Begriff „Rasse “ entspreche. Laut Duden meint Ethnie eine Menschengruppe (insbesondere Stamm oder Volk) mit einheitlicher Kultur (Dudenonline, Ethnie, https://www.duden.de/rechtschreibung/Ethnie, aufgerufen am 22.11.2022) . Entsprechend bedeutet „ethnisch “ laut Duden die [einheitliche] Kultur und Lebensgemeinschaft einer Volksgruppe bezeugend, betreffend (Dudenonline, ethnisch, https://www.duden.de/rechtschreibung/ethnisch , aufgerufen am 22.11.2022). Ein solches Begriffsverständnis würde zu einer massiven Einschränkung des Schutzbereichs führen, da eine Diskriminierung aus Gründen der „Rasse“ nicht notwendig deckungsgleich sind mit Diskriminierungen aus ethnischen Gründen. Befürchtet wurde auch, dass der Begriff „ethnische Zugehörigkeit“ gruppenbezogene Zuschreibungen fördert, indem er die Vorstellung hervorruft oder verfestigt, es gebe (nach ethnischen Maßstäben) objektiv klar voneinander zu trennende Bevölkerungsgruppen. 

Die Mitglieder aller Fraktionen im Ausschuss bedauern, dass eine Verständigung über eine konsensfähige Ersatzformulierung für den Begriff „Rasse“ nicht erzielt werden konnte – trotz anerkennenswerter Bemühungen auf allen Seiten. 

Letztlich verständigte sich der Ausschuss im Wege eines Kompromisses einstimmig darauf, in der Präambel das Wort „Arbeitswilligen“ zu streichen und dem Artikel 5 Absatz 1 die Wörter „und geschützt“ anzufügen. Außerdem soll nach Artikel 65 Absatz 1 folgender Absatz 1a eingefügt werden: 

(1a) Demokratiefeindlichen Bestrebungen, insbesondere der Wiederbelebung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt und Willkürherrschaft, sowie rassistischen, antisemitischen und sonstigen menschenverachtenden Aktivitäten entschieden entgegenzutreten, ist Verpflichtung aller staatlichen Organisation und Verantwortung jeder und jedes Einzelnen. Die Freie Hansestadt Bremen fördert die Entwicklung einer offenen, vielfältigen und toleranten Gesellschaft sowie eines respektvollen und friedlichen Miteinanders. 

Begründung:

Zu Nummer 1 (Präambel) 

Getragen von dem dringenden Wunsch der Frauen und Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten, aus den Trümmern ein neues Bremen zu schaffen, enthält die 1947 verfasste Präambel das Ziel, dass „allen Arbeitswilligen“ ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird“. Diese scheinbare Eingrenzung des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat dazu geführt, dass sich zuletzt nicht mehr alle demokratischen Fraktionen der Bürgerschaft vorbehaltlos hinter dem vollen Wortlaut der Präambel versammeln mochten. Dies zeigte sich im Zuge der Vorbereitung einer Resolution anlässlich des 70 jährigen Jubiläums der Bremischen Bürgerschaft im Jahr 2017. Tatsächlich wäre es mit dem durch das Grundgesetz geprägten Verständnis von Menschenwürde nicht zu vereinbaren, nur gegenüber „Arbeitswilligen“ dafür Sorge zu tragen, dass die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung stehen. Die den entsprechenden Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu, ist dem Grunde nach unverfügbar und geht selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren. Das Sozialstaatsprinzip verlangt staatliche Vor und Fürsorge auch für jene, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Verantwortung, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind. Da vor diesem Hintergrund der Wortlaut von 1947 missverstanden werden kann und dieses Missverständnis geeignet ist, die Identifikation der Menschen in Bremen und Bremerhaven mit der Präambel ihrer Landesverfassung zu beeinträchtigen, ist es angebracht, das Wort „Arbeitswilligen“ zu streichen. 

Zu Nummer 2 (Artikel 5) 

Der bisherige Schutzbereich des Artikel 5 Absatz 1 der Landesverfassung beschränkt sich auf die Anerkennung und Achtung der Würde der menschlichen Persönlichkeit durch den Staat und zielt eher auf einen Schutz „vor“ dem Staat. Diese Ausformulierung eines eher passiven Rechts jedes und jeder Einzelnen gegenüber dem Staat wird der überragenden Bedeutsamkeit der Menschenwürde als wichtigstem Grundsatz unserer Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht in vollem Umfang gerecht. Indem durch die Ergänzung auch vom Staat der Schutz der Würde der menschlichen Persönlichkeit erwartet wird, ist vom Staat nunmehr ein aktives Handeln gefordert. Das Verhältnis besteht auch nicht mehr nur zwischen Individuum und Staat, sondern der damit verbundene Schutzauftrag des Staates muss auch gegenüber dritten Personen im gesellschaftlichen Kontext gewährleistet werden. Demnach wird der Mensch durch diese Ergänzung nicht mehr „nur“ in seiner Würde der menschlichen Persönlichkeit vom 

Staat geachtet, sondern er wird auch im Verhältnis der Menschen untereinander durch den Staat geschützt. Hierdurch wird ein neuer, mindestens aber erweiterter und eindeutiger Schutzauftrag des Staates formuliert, der an die Würde der menschlichen Persönlichkeit anschließt, diese meint und betrifft. 

Zu Nummer 3 (Artikel 65) 

Die Bremische Landesverfassung gründet auf der Ablehnung des Nationalsozialismus. Sie ist durchdrungen von dem Willen, dass sich Diktatur, Rassenhass und Vernichtung nach den furchtbaren Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945 nicht wiederholen sollen. Heute, in Zeiten rechtsterroristischer Anschläge und Amoktaten, ist dieser antifaschistische Geist unserer Landesverfassung wichtiger denn je. Rechtsradikale Gesinnung reicht bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft, rechtsextreme Parolen sind wieder salonfähig geworden, und menschenverachtende Rhetorik ist die geistige Saat für rechtsextreme, rassistische, antisemitische und islamfeindliche Gewalttaten. 

Das in der Präambel festgeschriebene Bekenntnis gegen den Nationalsozialismus reicht angesichts zunehmender demokratiefeindlicher Bestrebungen sowie der wieder aufkeimenden Formen des Neo-Nationalsozialismus, des Rassismus und des Antisemitismus nicht mehr aus. Das Selbstverständnis des Landes Bremen als weltoffenes und multikulturell geprägtes Bundesland sowie der im demokratischen Konsens bestehende Wille, nationalsozialistischem Gedankengut und seinen menschenverachtenden Irrlehren entgegenzutreten, sollten wegen ihrer fundamentalen Bedeutung Verfassungsrang erhalten. 

Notwendig ist aber mehr als ein Bekenntnis der Verfassung – notwendig ist die Verantwortung der gesamten staatlichen Gewalt und jeder und jedes Einzelnen dafür, die Mitmenschlichkeit und Solidarität unserer Gesellschaft immer wieder offensiv zu verteidigen; dafür, Hass und Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus und Antifeminismus jederzeit entschieden entgegenzutreten; dafür, miteinander zu leben und nicht gegeneinander. Deshalb ist es an der Zeit, die staatliche und gesellschaftliche Aufgabe, das Wiedererstarken von Nationalsozialismus und Faschismus zu verhindern, als ethische Verpflichtung und ermutigenden Appell ausdrücklich in der Bremischen Landesverfassung zu verankern. 

Mit der Ergänzung des Artikels 65 um ein weiteres Staatsziel und mit dem entsprechenden Auftrag an die Bürger:innen soll unmissverständlich verdeutlicht werden, dass demokratiefeindliche Bestrebungen, insbesondere die Wiederbelebung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt und Willkürherrschaft, sowie rassistische, antisemitische und sonstige menschenverachtende Aktivitäten unter keinen Umständen akzeptiert und geduldet werden und dass es eines aktiven staatlichen und gesellschaftlichen Engagements dagegen bedarf. Auch soll damit auf Tendenzen in der Gesellschaft reagiert werden, die darauf gerichtet sind, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verharmlosen und zu negieren. Dem müssen alle demokratischen Kräfte rechtzeitig, gemeinsam und entschieden entgegenwirken. Absatz 1a Satz 2 ergänzt dieses Staatsziel. Hier wird unmissverständlich klargestellt, wie Menschen in der Freien Hansestadt Bremen im Sinne einer offenen gesellschaftlichen Tradition zusammenleben wollen. Diese Art des Zusammenlebens zu fördern ist Ziel und Aufgabe des Landes Bremen. 

…“

6. Hamburg

a) 2015: Bürgerschaftsreferendum, Art. 50 Abs. 4b, 6 und 7 LVerf.

Hamburg ergänzte - auch beflügelt durch die Olympia-Bewerbung der Hansestadt, zu der man die Meinung der Bevölkerung einholen wollte -  durch Gesetz vom 1. Juni 2015 (GVBl. S. 102) die direktdemokratischen Elemente seiner Verfassung um das Bürgerschaftsreferendum, also die von der Bürgerschaft initiierte Volksabstimmung, durch Einfügung eines neuen Absatzes 4b in den Art. 50 der LVerf. und eine Änderung der Absätze 6 und 7 des Art. 50. Zur Begründung führten die Fraktionen der SPD, der CDU und von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag vom 6. Mai 2015 (Bürgerschaft Drs. 21/417, S.1-2; Hervorhebung durch Fettdruck nicht im Original) aus:

 "Hamburg hat ein vorbildliches System direktdemokratischer Bürgerbeteiligung. Nachdem Hamburg Volksentscheide erst 1996 eingeführt und dieses Instrument eine durchaus wechselvolle Geschichte durchlebt hatte, gelang es erst in den letzten Jahren, die in einem breiten Konsens getragene Regelung in die Hamburger Verfassung und ins Volksabstim-mungsgesetz einzufügen. In der letzten Wahlperiode wurde erreicht, auf der Ebene des einfachen Gesetzes diese Regelung noch rechtssicherer und anwendungsfreundlicher für alle Beteiligten zu machen. Auch die Verbindlichkeit von Volksentscheiden wurde näher ausgestaltet und durch das Element des „fakultativen Referendums“ abgesichert. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass im bundesweiten Vergleich Hamburg im Volksentscheidsranking von Mehr Demokratie e.V. regelmäßig vorne liegt. Schon das zeigt, dass für eine grundsätzliche Überarbeitung bezie-hungsweise Reform der direkten Demokratie in unserer Stadt kein Anlass besteht, allenfalls für punktuelle Korrekturen beziehungsweise Ergänzungen.

Bereits in der letzten Wahlperiode wurde auch angesichts großer Infrastrukturentscheidungen im politischen Raum vor diesem Hintergrund diskutiert, ob das sehr ausdifferenzierte Volksentscheids-Regelwerk durch ein Element des von Senat und/oder Bürgerschaft initiierten Referendums systemkonform ergänzt werden sollte. Die CDU-Fraktion hatte hierzu sehr frühzeitig eine einfachgesetzliche Ergänzung in Gestalt eines Volksbefragungsgesetzes vorgeschlagen, deren Ergebnisse politisch aber nicht rechtlich verbindlich sein sollten. Im Zuge der Überlegungen für eine Hamburger Olympiabewerbung haben diese Überlegungen zum Ende der Wahlperiode an Fahrt aufgenommen, ohne dass sie zu einem Abschluss geführt werden konnten. Über Fraktionsgrenzen hinweg bestand jedoch Einigkeit, dass im Falle einer Olympiabewerbung die Hamburgerinnen und Hamburger das letzte Wort haben sollen.

Der erste „Anwendungsfall“ Olympiabewerbung ist aufgrund der Entscheidung des DOSB für Hamburg nun eingetreten und deshalb gilt es, in einem möglichst breiten Konsens die Überlegungen zur Frage Referendum/Volksbefragung sehr zeitnah zu einem Ergebnis zu führen, um eine von allen gewollte direktdemokratische Entscheidung der Hamburgerinnen und Hamburger zu Olympia im Herbst 2015 verfahrensrechtlich zu ermöglichen. Die vielfältigen verfassungspolitischen Diskussionen der letzten Wochen, Monate und Jahre sind dabei miteinzubeziehen. Eine Sachverständigenanhörung hat die wichtigsten Fragen hierzu einer Klärung zugeführt, was mit dem vorliegenden Antrag aufgegriffen wird.

Eine einfachgesetzliche Volksbefragung wäre vor diesem Hintergrund ein zu großes verfassungsrechtliches Risiko. Auch eine verfassungsrechtlich abgesicherte Volksbefragung kann keine Verbindlichkeit im Hinblick auf nachlaufende Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide entfalten. Aufgrund der vielfältigen Hamburger Erfahrungen ist aber gerade eine verbindliche direktdemokratische Entscheidungsform zu bevorzugen; ein neues Instrument sollte sich – trotz notwendiger Unterschiede – daher systematisch in das bestehende Regelwerk sachgerecht einfügen, dieses vernünftig ergänzen und demgegenüber gerade kein verfassungspolitischer Fremdkörper sein. Und die Hamburgerinnen und Hamburger sollten – gerade bezogen auf den ersten „Anwendungsfall“ Olympia – darauf vertrauen können, dass ihr Wort am Schluss auch gilt und – mit fairen Regeln – weder Politik noch spätere Volksinitiativen dieses wieder aufheben. Auch wenn ein Referendum nur für Olympia verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch denkbar ist, haben sich die antragstellenden, zusammen über die verfassungsändernde Mehrheit verfügenden Fraktionen entschieden, nicht den Weg eines Einzelfallgesetzes zu gehen, sondern eine allgemeine Regelung zu treffen.

Die verfassungspolitische Diskussion zu diesen Fragen wird weitergehen. Außerdem kündigt sich eine Volksinitiative mit größeren Reformvorschlägen an, die voraussichtlich unter anderem Parlamentsreferenden mit wesentlich geringeren Hürden, aber aus Sicht der antragstellenden Fraktionen erheblich größeren Gefahren für die Handlungsfähigkeit von Bürgerschaft und Senat zum Inhalt haben soll. Angesichts des aktuellen Entscheidungsbedarfs im Hinblick auf eine Olympia-Entscheidung ist es deshalb angezeigt, den erzielten Zwischenstand und Konsens in der Bürgerschaft jetzt sachgerecht gesetzlich umzusetzen. Mit einer Evaluationsklausel ist sichergestellt, dass man auf Weiterentwicklungen in der verfassungspolitischen Diskussion eingehen kann.

Vorgeschlagen wird daher die Einfügung eines Artikels 50 Absatz 4b in die Verfassung; die normativ sinnvolle Ergänzung zum Regelwerk der Volksentscheide ist damit – bei allen notwendigen systematischen Unterschieden zum „normalen“ Volksentscheid – sichergestellt. Um Verwechselungen zu vermeiden und die starke Stellung der Bürgerschaft in diesem Verfahren zu unterstreichen, soll es „Bürgerschaftsreferendum“ heißen."

b) 2016: Datenschutzbeauftragter, Art. 60a LVerf.

Nach längeren Vordiskussionen um die künftige Stellung des Datenschutzbeauftragten legten die Fraktionen, auch unter dem Eindruck europarechtlicher Vorgaben, unter dem 28. Juni 2016 den Entwurf eines neuen Art. 60a der Landesverfassung vor (Drs. 21/5049), der in beiden Lesungen einstimmig angenommen wurde und am 1. Januar 2017 in Kraft trat. Das am 20. Juni 2016 ausgefertigte und am 26. Juli 2016 verkündete Gesetz (GVBl. I S. 319), das die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten stärkt, finden Sie hier.

c) 2019: Erste Sitzung der Bürgerschaft nach der Wahl, Art. 12 Abs. 3 LVerf.

Durch Gesetz vom 2. Oktober 2019 (GVBl. I S. 333) wurde Art. 12 Abs. 3 LVerf. dahin geändert, daß die erste Sitzung der Bürgerschaft nach der Wahl spätestens (statt wie bisher drei) vier Wochen nach der Wahl stattzufinden hat.

Die den Entwurf tragenden Fraktionsen hatten die Verlängerung - gut nachvollziehbar - so begründet (Bürgerschaft Drs. 21/18186):

"Während in den meisten Bundesländern für die Konstituierung des Landtags nach einer Wahl eine Frist von mindestens 30 Tagen vorgesehen ist, beträgt diese in Hamburg lediglich drei Wochen.

Die Auszählungs- und Nachprüfungsverfahren sind mit dem neuen Wahlrecht aber deutlich komplexer und damit langwieriger geworden. Ergebnisaufbereitung und Man- datsberechnung durch das Statistikamt Nord und Nachprüfung durch die Bezirkswahl- leitungen sind zeitaufwändig, sodass die Bezirkswahlausschüsse und der Landeswahlausschuss zur anschließenden gestuften Feststellung des amtlichen Endergebnisses erst mit entsprechender Verzögerung tagen können. Das amtliche Endergebnis liegt damit regelmäßig erst zwölf Tage nach der Wahl vor. Die Benachrichtigung der gewählten Abgeordneten und die Organisation der konstituierenden Sitzung stehen damit unter erheblichem Zeitdruck. Auch die Vorbereitungszeit für die gewählten Abgeordneten ist sehr knapp.

Mit einer maßvoll erweiterten Frist könnten die Organisationsabläufe verbessert und die Zustellung der Benachrichtigungen der gewählten Bewerberinnen und Bewerber besser gewährleistet werden.

Eine Verlängerung auf vier Wochen ist auch mit Blick auf die Bestimmungen des Bundes und der anderen Länder angemessen. Gleichzeitig wird durch die Flexibilisierung gewährleistet, dass die konstituierende Sitzung gemäß der regelmäßigen Sitzungsturnusse außerhalb der Schulferien stattfinden kann."

d) 2020 I: Verantwortung der Stadt für die Erderwärmung, Präambel Satz 10

Durch Gesetz vom 20. Februar 2020 (GVBl. I S. 145) wurde hinter Satz 9 der Präambel der Verfassung ("Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.") der Satz eingefügt: "Insbesondere nimmt die Freie und Hansestadt Hamburg ihre Verantwortung für die Begrenzung der Erderwärmung wahr.". 

Der Senat hatte die von ihm initiierte Änderung so charakterisiert (Bürgerschaft Drs. 21/19200, Anlage B S. 21-22):

"Mit der Änderung der Präambel wird das Staatsziel 'Begrenzung der Erderwärmung' in die Verfassung aufgenommen. Die Änderung hebt einen Aspekt des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen besonders hervor („insbesondere“), lässt aber im Übrigen das Staatsziel 'Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen' und die Bedeutung der davon umfassten weiteren Belange unverändert."

Die Ergänzung ist sicher unschädlich. Aber was wird sie nützen? Worin besteht die Verantwortung der Stadt? Und warum werden Staatsziele überhaupt in der Präambel und nicht im eigentlchen Verfassungstext abgehandelt?

e) 2020 II: Vorübergehende Stärkung der Rechte der geschrumpften heterogenen Minderheit in der Bürgerschaft, Artt. 25 Abs. 2a, 26 Abs. 1a LVerf.

Unter dem 10. Juni 2020 brachten die Regierungsfraktionen SPD und GRÜNE Hand in Hand mit den Fraktionen CDU und DIE LINKE den Antrag ein, für die Dauer der 22. Wahlperiode die Rechte der Minderheit in der Bürgerschaft durch die Herabsetzung von Antragsquoren von einem Viertel auf ein Fünftel im Bereich der Artt. 25 (Anfragen an den Senat) und 26 (Untersuchungsausschüsse) LVerf. mit Rücksicht darauf zu stärken, daß die Regierungsfraktionen nunmehr 87 der 123 Sitze inne hatten, die Oppositionsfraktionen (CDU 15, DIE LINKE 13, AfD 6, fraktionslos 2) das bisherige Quorum also nur noch erreicht hätten, wenn sie sich stets auf gemeinsame (insbesondere also die AfD [die im Antrag nicht namentlich genannt wird] einschließende) Anträge verständigt hätten (LT-Drs. 22/475). Andere Bereiche wie Art. 27 Abs. 1 (Enquête-Kommissionen) und Art. 30 (Aktenvorlage) begnügten sich bereits mit dem kleineren Quorum, mußten also nicht angepaßt werden.

Die Änderung wurde einstimmig bei (angesichts der Stoßrichtung der Initiative vielleicht nicht verwunderlicher) Enthaltung der AfD am 10. und 24. Juni 2020 beschlossen (LT-PlPr. 22/6 S. 327-329; 22/7 S. 417-418), am 26. Juni 2020 ausgefertigt und am 3. Juli verkündet (GVBl. I S. 379). Sie trat gemäß Art. 54 Satz 1 LVerf. am 4. Juli 2020 in Kraft und wird mit dem Ende der 22. Wahlperiode außer Kraft treten (Art. 3 Abs. 1 ÄndG).

f) 2020 III: "Bürgernähe" und "Transparenz" der Verwaltung statt Bürgerbeteiligung an ihr, Art. 56 LVerf.

Bis zur Änderung 2020 lautete Art. 56 LVerf.: "1Das Volk ist zur Mitwirkung an der Verwaltung berufen. 2Die Mitwirkung geschieht insbesondere durch die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Verwaltungsbehörden." 

Unter dem 10. Juni 2020 schlugen die Regierungsfraktionen (LT-Drs.22/505) vor, die bürgerfreundlich klingende und gesonnene Vorschrift zu ersetzen durch diesen Text:

"1Die Verwaltung ist an Gesetz und Recht gebunden. 2Sie ist dem Wohl der Allgemeinheit und den Grundsätzen der Bürgernähe und Transparenz verpflichtet. 3Sie macht die bei ihr vorhandenen Informationen zugänglich und veröffentlicht [später hingefügt: gesetzlich] bestimmte Informationen, soweit dem nicht öffentliche Interessen, Rechte Dritter oder gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. 4Das Nähere regelt ein Gesetz.“

Satz 1 ist angesichts des Art. 3 Abs. 2 S. 2 LVerf. gänzlich überflüssig, und die Sprechblasen der Sätzen 2 und 3 können natürlich (und wollen) das plebiszitäre Element der bisherigen Vorschrift nicht ersetzen. Im Gegenteil: Die Änderung des Art. 56 sollte die in Art. 2 desselben Gesetzes vorgesehene Abschaffung der Deputationen, die als "nicht mehr zeitgemäß" (LT-Drs. 22/505, S. 5) bezeichnet wurden, ermöglichen. Dabei blieb es trotz sehr intensiver und kontroverser Beratungen (LT-PlPr. 22/7 vom 24. Juni 2020, S. 414, 433; Ausschuß-Bericht vom 21. September 2020, LT-Drs. 22/1479; LT-PlPr. 22/11 vom 30. September 2020, S. 689-698, 731-734; LT-PlPr. 22/23, S. 794-797).

Der neue Art. 56 wurde als Art. 1 des pompös und verhüllend so genannten Gesetzes "zur Weiterentwicklung und Stärkung einer dem Allgemeinwohl, der Bürgernähe und Transparenz verpflichteten Verwaltung" mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der CDU und DIE LINKE bei Enthaltung der AfD am 28. Oktober 2020 in zweiter Lesung beschlossen (PlPr. 22/12 S. 794-797), am 3. November ausgefertigt und am 6. November verkündet (GVBl. I S. 559). Gemäß Art. 54 Satz 1 LVerf. trat die Änderung am 7. November 2020 in Kraft. 

Soweit die in Artt. 2 bis 15 bestimmten Gesetzesänderungen die Aufhebung des alten Art. 56 LVerf. (Art. 1 des Gesetzes) voraussetzen, sind sie verfassungswidrig und nichtig, weil sie  gleichzeitig mit Art. 1 verkündet wurden und in Kraft treten sollten. Richtigerweise hätte Art. 1 des Gesetzes  in Kraft gewesen sein müssen, ehe die auf ihn gestützten weiteren Artikel des Gesetzes (ausgefertigt oder) verkündet werden (vgl. BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Andere Länder begehen denselben Fehler (vgl. unten Nrn. 8, 10 b], 12 a], 15 d]); ein Trost ist das nicht.

g) 2023 I: Bekämpfung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Diskriminierung, Europa, Kinderrechte, freiwilliges Engagement

Das Gesetz vom 7. März 2023 (GVBl. S. 93), verkündet am 17. März, gemäß Art. 54 Satz 1 LVerf. in Kraft seit dem 18. März, ergänztdie Präambel um die (nur hier kursiv und unterstrichen gesetzten) folgenden Passagen: 

„Die Freie und Hansestadt Hamburg hat als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene, besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein. Sie fördert ein geeintes Europa und leistet ihren Beitrag zu einer Europäischen Union, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist.

Durch Förderung und Lenkung befähigt sie ihre Wirtschaft zur Erfüllung dieser Aufgaben und zur Deckung des wirtschaftlichen Bedarfs aller. Auch Freiheit des Wettbewerbs und genossenschaftliche Selbsthilfe sollen diesem Ziele dienen.

Jedermann hat die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken. Die Arbeitskraft steht unter dem Schutze des Staates. Die Freie und Hansestadt Hamburg achtet, schützt und fördert die Rechte der Kinder. Die Allgemeinheit hilft in Fällen der Not den wirtschaftlich Schwachen und ist bestrebt, den Aufstieg der Tüchtigen zu fördern.

Um die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen, verbindet sich die politische Demokratie mit den Ideen der wirtschaftlichen Demokratie.

Vielfalt und Weltoffenheit sind identitätsstiftend für die hanseatische Stadtgesellschaft. In diesem Sinne und mit festem Willen schützt die Freie und Hansestadt Hamburg die Würde und Freiheit aller Menschen. Sie setzt sich gegen Rassismus und Antisemitismus sowie jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ein. Sie stellt sich der Erneuerung und Verbreitung totalitärer Ideologien sowie der Verherrlichung und Verklärung des Nationalsozialismus entgegen.

Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Insbesondere nimmt die Freie und Hansestadt Hamburg ihre Verantwortung für die Begrenzung der Erderwärmung wahr.“

und (vielleicht überflüssigerweise, aber doch nicht ganz ohne Symbolkraft) Art. 73, der das „öffentliche Ehrenamt“ zuvor schon in gewisser Weise hervorgehoben hatte, um den etwas darüber hinausreichenden Satz 

„Das freiwillige Engagement, wie insbesondere der ehrenamtliche Einsatz für das Gemeinwohl, genießt den Schutz und die Förderung des Staates.“.

Die den Antrag unter dem 9. Februar 2023 einbringenden Fraktionen SPD, Grüne und CDU (Drs. 22/10946) begründeten ihre Initiative so: 

„Die Präambel unserer Landesverfassung steht für unser hanseatisches Selbstverständnis und bietet eine wichtige Grundlage für staatliches Handeln in der Stadt. Entsprechend bedeutsam ist die Reflexion ihres Inhaltes angesichts der Entwicklung unserer demokratischen Werte.

Im Gegensatz zu anderen Landesverfassungen und zum Grundgesetz beinhaltet die Hamburgische Verfassung keinen Grundrechtekatalog. Stattdessen sind in ihr insbesondere organisatorische Regeln zum Funktionieren des Staates enthalten. Der Präambel der hamburgischen Landesverfassung kommt daher eine besondere Bedeutung zu: In ihr können grundlegende Werte verankert werden, die für die Auslegung der Verfassung maßgeblich sind.

Historisch betrachtet bilden sich in der Präambel bisher die wirtschaftliche Ausrichtung und die Identität von Hamburg als Hansestadt deutlich ab. Dieses Bekenntnis zu Hamburg als Welthafenstadt wollen wir im Angesicht gesellschaftlicher Entwicklungen um ein klares Bekenntnis zu Europa und ein vielfältiges und weltoffenes Hamburg ergänzen.

Mit der ausdrücklichen Nennung der Rechte von Kindern in der Präambel wollen wir die gesellschaftliche Weiterentwicklung in Bezug auf die Rolle und die Rechte von Kindern würdigen.

In einer Zeit der immer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft ist ein klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Präambel geboten. Insbesondere der Verbreitung und Verherrlichung nationalsozialistischen Gedankenguts, von Antisemitismus und jeglicherFormen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wollen wir uns als demokratische Gesellschaft mit allen Mitteln entgegenstellen, um allen Hamburger:innen ein sicheres und freies Zusammenleben zu ermöglichen und die Vielfalt unserer Gesellschaft zu erhalten und zu fördern.

Flankiert werden soll dies mit einer besonderen Hervorhebung des freiwilligen Engagements, das für eine funktionierende Zivilgesellschaft unabdingbar ist. Die Ausübung eines Ehrenamts ist bereits in Artikel 73 unserer Verfassung unter besonderen Schutz gestellt. Auch dasEngagement ohne formales Ehrenamt ist von Bedeutung für unsere Stadtgesellschaft. Mit der Drs. 21/17299 hat die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig beschlossen, die Bedeutung des freiwilligen Engagements für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichtbarer zu machen. Die höchste Form der Sichtbarmachung ist die Verankerung der Bedeutung und Wertschätzung des freiwilligen Engagements in der Landesverfassung.

Mit dieser zeitgemäßen Ergänzung unserer Landesverfassung betonen wir die gemeinsamen Grundlagen unseres Zusammenlebens in der Freien und Hansestadt Hamburg. …“

Die Änderungen der Präambel erläuterten die Fraktionen im einzelnen so (Hervorhebung durch Fettdruck nicht im Original):

„Als Welthafenstadt und wirtschaftliche Metropole stehen wir für ein geeintes Europa. Ein Bekenntnis zur Europäischen Union spiegelt unser hanseatisches Selbstverständnis im staatsorganisatorischen Gefüge wider. Die Ergänzung der Verfassung um 2 Bestimmungen, die die Rolle des Landes innerhalb Europas und als Teil der Europäischen Union sowie seinen fortwährenden Beitrag zur europäischen Integration zum Ausdruck bringen, ist daher von erheblicher Bedeutung. …

Während der Corona-Pandemie haben wir die Erfahrung gemacht, dass die besonderen Bedürfnisse von Kindern nicht immer ausreichend Beachtung gefunden haben. Darum soll durch die Aufnahme der Kinderrechte in die Präambel der Hamburgischen Verfassung der speziellen Würdigung dieser Bedürfnisse Ausdruck verliehen werden. …

Diese Formulierung verurteilt jegliche Form der Diskriminierung, die sich gegen Menschen aufgrund bestimmter Eigenschaften richtet. In der Sachverständigenanhörung im Verfassungsausschuss wurde der historisch richtige und diskriminierungsfreie Wortlaut ausführlich diskutiert. Der Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist neu und kann durch die Interpretation der Hamburgischen Verfassung mit Leben gefüllt werden. So wird vermieden, eine Bewertung der unterschiedlichen Diskriminierungsformen vorzunehmen. Die besondere Erwähnung von Antisemitismus und Rassismus ist angesichts der deutschen Geschichte von herausgehobener Bedeutung.“

Und zur Ergänzung des Art. 73 hieß es:

„Die Stärkung [u.a.] des Ehrenamtes ist Ausdruck des Selbstverständnisses von Hamburg als weltoffener Metropole und als solches als Staatsziel in die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg aufzunehmen.“

 

h) 2023 II: Wohnungen in der Hand des Landes, Wohnungsbau

Das Gesetz vom 20. April 2023 (GVBl. S. 169), verkündet am 25. April, in Kraft gem. Art. 54 Satz1 LVerf. seit dem 26. April, änderte die Verfassung so: 

1. Art. 72 (im Abschnitt Haushalts- und Finanzwesen) regelte in einer seit Anfang 2020 geltenden Fassung Kredite, Sicherheitsleistungen und (in Absatz 6) die Veräußerung von Staatsgut. Absatz 6 erhielt die folgende Fassung:

„Zur Gewährleistung der Wohnraumversorgung soll das Eigentum an Grundstücken der Freien und Hansestadt Hamburg, die für den Wohnungsbau bestimmt sind, grundsätzlich nicht an andere übertragen werden. Das Nähere regelt ein Gesetz, das insbesondere im öffentlichen Interesse liegende Übertragungen zulassen kann. Eigentumsübertragungen von Grundstücken im Sinne von Satz 1 sind nur zulässig, wenn sie durch Gesetz oder auf Bes-chluss der Bürgerschaft zugelassen sind. Die Veräußerung sonstigen Staatsguts, die nicht zum regelmäßigen Gang der Verwaltung gehört, ist nur auf Beschluss der Bürgerschaft zulässig.“ 

Dem bisherigen einzigen Satz, der als Satz 4 des Absatzes 6 im wesentlichen erhalten blieb, wurden damit drei Sätze vorangestellt, die auf der Grundlage der Formulierungen einer erfolgreichen Volksinitiative die Möglichkeit der Stadt, ihr Eigentum an für den Wohnungsbau bestimmten Grundstücken an andere zu übertragen, stark begrenzen.

2. Im Abschnitt Schluß- und Übergangsbestimmungen wurde zwischen Art. 73, der das öffentliche Ehrenamt schützt,und Art. 74 (Vereidigung der Beamten und Richter auf die Verfassung) folgender Art. 73a eingefügt:  

„Die Freie und Hansestadt Hamburg fördert und unterstützt im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Schaffung, die Erhaltung und die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum zu ange-messenen Bedingungen. Sie wirkt in der Bauleitplanung nach Maßgabe des geltenden Rechts insbesondere auf die Berücksichtigung der Belange des Wohnens, der Wirtschaft und der Infrastruktur durch Maßnahmen der Innenentwicklung sowie durch die Ausweisung neuer Bauflächen unter Berücksichtigung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen hin.“ 

Satz 1 schließt sich an das Motiv der neuen Sätze 1-3 des Art. 72 Abs. 6 (Wohnraum) ersichtlich an. Satz 2 geht mit der Einbeziehung der Wirtschaft, der Infrastruktur und der natürlichen Lebensgrundlagen darüber hinaus und wurde dementsprechend besonders kontrovers diskutiert.

Das ursprüngliche Vorhaben, die beiden Änderungen zusammen mit der oben unter g) beschriebenen Änderung (im wesentlichen der Präambel) zu beraten und zu beschließen, wurde aufgegeben, nachdem sich zeigte, daß die Änderung g) auf weniger Widerstand und bereitere Zustimmung stieß. Das erklärt den zusätzlichen (und nicht wirklich notwendigen) Aufwand zweier Änderungsverfahren statt nur eines. 

Die Fraktionen SPD und Grüne ergriffen unter dem 2. November 2022 die Initiative (Drs. 22/9844 – „Einigung mit der Volksinitiative „Boden & Wohnraum behalten – Hamburg sozial gestalten! Keine Profite mit Boden & Miete!“):

„Die Initiatoren der Volksinitiative „Boden & Wohnraum behalten – Hamburg sozial gestalten! Keine Profite mit Boden & Miete!“ haben am 19. Oktober 2020 beim Hamburger Senat die Unterschriftenlisten mit über 10.000 Unterschriften zur Unterstützung der Volksinitiative eingereicht, welche nach entsprechender Prüfung durch den Senat zustande gekommen ist. Gegenstand der Volksinitiative ist eine andere Vorlage im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 Variante 2 des Volksabstimmungsgesetzes (VAbstG). Die Volksinitiative hat die Forderung nach einem grundsätzlichen Verbot der Veräußerung von Grundstücken und Wohnungen der Freien und Hansestadt Hamburg und ihrer Unternehmen zum Gegenstand.

I. Gegenstand und Begründung der Volksinitiative

Der genaue Gegenstand der Initiative lautet: „Die Stadt Hamburg veräußert grundsätzlich keine Grundstücke und Wohnungen in Hamburg mehr. Diese Regelung umfasst das gesamte unmittelbare und mittelbare Landesvermögen. Bei Landesbeteiligungen und Körperschaften der Stadt sind Senat und Bürgerschaft verpflichtet, ihre Gesellschafter- und Aufsichtsrechte zu nutzen, um Veräußerungen zu verhindern. Ausnahmen kann die Hamburgische Bürgerschaft bei besonderem öffentlichem Interesse beschließen.“

Die im Gesetz gemäß § 5a Absatz 1 Satz 3 VAbstG vorgesehene Anhörung der Initiator: innen der Volksinitiative erfolgte im Stadtentwicklungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft am 18. Januar 2021 (vergleiche Ausschussprotokoll Nummer 22/5 und Drs. 22/2955). Im Anschluss daran sind die antragstellenden Fraktionen mit den Vertreter:innen der Volksinitiative in den Dialog getreten, um die Möglichkeiten für einen Kompromiss auszuloten. Nach vielen sehr intensiven Gesprächen ist mit dem nachfolgenden Ersuchen ein Konsens gelungen, der zu einer Beendigung des laufenden Volksgesetzgebungsverfahrens führen soll. …

Grund und Boden sind nicht vermehrbar. Der richtige Umgang mit dem knappen Gut des Bodens ist daher ein entscheidender Hebel für eine soziale Stadtentwicklungspolitik. Eines der wichtigsten Ziele der Hamburger Bodenpolitik ist es dabei, langfristig für viele Menschen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den Metropolen ist angespannt und daher eine kontinuierlich große Aufgabe. Die Gründe für die angespannte Situation und die Entwicklung der Bodenpreise sind komplex und vielfältig. Auch das positive Bevölkerungssaldo sowie die damit steigende Nachfrage nach Wohnraum und das niedrige Zinsniveau gehören dazu. Dieser Befund macht deutlich, dass Grund und Boden für das Gemeinwohl eine unverzichtbare Grundlage für das Zusammenleben sind. Daher ist eine sozial gerechte und am Gemeinwohl orientierte Flächenpolitik ein Thema von entscheidender Bedeutung für die Zukunft Hamburgs.

Die Knappheit und Endlichkeit von Grund und Boden bedarf einer konzeptionellen Steuerung durch die öffentliche Hand. Dabei liegt in Hamburg der verfassungsgemäße Auftrag für die Veräußerung von Staatsgut – und damit auch von öffentlichem Grund –, soweit diese nicht zum regelmäßigen Gang der Verwaltung gehört, bei der Bürgerschaft (Artikel 72 Absatz 6 HV). Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Grundstück unter seinem Verkehrswert veräußert werden soll. Es gilt dabei immer, den Schutz des Eigentums auch im Kontext der kommunalen Entwicklungsinteressen zu betrachten und ausgeglichen zu gewichten.

Aus [der] Sicht der den Senat tragenden Fraktionen soll ein kooperativer Ansatz, wie Hamburg ihn mit dem Bündnis für das Wohnen gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft und unter partnerschaftlicher Beteiligung der Mietervereine verfolgt, fortgeführt und Grund und Boden sind nicht vermehrbar. Der richtige Umgang mit dem knappen Gut des Bodens ist daher ein entscheidender Hebel für eine soziale Stadtentwicklungspolitik.

Eines der wichtigsten Ziele der Hamburger Bodenpolitik ist es dabei, langfristig für viele Menschen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den Metropolen ist angespannt und daher eine kontinuierlich große Aufgabe.

Die Gründe für die angespannte Situation und die Entwicklung der Bodenpreise sind komplex und vielfältig. Auch das positive Bevölkerungssaldo sowie die damit steigende Nachfrage nach Wohnraum und das niedrige Zinsniveau gehören dazu.

Dieser Befund macht deutlich, dass Grund und Boden für das Gemeinwohl eine unverzichtbare Grundlage für das Zusammenleben sind. Daher ist eine sozial gerechte und am Gemeinwohl orientierte Flächenpolitik ein Thema von entscheidender Bedeutung für die Zukunft Hamburgs.

Die Knappheit und Endlichkeit von Grund und Boden bedarf einer konzeptionellen Steuerung durch die öffentliche Hand. Dabei liegt in Hamburg der verfassungsgemäße Auftrag für die Veräußerung von Staatsgut – und damit auch von öffentlichem Grund –, soweit diese nicht zum regelmäßigen Gang der Verwaltung gehört, bei der Bürgerschaft (Artikel 72 Absatz 6 HV). Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Grundstück unter seinem Verkehrswert veräußert werden soll. Es gilt dabei immer, den Schutz des Eigentums auch im Kontext der kommunalen Entwicklungsinteressen zu betrachten und ausgeglichen zu gewichten.

Aus [der] Sicht der den Senat tragenden Fraktionen soll ein kooperativer Ansatz, wie Hamburg ihn mit dem Bündnis für das Wohnen gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft und unter partnerschaftlicher Beteiligung der Mietervereine verfolgt, fortgeführt und gilt es auch, alle gesetzlichen Möglichkeiten in Hamburg zu nutzen, die sich Hamburg durch das neue Baulandmobilisierungsgesetz bieten.

Darüber hinaus ist in den Verhandlungen mit den Volksinitiativen das gemeinsame Anliegen von Initiatoren und Stadt deutlich geworden, die Schaffung und Erhaltung bezahlbaren Wohnraums als wichtiges Ziel staatlichen Handelns zu begreifen. Dieses Anliegen soll als Staatszielbestimmung zukünftig Verfassungsrang haben. Staatszielbestimmungen sind als „Programmsätze“ oder „Leitlinien“ zu verstehen. Sie sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben – sachlich umschriebener Ziele – vorschreiben.“

Im einzelnen begründeten die Fraktionen ihren Antrag dann so:

Zu Art. 76 Abs. 6:

„Entsprechend der Zielsetzung von Ersuchen und Verständigung soll der haushaltsrechtliche Rahmen für öffentliche Grundstücksverk.ufe deutlich enger gezogen und mit Verfassungsrang belegt werden.

Für den Wohnungsbau bestimmt sind hiernach Flächen, für die durch Bebauungsplan eine Wohnnutzung festgesetzt ist, das heißt

  • Grundstücke in Reinen, Allgemeinen und Besonderen Wohngebieten (§§ 3, 4 und 4a BauNVO) sowie Dorfgebieten und dörflichen Wohngebieten (§§ 5 und 5a BauNVO), 
  • Grundstücke in Wohngebieten von Baustufenplänen nach § 10 Baupolizeiverordnung (BPVO),
  • Grundstücke im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB), auf denen Wohnungsbau zulässig ist, 
  • bereits für den Wohnungsbau ausgeschriebene Grundstücke, bei denen das Planänderungsverfahren bereits angelaufen ist. 

Grundstücke in Mischgebieten und Urbanen Gebieten (§§ 6 und 6a BauNVO) sowie Mischgebieten in Baustufenplänen nach § 10 BPVO sind nur dann „für den Wohnungsbau bestimmt“, wenn durch weitere Festsetzungen des Bebauungsplans für das betreffende Grundstück andere als Wohnnutzungen weitgehend ausgeschlossen sind.

In die nach dem Verfassungsänderungsverfahren zu beschließende Änderung von § 64 LHO sollen Ausnahmetatbestände aufgenommen werden, in denen die Übertragung von Eigentum an für den Wohnungsbau bestimmten Grundstücken abweichend von Artikel 72 Absatz 6 HV weiterhin möglich ist. Damit sollen insbesondere folgende Fallgestaltungen erfasst werden:

1. Verkauf von Funktions- und Arrondierungsflächen sowie außerhamburgischen Immobilien (öffentliches Interesse: Förderung des Wohnungsbaus auf privaten Grundstücken, Vermeidung unwirtschaftlicher Unterhaltungs- und Sicherungspflichten)

  • Arrondierungsflächen (Flächen, die den Wohnungsbau auf angrenzenden privaten Flächen ermöglichen oder eine Intensivierung des Wohnungsbaus auf benachbarten privaten Flächen möglich machen; städtische Flächen, die nur zusammen mit einem angrenzenden privaten Grundstück in städtebaulich sinnvoller Weise bebaut werden können);
  • Funktionsflächen, die im Ausnahmefall für private Bauvorhaben benötigt werden (Entwässerungsflächen, Privatstraßen, private Grünfl.chen);
  • Vorgartenflächen und sonstige Restflächen, die im Eigentum der Stadt städtebaulich funktionslos sind;
  • Einzelflächen in dezentraler Lage ohne weitere angrenzende FHH-Grundstücke;
  • außerhamburgische Immobilien.

2. Verkauf von Teileigentum und Wohnungseigentum (öffentliches Interesse: Vermeidung unwirtschaftlicher Verwaltungskosten ohne wesentlichen Einfluss auf die Grundstücksnutzung)

  • Im Rahmen von Fiskuserbschaften erworbene Grundstücksanteile (zum Beispiel städtische Erbanteile, Wohnungen, Anteile aus Erbengemeinschaften et cetera);
  • sonstige Miteigentumsanteile der FHH.

3. Verkauf im Rahmen von Grundstückstausch (öffentliches Interesse: Erwerb gleichwertiger, aber für Ziele der FHH besser geeigneter Grundstücke)

  • Grundstücke, die bei Enteignung als Ersatz beschafft wurden (Veräußerung im Wege des Tausches);
  • sonstige Grundstückstauschvertr.ge, bei denen zum Beispiel die FHH ein für den Wohnungsbau bestimmtes Grundstück erhält.

4. Verkauf im Rahmen von bundesrechtlichen Verpflichtungen und Infrastrukturmaßnahmen

  • Flächen, für die eine Veräußerungspflicht nach Bundesrecht besteht;
  • Flächen, welche für Infrastrukturmaßnahmen (zum Beispiel des Bundes) benötigt werden.

5. Verkauf an landeseigene Gesellschaften und Stadtentwicklung (Öffentliches Interesse: Förderung öffentlichen Wohnungsbaus, Entwicklung stabiler Nachbarschaften)

  • Eigentumsübertragung an Unternehmen, die überwiegend (direkt oder indirekt) im Eigentum der FHH stehen, wenn in geeigneter Weise sichergestellt ist, dass diese ihrerseits die Grundstücke nicht an Dritte (mit Ausnahme anderer städtischer Gesellschaften) verkaufen. Die SAGA als Marktteilnehmerin kann vorbehaltlich der Regelung in Ziffer 6 Grundstücke nur im Erbbaurecht erhalten. Ausnahmen sind möglich für Grundstücke, die für den Wohnungsbau im Erbbaurecht nicht oder nur unwirtschaftlich vermarktbar sind, insbesondere in städtischen Randlagen oder bei Stadtentwicklungsgesellschaften, zu deren von der Bürgerschaft legitimiertem Geschäftszweck gehört, Grundstücke zu veräußern, um damit Quartiere zu entwickeln und Erschließung zu sichern, zum Beispiel IBA, HCH und dergleichen. Im Fall der Stadtentwicklungsgesellschaften bleibt die Entscheidung der Bürgerschaft vorbehalten;
  • Weiterveräußerung von Teilflächen zur Sicherung der Rentabilität im sozialen Wohnungsbau;

6. Generalklausel

  • Sofern die für die Bestellung von Erbbaurechten erforderliche Einzelfallprüfung ergibt, dass stadtentwicklungs-, wohnungsbaupolitische oder gesamtstädtische Interessen an einer Eigentumsübertragung ausnahmsweise das Interesse an einer Erbbaurechtsbestellung überwiegen; in diesem Fall bleibt die Entscheidung der Bürgerschaft vorbehalten.

7. Übergangsregelung

  • Es ist eine geeignete Übergangsregelung vorzusehen, wonach Verkäufe in Altfällen (zum Beispiel Verkauf war Gegenstand einer Ausschreibung beziehungsweise war als Direktvergabe bereits in der Vergangenheit zugesagt) weiterhin befristet möglich sind;
  • In Artikel 72 Absatz 6 HV n.F. ist ferner die Möglichkeit enthalten, dass die Bürgerschaft eine Übereignung zulässt, wenn kein verfassungsrechtlich beziehungsweise gesetzlich vorgesehener Ausnahmetatbestand greift (so wie in § 63 Absatz 3 LHO).

Mit diesem Vorschlag wird insgesamt klargestellt, dass in den vorgesehenen Ausnahmefällen die KfB (außer in Ziffer 5 Punkt 1 am Ende und Ziffer 6) entscheiden kann, diese Veräußerungen also zum regelmäßigen Gang der Verwaltung im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Gesetz über die Kommission für Bodenordnung gehören.

Da der Grundsatz von Gebot und Verbot im Hinblick auf Wohnungsbaugrundstücke zukünftig Verfassungsrang und der Ausnahmerahmen Gesetzesrang erhält, wacht die Hamburgische Bürgerschaft zukünftig hier über das Regel-Ausnahme-Verhältnis.“

Zu Art. 73a:

„Wohnen ist ein menschliches Grundbedürfnis, das als Voraussetzung für die Ausübung und den Zugang zu Grundrechten und für ein menschenwürdiges Leben angesehen werden muss. Aus diesem Grund erklärt Artikel 73a HV n.F. die Förderung und Unterstützung der Schaffung, der Erhaltung und der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum zu angemessenen Bedingungen als neue Staatszielbestimmung der Freien und Hansestadt Hamburg.“

Das anschließende Verfahren und den schließlichen Änderungsvorschlag dokumentiert der Bericht des Verfassungs- und Bezirksausschusses vom 14. März 2023 (Drs. 22/11275) ausführlich und informativ. 

7. Hessen

2015/2018: "Verfassungskonvent" für die Modernisierung der Landesverfassung

CDU und Bündnis 90/die Grünen vereinbarten im Koalitionsvertrag (S. 39) Ende 2013 für die Legislaturperiode 2014-2019 eine Änderung der Landesverfassung:

"Die Hessische Verfassung stammt aus dem Jahre 1946 und ist älter als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die hessischen Verfassungsväter haben ein Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkriegs eine historische Leistung vollbracht und als erste einem deutschen Bundesland eine demokratische Grundordnung gegeben. Seit ihrer Verkündung vor mehr als sechzig Jahren ist die Hessische Verfassung nur wenige Male verändert worden. Sie enthält weiterhin Regelungen, die aus unterschiedlichen Gründen überholt sind.Im Rahmen eines Verfassungskonvents wollen wir, aufbauend auf den Ergebnissen der „Enquetekommission zur Verfassungsreform 2005“, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern in Hessen in einen Dialog über eine moderne Verfassung für das Land Hessen eintreten. Wir streben im Rahmen des Verfassungskonventes an, eine zeitgemäße Verfassung auf breitem Konsens zu erarbeiten, die die Tradition der Hessischen Verfassung bewahrt.

Unabhängig von dem Ergebnis des Verfassungskonvents werden wir der hessischen Bevölkerung folgende, die Verfassung ändernde Regelungen noch in dieser Legislaturperiode zur Abstimmung vorlegen:

1. Verankerung des Staatsziels Ehrenamt

2. Abschaffung der Todesstrafe

3. Erleichterungen bei den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Volksbegehren und Volksentscheiden

4. Herabsetzung des passiven Wahlalters."

Die Regierungsfraktionen konnten die SPD und die FDP zwei Jahre später für die Einsetzung einer Enquête-Kommission "Verfassungskonvent für die Änderung der Verfassung des Landes Hessen" gewinnen. Die vier Fraktionen waren offenbar gewillt, das ein Jahrzehnt zurückliegende Debakel eines Reformversuchs vergessen zu machen. Im Einsetzungsantrag vom 10. November 2015 (LT-Drs. 19/2566) heißt es:

" Nach § 55 der Geschäftsordnung des Hessischen Landtags (GOHLT) wird eine Enquetekommission [Schreibweise des Originals] 'Verfassungskonvent zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen' eingesetzt. Die Enquetekommission besteht aus 15 Mitgliedern und 15 ständigen Ersatzmitgliedern, die dem Landtag angehören. Die Fraktion der CDU stellt 6 Mitglieder, die Fraktion der SPD stellt 5 Mitglieder, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt 2 Mitglieder, die Fraktion der FDP stellt 1 Mitglied und die Fraktion der LINKEN stellt 1 Mitglied. Jede Fraktion kann darüber hinaus eine unabhängige Sachverständige oder einen unabhängigen Sachverständigen berufen, die oder der mit beratender Stimme der Enquetekommission angehört. Die Landesregierung entsen-det ebenfalls eine Vertreterin oder einen Vertreter, die oder der mit beratender Stimme der Enquetekommission angehört. 

Die Enquetekommission ... erhält den Auftrag, die Hessische Verfassung in ihrer Gesamtheit zu überarbeiten und Vorschläge für ihre zukunftsfähige Gestaltung zu unterbreiten. Sie bildet organisatorisch, sprachlich und dem Geiste nach den Rahmen für die angestrebte Verfassungsänderung. Sie soll auf dem Bericht der Verfassungsenquete von 2005 aufbauen, aber nicht auf die dortigen Vorschläge fest-gelegt oder beschränkt sein. 

Die Enquetekommission ... soll sich unter anderem auch mit der Ausgestaltung folgender Themenstellungen beschlussfassend auseinandersetzen:

- Stärkung der Anerkennung des Ehrenamts, 

- Abschaffung der Todesstrafe, 

- Überprüfung der Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Volksbegehren und Volksentscheiden, 

- Überprüfung der Regelung zum passiven Wahlalter." 

Die Einsetzung erfolgte gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke am 17. Dezember 2015 (LT-PlPr. 19/62).

Die Kommission konstituierte sich am 16. März 2016 und tagte bis zum 27. November 2017 in insgesamt 19 Sitzungen einschließlich dreier öffentlichen Anhörungen (15. bis 17. Februar 2017) und dreier Bürgerforen (13., 19. und 20. Juni 2017), auf denen sie die Bevölkerung informierte und ihr Gelegenheit zu Anregungen gab. 

Alle Unterlagen finden Sie auf der website des Hessischen Landtages (https://hessischer-landtag.de/content/aktueller-beratungsstand). 

Die Arbeit der Kommission mündete in 15 Verfassungsänderungsentwürfe der Fraktion der CDU, der SPD, von Bündnis 90/DIE GRÜNEN und der FDP vom 5. Dezember 2017 (LT-Drs. 19/5709-5723):

    1. 19/5723  Gesetz zur Änderung des Artikel 144 der Verfassung des Landes Hessen (Stärkung der Unabhängigkeit des Rechnungshofs)
    2. 19/5722 Gesetz zur Änderung des Artikel 124 der Verfassung des Landes Hessen (Stärkung der Volksgesetzgebung)
    3. 19/5721 Gesetz zur Änderung des Artikel 120 und zur Ánderung des Artikel 121 der Verfassung des Landes Hessen (Elektronische Verkündung van Gesetzen)
    4. 19/5720 Gesetz zur Ánderung des Artikel 75 der Verfassung des Landes Hessen (Herabsetzung des Wählbarkeitsalters)
    5. 19/5719 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Artikel 64 der Verfassung des Landes Hessen (Bekenntnis zur Europäischen lntegration)
    6. 19/5718 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 26g Staatsziel zum Schutz und zur Förderung des Sports)
    7. 19/5717 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 26f Staatsziel zum Schutz und zur Förderung des Ehrenamtes)
    8. 19/5716 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 26e Staatsziel zum Schutz und zur Förderung der Kultur)
    9. 19/5715 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 26d Staatsziel zur Förderung der lnfrastruktur)
    10. 19/5714 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 26c Staatsziel zur stärkeren Berücksichtigung der Nachhaltigkeit)
    11. 19/5713 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 26a Aufnahme eines Staatszielbegriffs)
    12. 19/5712 Gesetz zur Änderung der Artikel 21 und 109 der Verfassung des Landes Hessen (Aufhebung der Regelungen zur Todesstrafe) 
    13. 19/5711 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen (Artikel 12a Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Schutz informationstechnischer Systeme)
    14. 19/5710 Gesetz zur Ergänzung des Artikel 4 der Verfassung des Landes Hessen (Stärkung der Kinderrechte)
    15. 19/5709 Gesetz zur Ergänzung des Artikel 1 der Verfassung des Landes Hessen (Stärkung und Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern)

Überraschenderweise waren die durch das Grundgesetz überholten Zuständigkeiten des Hessischen Staatsgerichtshofs für Richteranklagen  (Art. 127 IV LVerf.. Aus dem Gesetz über den Staatsgerichtshof bereits 1994 getilgt und vom Staatsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung [HessStGH, Beschluß vom 9. Dezember 1992, P.St. 1140, HessStAnz. 1993, 178; Beschluß vom 9. Juli 1997, P.St. 1204, HessStAnz. 1997, 2298] als überholt angesehen), für Verfassungsbrüche (Art. 147 II LVerf.) und vielleicht auch für Grundrechtsaberkennungen (Art. 146 II LVerf.) nicht Gegenstand der Reformüberlegungen, obwohl eine Klarstellung geboten gewesen wäre und Meinungsverschiedenheiten darüber fern gelegen hätten. Eine rationale Erklärung für dieses Versäumnis sehe ich nicht.

Die 15 Entwürfe wurden am 15. Dezember 2017 vom Plenum in erster Lesung beraten und an den Hauptausschuß überwiesen (LT-PlPr. 19/125, S. 8880-8894). Die im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen nach dem Stand vom 19. und 26. Februar 2018 finden Sie hier.  Am 25. April 2018 fand die zweite Lesung statt (PlPr. 19/136). Unter dem 8. Mai 2018 wurde der umfangreiche Abschlußbericht des Verfassungskonvents vom 28. April 2018 als LT-Drs. 19/6376 dem Landtag übergeben. Am 24. Mai 2018 fand die dritte Lesung statt (PlPr. 19/140).  

Am Tag der Wahl des 20. Landtages (28. Oktober 2018)  wurden die 15 Änderungsbeschlüsse durch 15 separate Volksentscheide mit variierenden, aber stets großen Mehrheiten angenommen (https://statistik-hessen.de/v_2018/html/landesergebnis-volksabstimmungen/Land/). Die Verfassungsänderungen wurden nach ihrer Ausfertigung am 11. und 12. Dezember 2018 am 21. Dezember 2018 im GVBl. Nr. 28 (S. 737) verkündet. Sie traten am 22. Dezember 2018 in Kraft.

8. Mecklenburg-Vorpommern

a) 2016: Wahltag, Europäische Angelegenheiten und Volksgesetzgebung 

Unter dem 13. Januar 2016 brachten die Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Entwurf einer Änderung der Verfassung ein (LT-Drs. 6/5076) ein, der mehrere Themen anspricht. In den Worten des Entwurfs (S. 1-3):

"A Problem und Ziel

Mit dem Artikelgesetz werden unterschiedliche Ziele verfolgt. 

Artikel 27 Absatz 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern bestimmt die Dauer der Wahlperiode sowie deren Ende und enthält eine Regelung zur Neuwahl des Land-tages. Nach Absatz 1 Satz 2 findet die Neuwahl frühestens siebenundfünfzig und spätestens neunundfünfzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Die Wahl zum Landtag der 7. Wahlperiode findet voraussichtlich am 4. September 2016 statt, dem Sonntag nach dem Ende der Sommerferien. Ohne Veränderung des Zeitrahmens für die Neuwahl könnte der Termin der Landtagswahlen perspektivisch in die Sommerferien fallen. Dies könnte Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung haben. Vor diesem Hintergrund wird angestrebt, die Rahmenbedingungen für die Wahlbeteiligung zu verbessern. 

Angelegenheiten der Europäischen Union sind zunehmend von Bedeutung für die Arbeit des Landtages. In Europafragen, insbesondere hinsichtlich der Abgabe von Stellungnahmen im Subsidiaritätsfrühwarnsystem, muss der Landtag zur effektiven Wahrnehmung seiner Interessen innerhalb bestimmter Frist reagieren können. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Fristen zu kurz sind, um auf der Grundlage eines Auftrages des Plenums eine Beschluss-empfehlung fristgerecht vorzulegen und somit um eine Positionierung zu EU-Rechts-setzungsvorhaben im üblichen parlamentarischen Verfahren vorzunehmen. Aus diesem Grund sind die rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen.

Nach Artikel 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern geht die Staatsgewalt vom Volke aus und wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Dieser Grundsatz wird in der Verfassung konkretisiert. Sie enthält seit ihrem Inkrafttreten am 15. November 1994 die plebiszitären Elemente der Volksinitiative in Artikel 59 sowie des Volksbegehrens und des Volksentscheids in Artikel 60. Insbesondere das Instrument der Volksinitiative wird vielfach genutzt. Demgegenüber ist - abgesehen von der Abstimmung über die Verfassung des Landes - lediglich ein Volksbegehren zustande gekommen. In den übrigen Fällen ist das für ein Volksbegehren vorgesehene Quorum von 120.000 Wahl-berechtigten nicht erreicht worden. Der einzige Volksentscheid, der neben der Abstimmung über die Verfassung des Landes durchgeführt worden ist, hat das erforderliche Quorum nach Artikel 60 Absatz 4 Satz 1 nicht erreicht. Zur Stärkung der Volksgesetzgebung sollen die Quoren für das Volksbegehren und den Volksentscheid abgesenkt und damit auch an die demografische Entwicklung des Landes - den Rückgang der Zahl der Wahlberechtigten - angepasst werden. 

Das Gesetz zur Ausführung von Initiativen aus dem Volk, Volksbegehren und Volksentscheid in Mecklenburg-Vorpommern (Volksabstimmungsgesetz) sieht nur für die Sammlung der Unterschriften durch Auslegung von Eintragungslisten bei den Gemeindebehörden eine Frist vor, für die freie Unterschriftensammlung hingegen nicht. Es soll deshalb ergänzt werden. 

B Lösung 

Die Rahmenbedingungen für die Wahlbeteiligung werden durch eine Entzerrung von Sommerferien und Landtagswahl verbessert. Um zukünftig zu vermeiden, dass der Termin der Neuwahl mit den Sommerferien zusammenfällt, wird der Zeitrahmen für die Wahlperiode um zwei Monate verlängert. In diesem Zusammenhang wird auch der Beginn der Wahl-periode festgelegt, der bisher nur durch Auslegung ermittelt werden konnte. § 56 des Gesetzes über die Wahlen im Land Mecklenburg-Vorpommern (Landes- und Kommunalwahlgesetz - LKWG M-V) ist entsprechend anzupassen, damit der bisherige Zeitrahmen für die Durch-führungen der Wahlen der Wahlkreis- und Landeslistenbewerber beibehalten wird. 

Mit der Verankerung eines Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union auf der Ebene der Verfassung wird der gewachsenen Bedeutung dieser Angelegenheiten für die Arbeit des Landtages Mecklenburg-Vorpommern Rechnung getragen und die Grundlage für eine Anpassung des rechtlichen Instrumentariums des Landtages in Angelegenheiten der Europäischen Union gelegt. Damit der Landtag in EU-Angelegenheiten seine Interessen effektiv wahrnehmen kann, wird das parlamentarische Verfahren in Bezug auf EU-Angelegenheiten verkürzt und der für Europafragen zuständige Ausschuss mit einem Initiativrecht ausgestattet. Zugleich wird dem Landtag ermöglicht, den in Angelegenheiten der Europäischen Union zuständigen Ausschuss in seiner Geschäftsordnung zu plenarerset-zenden Beschlüssen zu ermächtigen. Gemäß der vorgeschlagenen Vorschrift wird dem Landtag die Möglichkeit eingeräumt, im Nachhinein den Beschluss des Europaausschusses aufzuheben.

Um Volksbegehren und Volksabstimmungen zu erleichtern, werden die Quoren an die demografische Entwicklung angepasst. In Artikel 60 Absatz 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern wird die erforderliche Anzahl der Unterstützer eines Volks-begehrens von bislang 120.000 auf 100.000 Wahlberechtigte abgesenkt. Außerdem wird das Zustimmungsquorum nach Artikel 60 Absatz 4 von einem Drittel auf ein Viertel abgesenkt. Zugleich stellt Artikel 60 Absatz 5 sicher, dass die Unterschriften nach Absatz 1 innerhalb eines im Volksabstimmungsgesetz näher festzulegenden Zeitraums gesammelt werden müssen. 

Für die freie Unterschriftensammlung wird im Volksabstimmungsgesetz ein Zeitraum von fünf Monaten festgelegt. Um die Einhaltung dieses Zeitraums überprüfen zu können, ist der Beginn des Sammelns schriftlich bei dem Präsidenten des Landtages anzuzeigen und an den Landeswahlleiter weiterzuleiten, der gemäß § 14 Volksabstimmungsgesetz den Zulassungs-antrag im weiteren Verfahren nach Abschluss der Unterschriftensammlung und damit die Einhaltung der Fristen prüft. Des Weiteren wird ein Zeitrahmen zwischen dem Beginn der Unterschriftensammlung und dem Eingang des Antrags auf Zulassung beim Landtag vorge-sehen, um einem nachträglichen Auseinanderfallen zwischen dem ursprünglichen Unterstüt-zungswillen bei Unterschriftsleistung und einer späteren Änderung zu begegnen. Dieser Zeit-rahmen ist mit sechs Monaten einen Monat länger als der Zeitraum, der für die Unter-schriftensammlung bereitsteht. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der Antrag auch zum Zeitpunkt des Eingangs beim Landtag noch durch die Mehrheit der Unterstützer getragen wird. 

Die übrigen Änderungen des Volksabstimmungsgesetzes stellen redaktionelle Anpassungen an die Absenkung der Quoren in der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern dar."

Die erste Lesung fand am 27. Januar 2016 statt (LT-PlPr. 6/111, S. 34-42). Der Europa- und Rechtsausschuß, an den die Vorlage überwiesen wurde, hat am 24. Februar 2016 beraten (APr. 6/104) und eine Anhörung am 2. März 2016 (APr. 6/105) durchgeführt. Dazu führt der Ausschuß auf der website des Landtages (vgl. die Adresse unten) am 2. März aus:

"Öffentliche Anhörung zur geplanten Verfassungsänderung im Europa- und Rechtsausschuss

Wahltag, Europäische Angelegenheiten und Volksgesetzgebung

Der Europa- und Rechtsausschuss hat in seiner 105. Sitzung am 2. März eine öffentliche Anhörung zum Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern und weiterer Rechtsvorschriften (Drucksache 6/5076) durchgeführt. In diesem Zusammenhang wurde auch über einen Antrag der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwurf zur Änderung der Geschäftsordnung des Landes Mecklenburg-Vorpommern der 6. Wahlperiode (Drucksache 6/5077) beraten.

Inhaltlich geht es in den Entwürfen unter anderem um die Absenkung der Quoren für Volksbegehren und Volksentscheide, um die verfassungsrechtliche Verankerung eines Ausschusses für Europäische Angelegenheiten und um die Festlegung des Wahltages für die Landtagswahlen.

Als anzuhörende Sachverständige haben ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Rostock, die stellvertretende Landeswahlleiterin Mecklenburg-Vorpommerns, der Mitherausgeber einer rechtswissenschaftlichen Kommentierung der Verfassung des Landes, eine Vertreterin der nordrhein-westfälischen Landtagsverwaltung, Vertreter von Mehr Demokratie e. V. sowie ein Vertreter der kommunalen Spitzenverbände teilgenommen. Daneben haben Rechtswissenschaftler der Universitäten Rostock und Greifswald schriftliche Stellungnahmen erarbeitet.

Grundsätzliche Festlegung des Wahltermins

Mit dem Gesetzentwurf wird beabsichtigt, den Zeitrahmen für die Wahlperiode um zwei Monate zu verlängern, um so den Wahltermin zukünftig flexibler festlegen zu können. Dies hat eine Entzerrung von Landtagswahl und Sommerferien zur Folge, was von den Sachverständigen vielfach begrüßt wurde. Diese Regelung vermeide Engpässe bei der Gewinnung ehrenamtlicher Wahlhelfer und könne auch Kollisionen mit anderweitigen Nutzungen der Wahlräume – häufig Schulgebäude, die für Einschulungsfeiern genutzt würden – verhindern helfen. Auch könne ein Wahltermin außerhalb der Sommerferien einer höheren Wahlbeteiligung zuträglich sein.

Schnelle Reaktionsmöglichkeiten in europäischen Angelegenheiten

Die verfassungsrechtliche und geschäftsordnungsmäßige Verankerung eines Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, der in Fällen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems das Recht bekommen soll, plenarersetzende Beschlüs­se zu fassen, wurde positiv bewertet. Die geltende Frist von acht Wochen zur Abgabe einer begründeten Stellungnahme in Subsidiaritätsangelegenheiten könne bei Durchlaufen des regulären parlamentarischen Verfahrens oft nicht eingehalten werden. Daher bedürfe es eines „beschleunigten Verfahrens“. Gegebenenfalls müsse eine ergänzende Regelung geschaffen werden, wonach entsprechende Ausschusssitzungen öffentlich stattzufinden hätten. Insgesamt wurde die Wichtigkeit der Beteiligung des Landtages in europäischen Fragen hervorgehoben.

Reform des Volksabstimmungsrechts

Im Hinblick auf die geplante Reform des Volksabstimmungsrechts gab es bei den Sachverständigen unterschiedliche Auffassungen. Zum Teil wurden die geplanten Änderungen ausdrücklich begrüßt. Die geplante Absenkung des Zulassungsquorums von 120.000 auf 100.000 Unterstützer gehe – so allerdings einige Stimmen – nicht weit genug. Sie stelle lediglich eine Anpassung an den Bevölkerungsrück­gang dar. Gegebenenfalls müsse eine prozentuale Hürde geschaffen werden, die beispielsweise bei fünf Prozent liegen könne. Die Absenkung des Zustimmungs­quorums sehen einige Sachverständigen ebenfalls als problematisch an. Hervorgehoben wurde auch, dass im Hinblick auf aktuell in Vorbereitung befindlicher Volksentscheide eine Übergangsregelung sinnvoll sei.

Die Anhörung im Europa- und Rechtsausschuss zu dem Gesetzentwurf und dem Geschäftsordnungsantrag dient der Vorbereitung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für den Landtag. Beabsichtigt ist, die Verfassungsänderung im Frühsommer im Landtag zur Abstimmung [Hervorhebung nicht im Original] zu stellen.”

Zu den schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen gelangen Sie über diese Adresse: https://www.landtag-mv.de/landtag/gremien/ausschuesse/europa-und-rechtsausschuss/oeffentliche-anhoerungen.html.

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses datieren vom 27. Mai 2016 (LT-Drs. 6/5462). Das Plenum nahm die Vorlage in zweiter Lesung am 8. Juni 2016 an (LT-PlPr. 6/120). Die Änderung wurde am 14. Juli ausgefertigt und am 29. Juli verkündet (GVOBl. S. 573). Sie trat am 30. Juli in Kraft.

Die Gleichzeitigkeit der Verkündung und des Inkrafttretens (vgl. Art. 4) der Verfassungsänderungen (Art. 1) und der auf sie gestützten Gesetzesänderungen (Art. 2 und 3) ist verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Die zur Gesetzesänderuzng ermächtigende Verfassungsbestimmung muß spätestens vor der Verkündung der auf ihr beruhenden Gesetzesänderungen in Kraft sein. Daß auch andere Länder dies nicht beachten (vgl. z.B. oben Nr. 5 b] und 6 f], unten Nrn. 10 b] und 12 a], anfangs auch Nr. 15 d]), ändert daran nichts.

b) 2021: Übertragbarkeit (und Pfändbarkeit) eines Viertels der Abgeordnetendiäten

Wie sonst nur Art. 17 Abs. 3 Satz 2 LVerf. Schleswig-Holstein schloß Mecklenburg-Vorpommern (Art. 22 Abs. 3 Satz 2 LVerf.) bisher die Übertragbarkeit des Diätenanspruchs der Abgeordneten (und damit, dem Grundsatz des § 851 ZPO folgend, seine Pfändbarkeit) in der Landesverfassung aus. Das Grundgesetz und die anderen 14 Landesverfassungen thematisieren dieses Detail nicht. 11 Abgeordnetengesetze sehen die hälftige Übertragbarkeit vor, Hamburg schließt die Übertragbarkeit aus, Nordrhein-Westfalen erlaubt sie zu einem Viertel, Bremen grundsätzlich nicht, Hamburg gar nicht. 

Der Änderungsentwurf von vier Landtags-Fraktionen vom 22. Oktober 2021 (LT-Drs. 8/10) schlug nun vor, ein Viertel des Diätenanspruchs für übertragbar zu erklären (wie einfachgesetzlich Nordrhein-Westfalen). Die bisherige Regelung sei nicht mehr "zeitgemäß". Die großmütige Opferbereitschaft (die durch die gleichzeitige beträchtliche Anhebung der diversen Abgeordnetenbezüge erleichtert wurde) fand am 15. Dezember 2021 (LT-PlPr. 8/4, S. 50-51) die notwendige Mehrheit - gegen die Stimmen der AfD-Fraktion. Das Gesetz vom 21. Dezember 2021 finden Sie in GVOBl. 2021, S. 1806.

 9. Niedersachsen

a) 2019: "Schuldenbremse"

Unter dem 19. März 2019 brachte die Landesregierung den Entwurf eines (Artikel-)Gesetzes über die Schuldenbremse in Niedersachsen ein (LT-Drs. 18/3258). Im Zentrum standen (Art. 1 des Entwurfs) verfassungsrechtlich die Änderung des Art. 71 (Kreditaufnahme, Gewährleistungen), eine Übergangsregelung durch den neuen Art. 77a und eine Ergänzung des Art. 58 (Finanzwirtschaft der Gemeinden und Landkreise). Auf Empfehlung des LT-Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen (LT-Drs. 18/4850 vom 16. Oktober 2019, S. 2-3; Begründung: LT-Drs. 18/4899 vom 22. Oktober 2019, S. 2-4) wurden aus der Überschrift des Art. 71 (nicht aber aus dem Titel des Gesetzes) das neue Wort "Schuldenbremse" als untechnisch und mißverständlich wieder gestrichen, die Absätze 3 und 4 des vorgeschlagenen Art. 71 modifiziert und nach kontroverser Debatte die von der Landesregierung vorgeschlagene Ergänzung des Art. 58 gestrichen. In dieser Fassung wurde das Gesetz am 23. Oktober 2019 in zweiter Beratung (PlPr. 18/58) beschlossen, am selben Tag ausgefertigt und am 1. November 2019 verlündet (GVBl. S. 288). Es trat nach seinem Art. 3 am 1. Dezember 2019 in Kraft. Seitdem lautet Art. 71 nicht mehr

"Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Haushaltsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Gesetz. Kredite dürfen die für eigenfinanzierte Investitionen, Investitionsfördermaßnahmen und zur Umschuldung veranschlagten Ausgaben nicht überschreiten. Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zur Abwehr einer akuten Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen."

sondern

"(1) Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Haushaltsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Gesetz.

(2) Der Haushalt ist ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.

(3) 1Bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sind die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen. 2Soweit sich eine solche Entwicklung negativ auf den Haushalt auswirkt, ist der Ausgleich des Haushalts durch Einnahmen aus Krediten abweichend von Absatz 2 zulässig. 3Soweit sich eine solche Entwicklung positiv auf den Haushalt auswirkt, sind vorrangig nach Satz 2 aufgenommene Kredite zu tilgen und ist im Übrigen Vorsorge dafür zu treffen, dass keine Kredite nach Satz 2 aufgenommen werden müssen.

(4) 1Im Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, kann abweichend von Absatz 2 aufgrund eines Beschlusses des Landtages der Haushalt durch Einnahmen aus Krediten ausgeglichen werden. 2Der Beschluss bedarf für die Aufnahme von Krediten in Höhe von über 0,5 vom Hundert des zuletzt festgestellten Haushaltsvolumens der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages, im Übrigen der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Landtages. 3Nach Satz 1 aufgenommene Kredite müssen binnen eines angemessenen Zeitraums getilgt werden. 4Der Beschluss des Landtages (Sätze 1 und 2) ist mit einem entsprechenden Tilgungsplan zu verbinden.

(5) Das Nähere regelt ein Gesetz.“

Die Gründe der Reform hatte die Landesregierung so formuliert (LT-Drs. 18/3258, S. 6 und 7):

"Während die Neuregelung für den Bund schon ab dem Haushaltsjahr 2011 galt, war es für die Län-der ohne eine Übergangszeit nicht möglich, die neuen Vorgaben des Artikels 109 Abs. 3 Satz 1 GG einzuhalten. Deshalb ermöglicht Artikel 143 d Abs. 1 Sätze 3 und 4 GG den Ländern, im Zeitraum bis zum 31. Dezember 2019 nach Maßgabe der geltenden landesrechtlichen Regelungen von den neuen Vorgaben abzuweichen. Die Länder haben ihre Haushalte in der Übergangszeit dabei so aufzustellen, dass im Haushaltsjahr 2020 die Vorgabe aus Artikel 109 Abs. 3 Satz 5 GG erfüllt wird. Der niedersächsische Landeshaushalt wird seit dem Haushaltsjahr 2017 ohne Nettokreditermächtigungen aufgestellt. 

Der vorliegende Gesetzentwurf verankert ein eigenständiges Neuverschuldungsverbot in der Niedersächsischen Verfassung und nutzt zugleich die vom Bundesrecht eröffneten Spielräume im Interesse der erforderlichen finanziellen Handlungsfähigkeit des Landes. Die vorgeschlagene Änderung der Niedersächsischen Verfassung beschränkt sich dem Charakter der Verfassung gemäß auf grundsätzliche Regelungen; die konkrete technische Ausgestaltung der neuen Schuldenregel bleibt der ausführenden Gesetzgebung vorbehalten. ...

Das Land hat seine Nettoneuverschuldung und sein Finanzierungsdefizit vor Ablauf der Übergangszeit und ohne Eingriffe zulasten der Kommunen auf Null zurückgeführt. Die Einhaltung der Schuldenbremse gebietet eine Finanzpolitik, die sich dauerhaft an strukturell ausgeglichenen Haushalten orientiert. Das Zusammenwirken der Schuldenbremse mit den sich insbesondere an einer vergleichenden Betrachtung der Finanzierungssalden orientierenden Maßstäben der Vertei-lungssymmetrie im Kommunalen Finanzausgleich führt zu einem effektiven Schutzmechanismus zugunsten der Kommunen. Dieser Schutzmechanismus wird noch dadurch unterstützt, dass Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie Ausnahmeregelungen für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, geschaffen werden. Den Landeshaushalt beeinflussende konjunkturelle Schwankungen auf der Einnahmeseite werden dadurch geglättet und ermöglichen eine stärkere Kontinuität auf der Ausgabeseite. ...

Die Entscheidung, ob die landesrechtliche Verankerung der Schuldenbremse in der Landesverfassung und/oder in einfachem Landesgesetz erfolgt, hat lediglich Einfluss auf die Normenhierarchie. Die Aufnahme in die Verfassung unterstreicht das Bekenntnis zum Verzicht auf Neuverschuldung und ermöglicht die Justiziabilität der Schuldenregel vor dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof. Die Entscheidung für ein Konjunkturbereinigungsverfahren ermöglicht in Abschwungphasen Ver-schuldung, der in Aufschwungphasen entsprechende rechtliche Verpflichtungen zum Abbau von bzw. Vorsorge gegen weitere Neuverschuldung gegenüberstehen. Die Feststellung der Konjunkturkomponente erfordert komplexe Schätzungen; hierfür existiert kein allgemeines ideales Modell für Bund und alle Länder. Die für Niedersachsen diesbezüglich getroffene Regelung ist in sich geschlossen und stimmig und beachtet dabei u. a. folgende Punkte: Verfassungsrechtliche Vorgabe der Symmetrie, Nachvollziehbarkeit und Transparenz, geringe Manipulationsanfälligkeit, Rücksicht auf die Besonderheit der Länder, Planungssicherheit, Kompatibilität zu anderen Regelsystemen sowie Anpassungsmöglichkeiten. 

In Bezug auf Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen haben Bund und Länder grundsätzlich vergleichbare Regelungen."

b) 2020: Klimaschutz

Unter dem 15. Oktober 2019 brachten die Fraktionen der SPD und der CDU den Entwurf eines Gesetzes "zur Förderung des Klimaschutzes und zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels (Niedersächsisches Klimagesetz - NKlimaG)" ein, dessen Art. 1 dem Ersten Abschnitt der Verfassung einen Art. 6c Klimaschutz und Klimanpassung ("In Verantwortung auch für die künftigen Generationen schützt das Land das Klima und mindert die Folgen des Klimawandels") anfügen sollte und dessen Art. 2 das neue (einfache) Niedersächsische Gesetz zur Förderung des Klimaschutzes und zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels (Niedersächsisches Klimagesetz - NKlimaG) enthielt. 

Der Sinn des Art. 6c NV ist nicht klar. Rechtsgrundlage für das Klimagesetz (Art. 2 der Änderung) kann er nicht sein, da er als solche nicht gleichzeitig mit Art. 2 hätte beschlossen, ausgefertigt und verkündet werden dürfen. Auch inhaltlich bietet Art. 2 der Änderung nichts, was nicht auch ohne Art. 1 beschlossen werden konnte. Angesichts der seit 1993 bestehenden Verpflichtung des Landes, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen (Art. 1 Abs. 2 NV; Ähnliches findet sich in allen anderen Bundesländern sowie im Bund) fehlt es dem Art. 6c auch an verfassungsrechtlichem Mehrwert.Vielleicht fiel es deswegen so leicht, sich auf ihn (anders als auch Einzelheiten des Art. 2) zu verständigen. Daß die Entwurfsbegründung nur Worthülsen anbietet (LT-Drs. 18/4839, S.8f.), überrascht nicht, und es wurde nicht besser, als die Landesregierung im Laufe der Beratungen nachschob, der Klimaschutz solle dadurch "für die Bewölkerung sichtbarer" gemacht werden (Zitat aus dem Bericht des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen, LT-Drs. 18/8144, S. 3). 

Der Ausschuß für Rechts- und Verfassungsfragen schlug eine Änderung des Titels des Artikelgesetzes vor. Sie ließ erstmals bereits in der Überschrift erkennen, daß es auch um eine Verfassungsänderung und um eine Minderung der Folgen des Klimawandels (nicht um eine beliebige Anpassung an sie, die ja auch in ganz andere Richtung gehen könnte gehen sollte. Zudem schlug er vor, Art. 6c einfach mit "Klima" zu überschreiben (LT-Drs. 18/8087 vom 2. Dezember 2020 [!], S. 2; Begründung im Bericht vom 8. Dezember 2020, LT-Drs. 18/8144, S. 2-4). Der Landtag beschloß Art. 1 mit den vorgeschlagenen Änderungen am 9. Dezember 2020. Das Gesetz wurde am 10. Dezember 2020 ausgefertigt und am 15. Dezember 2020 verkündet (GVBl. I S. 464); es trat am 16. Dezember 2020 in Kraft.

Knapp acht Monate nach Sachsen-Anhalt (vgl. unten 14 b) kann sich nun also auch Niedersachsen als ausdrücklicher Klimaschutz-Bekenner feiern lassen. Neun Monate zuvor hatte Hamburg gemeint, zwar nicht das Klima, aber die Erderwärmung in die Präabel aufnehmen zu sollen (vgl. oben 6 d).

c) 2023: Ermächtigung, Gesetze und Verordnungen elektronisch zu verkünden

Art. 1 des verfassungsändernden Gesetzes vom 8. November 2023 (GVBl. S. 258) ermächtigt den einfachen Gesetzgeber, die elektronische Ausfertigung von Gesetzen und Verordnungen und die elektronische Führung des Gesetz- und Verordnungsblattes vorzusehen. Art. 2 desselben Gesetzes macht von der Ermächtigung Gebrauch.

Die Gleichzeitigkeit der Ausfertigung, der Verkündung und des Inkrafttretens (zum 1. Januar 2024, Art. 4) verstößt gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Niedersachsen findet sich damit in der guten Gesellschaft 6 anderer Länder (Bremens, Hamburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und Nordrhein-Westfalens sowie des Saarlande)s.

10. Nordrhein-Westfalen

a) 2013/2016: Modernisierung des Staatsorganisationsrechts

Im Juli 2013 setzte der Landtag eine Kommission Verfassungsreform mit dem Auftrag ein, Vorschläge zur Modernisierung des Dritten Teils der Landesverfassung (Artt. 30-88: "Von den Organen und Aufgaben des Landes") zu erarbeiten (Interfraktioneller Einsetzungsantrag vom 17. Juli 2013, LT-Drs. 16/3428). Die Kommission gliederte ihr Thema in die vier Blöcke (1) Parlamentarismus und Landesregierung, (2) Partizipation, (3) Schuldenbremse und (4) Kommunen und Verfassungsgerichtshof (Arbeitsprogramm vom Februar 2014). Ausdrücklich war die Öffentlichkeit zu Kommentierungen und Anregungen, auch über das Internet, eingeladen. Den jeweils aktuellen Stand und alle Materialien konnten Sie der website der Kommission entnehmen: http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/Navigation_R2010/030-Parlament-und-Wahlen/015-Ausschuesse-und-Gremien/010-Verfassungskommission/Inhalt.jsp.

Unter dem 27. Juni 2016 hat die Kommission ihren Abschlußbericht vorgelegt (LT-Drs. 16/2400). Die Empfehlungen bleiben hinter den ambitionierten Anfangserwartungen zurück. In den diskreten Worten des Abschlußberichts: "Bei den im zweiten Abschnitt erörterten - politischen - Fragestellungen (Quoren, Wahlrecht, Direkte Demokratie, Schuldenbremse, Individualverfassungsbeschwerde) konnte keine Lösung zwischen den Fraktionen gefunden werden. Bis zum Schluss war umstritten, ob nach einer konsensual möglichen Herausnahme des Wahlalters aus der Verfassung bereits dem 16. oder erst dem 17. Landtag die Entscheidung über eine einfachgesetzliche Regelung überlassen wird."

Den vorformulierten Änderungsentwurf der Kommission haben die Fraktionen einen Tag später in den Landtag eingebracht (LT-Drs. 16/2350), der ihn in erster Lesung am 8. Juli an den Hauptausschuß (federführend) und den Rechtsausschuß überwiesen hat. Im Anschluß an deren Beratungen (vgl. Beschlußempfehlng und Bericht des Hauptausschusses vom 30. September 2016, LT-Drs. 16/13041) hat das Plenum am 5. Oktober das Gesetz in zweiter und dritter Lesung beschlossen (PlPr. 16/123). Es wurde am 25. Oktober 2016 ausgefertigt und am 4. November 2016 verkündet (GVBl. S. 860). Es trat im wesentlichen am 5. November 2016 in Kraft (Nrn. 16 b, c und 17 des Art. 1 treten am 1. Juli 2017 in Kraft).

Der mehrjährige intellektuelle, zeitliche, mediale und finanzielle Aufwand, der hier getrieben wurde, steht - so wird mancher außerparlamentarische Betrachter annehmen - in keinem rechten Verhältnis zum bescheidenen Ergebnis; Sorge um ihre künftigen WählerInnen trieb die Fraktionen jedenfalls nicht erkennbar um.     

b) 2015/16: Sperrklausel bei Kommunalwahlen

Die Fraktionen der SPD, der CDU und der GRÜNEN initiierten die Wiedereinführung einer Sperrklausel im Kommunalwahlrecht. Im Jahr 1999 hatte der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen die seinerzeit geltende 5%-Klausel im Kommunalwahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Der Gesetzentwurf vom 22. September 2015 sah vor, eine neue 2,5%-Klausel in Artikel 78 Abs.1 Sätze 2-4 LVerf. zu verankern und gleichzeitig im Kommunalwahlgesetz entsprechend umzusetzen, um "der zunehmenden Zersplitterung und damit einhergehenden Funktionsbeeinträchtigung der Kommunalvertretungen" entgegenzuwirken. Eine erste Lesung fand am 1. Oktober 2015. Das Plenum überwies die Vorlage zur weiteren Beratung an zwei Ausschüsse. Eine öffentliche Anhörung fand im Januar 2016 (APr 16/1139) statt. Der Hauptausschuß legte seine Beschlußempfehlung und seinen Bericht unter dem 2. Juni 2016 vor (LT-Drs. 16/12134). Das Plenum nahm die Vorlage in 2. Lesung am 9. Juni und 3. Lesung am 10. Juni 2016 an (LT-PlPr. 16/115 und 116). Das am 14. Juni 2016 ausgefertigte und am 30. Juni 2016 verkündete Gesetz finden Sie in GVBl. S. 442.

Verfassungswidrig bestimmt zudem Art. 3, daß das "Gesetz", also nicht nur die Verfassungsänderung (Art. 1), sondern auch die auf sie gestützte Gesetzesänderung (Art. 2), gleichzeitig verkündet werden und in Kraft treten. Richtigerweise hätte die Ermächtigung (Art. 78 Abs. 1  Sätze 2-4 LV) in Kraft sein müssen, ehe die Änderungen im Kommunalwahlgesetz  (ausgefertigt oder) verkündet wurden (vgl. BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Bremen (oben Nr. 5 b]), Hamburg (oben Nr. 6 f]), Mecklenburg-Vorpommern (oben Nr. 8) und das Saarland (unten Nr. 12 a]) begehen denselben Fehler. 

c) 2018/19: Verfassungsbeschwerden

Bereits das Verfassungsgerichtshofgesetz vom 4. März 1952 kannte - auf der Grundlage der Ermächtigung der damaligen Nr. 4 des Art 75 LVerf. - die Kommunalverfassungsbeschwerde. Die Individualverfassungsbeschwerde führte dagegen erst das Gesetz  vom 21. Juli 2018 (GV. NRW. S. 400)  mit Wirkung vom 1. Januar 2019, also 67 Jahre später, auf der Grundlage der Ermächtigung des Art. 75 Nr. 5 ("Der Verfassungserichtshof entscheidet ... in sonstigen durch Gesetz zugewiesenen Fällen") ein.

Anläßlich dieser einfachgesetzlichen Ergänzung entstand die Idee, beide Verfassungsbeschwerden nun auch ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen, um der Bedeutung beider Verfahren besser gerecht zu werden (vgl. LT-Drs. 17/3005, 5126, 5665). Der verständliche Wunsch fand - ohne große Diskussion - die erforderliche Mehrheit. Das verfassungsändernde Gesetz vom 11. April 2019 (GV. NRW. S. 202) führt dazu die neuen Ziffern 5a und 5b im Art. 75 LVerf. ein; die bisherige Ziffer 5 wurde Ziffer 6.

d) 2020: Hinweis auf Europa, Art. 1 LVerf.  

Unter dem 19. Mai 2020 brachten die vier Fraktionen CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/DIE GRÜNEN den Enwurf eines Gesetzes "zur Einfügung des Europabezuges in die Landesverfassung" ein, das "die Rolle des Landes als Teil der Europäischen Union, seinen Beitrag zur europäischen Integration sowie die Bedeutung der Zusammenarbeit im Grenzraum zum Ausdruck" bringen sollte (LT-Drs. 17/9352, S. 2). 

Dazu wurden in Art. 1 Abs. 1 S. 1 nach den Wörtern "Nordrhein-Westfalen ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland" die Wörter "und damit Teil der Europäischen Union" angefügt und ein neuer Absatz 3 hinzugefügt: "Nordrhein-Westfalen trägt zur Verwirklichung und Entwicklung eines geeinten Europas bei, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert. Das Land arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt die grenzüberschreitende Kooperation."

 So wurde es am 25. Juni 2020 beschlossen (LT-PlPr. 17/95, S. 53-58). Das am 30. Juni 2020 ausgefertigte Gesetz wurde am 13. Juli 2020 verkündet (GV. NRW S. 644) und trat tags darauf in Kraft.

Die Änderung spiegelt erstmals im Verfassungstext die Einbindung auch des Landes in die Europäische Union wider; dagegen ist nichts einzuwenden, auch wenn ihre praktische und juristische Bedeutung gering sein dürfte.

11. Rheinland-Pfalz

a) 2011/2015: Mehr Bürgerbeteiligung?

Die 2011 eingesetzte Enquête-Kommission "Mehr Bürgerbeteiligung" des Landtages legte ihren Abschlußbericht im Dezember 2014 vor. Er war Gegenstand der Plenardebatte am 29. Januar 2015. Die CDU-Fraktion, auf deren Zustimmung eine Verfassungsänderung angewiesen wäre, hatte sich dem Vernehmen nach im Mai 2015 aus entsprechenden Beratungen zurückgezogen.

Ob der 17. Landtag auf die Empfehlungen zurückkommen wird und sie ggf. wird durchsetzen können, ist ungewiß. Der Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen von 2016 denkt in diesem Bereich an dies (S. 102f.):

"Wahlrecht

Wir werden die demokratischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger weiter stärken und uns für eine Absenkung des Wahlalters bei Landtags- und Kommunalwahlen einsetzen. Die Koalitionspartner wollen das Mindestalter für das aktive Wahlrecht bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre absenken. Unmittelbar nach der Kommunalwahl 2019 soll eine Evaluierung im Hinblick auf eine mögliche Absenkung für die Landtagswahl 2021 durchgeführt werden.

Auch sollen EU-Bürgerinnen und Bürger das Wahlrecht bei Landtagswahlen erhalten. Wir werden eine entsprechende Bundesratsinitiative für eine Grundgesetzänderung auf den Weg bringen. 

Direkte Demokratie: Quorenabsenkung

Neben der Beteiligung durch Wahlen wollen wir auch die direktdemokratischen Instrumente bei Volksbegehren und Volksinitiativen weiterentwickeln. Wir werden uns für eine Absenkung des Unterschriftenquorums auf 3 Prozent und der Abstimmungsquoren auf 15 Prozent sowie des Beteiligungsalters einsetzen. Zudem wollen wir die Eintragungsfrist für Volksbegehren auf sechs Monate verlängern.

Wir werden unmittelbar nach Vorliegen des Gutachtens der Bundesebene und der sich daraus ergebenden Handlungsempfehlungen eine Änderung des Landeswahlgesetzes und der Wahlordnung in die Wege leiten mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen die Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen und die notwendige Unterstützung sicherzustellen.

Bezüglich einer Umstellung der Wahlunterlagen in Leichte Sprache bringen wir eine Prüfung zur Änderung der gesetzlichen Grundlagen des Landtagswahlrechts auf den Weg."

b) 2015: Klärung der Parteieigenschaft von Vereinigungen durch den Verfassungsgerichtshof; Terminierung der Landtagswahl

Am 30. April 2015 beschloß der Landtag in dritter Lesung einmütig Änderungen der Artt. 82, 83, 135 der Landesverfassung. Das Gesetz wurde am 8. Mai 2015 (GVBl. S. 35) ausgefertigt und trat am 16. Mai 2015 in Kraft.

In Artt. 82 und 135 geht es um die - der Grundgesetzänderung von 2012 (siehe Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG) nachgebildete - Verbesserung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes politischer Vereinigungen im Vorfeld von Landtagswahlen, in Art. 83 im Interesse vor allem nachhaltiger Wahlbeteiligung um die Terminierung von Landtagswahlen (mit entsprechenden Auswirkungen auf den Zusammentritt des jeweils neugewählten Landtages).

Alle Einzelheiten finden Sie anschaulich beschrieben in der Begründung zum Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen vom 12. März 2015 (LT-Drs. 16/4732).

c) 2022: Übernahme kommunaler Liquiditätskredite durch das Land

Das Gesetz vom 8. April 2022 (GVBl. S. 105) – verkündet am 13. April, in Kraft gemäß seinem Art. 2 seit dem 14. April – fügte dem sich im Abschnitt Finanzwesen den Krediten widmenden Art. 117 LVerf. einen neuen Absatz 4 an:

„Das Land oder juristische Personen, an denen das Land maßgeblich beteiligt ist, können aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung nach Absatz 2 Liquiditätskredite der Kommunen zum Stand vom 31. Dezember 2020 übernehmen. Die Schuldüber­nahme ist keine Einnahme aus Krediten im Sinne von Absatz 1 Satz 1. Das Land verpflichtet sich zur Tilgung der übernommenen Schulden. Das Nähere bestimmt ein Gesetz.“

In den Abschnitt Übergangs- und Schlußbestimmungen fügte es zudem einen neuen Art. 143e ein:

„(1) Artikel 117 Absatz 4 in der ab dem 14. April 2022 geltenden Fassung tritt am 18. Mai 2026 außer Kraft

(2) Die Pflicht zur Tilgung der nach Artikel 117 Absatz 4 übernommenen Schulden bleibt von Absatz 1 unberührt.“

Satz 3 des Art. 117 Abs. 4 und die Einfügung des Art. 143e gingen auf eine Empfehlung des Haushalts- und Finanzausschusses vom 30. März 2022 (Drs. 18/2684) zurück, der die Fraktionen mit Vorlage vom selben Tage (Drs. 18/1636 V) folgten.

Ihren ursprünglichen Antrag hatten die Fraktionen unter dem 8. Februar 2022 so begründet (Drs. 18/2301):

A. Allgemeines

Als Liquiditätskredite werden im Folgenden Kredite zur Liquiditätssicherung nach § 105 Gemeindeordnung bezeichnet. Einbezogen sind auch Wertpapierschulden, die der Liquiditätssicherung dienen. Liquiditätskredite dienen in ihrer ursprünglichen Funktion dazu, Kommunen kurzfristig Liquidität zu sichern, damit sie den verzögerten Eingang von Deckungsmitteln überbrücken und ihre Auszahlungen leisten können (sog. echte Liquiditätskredite). Seit Jahren werden Liquiditätskredite von den Kommunen auch zur dauerhaften Finanzierung laufender Ausgaben aufgenommen (sog. unechte Liquiditätskredite). Anders als bei Investitionskrediten stehen Liquiditätskrediten keine langfristigen Werte gegenüber. Die kommunalen Liquiditätskredite sind insbesondere infolge der Finanz-und Wirtschaftskrise stark angestiegen. Der Bestand der Schulden beim nicht-öffentlichen Bereich für den Kernhaushalt betrug nach der amtlichen Schuldenstatistik zum 31. Dezember 2020 rund 5,2 Mrd. Euro. Der Liquiditätssicherung dienten zudem Wertpapierschulden in Höhe von 0,8 Mrd. Euro und Kassenkredite der Ortsgemeinden beim öffentlichen Bereich, die im Rahmen einer Einheitskasse aufgenommen wurden, in bereinigter Höhe von bis zu 0,3 Mrd. Euro. Zum einen bergen Liquiditätskredite in diesem Umfang ein erhebliches Zinsänderungsrisiko. Ein Zinsanstieg würde die kommunalen Haushalte stark belasten. Die kommunalen Liquiditätskredite können folglich die kommunale Handlungsfähigkeit bedrohen. Zum anderen fehlt bei vielen Kommunen in Anbetracht der zum Teil enormen Höhe der aufgelaufenen Liquiditätskreditbestände eine Perspektive, wie diese Verschuldung zurückgeführt und dauerhaft ein materiell ausgeglichener Haushalt erreicht werden soll. Alle Maßnahmen einer wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung erscheinen vergeblich, da sie keine nennenswerte Verbesserung der grundlegenden Lage herbeiführen können. Demgemäß hat auch der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz eine Entlastung bei den kommunalen Liquiditätskrediten im Urteil vom 16. Dezember 2020 angesprochen (VGH N 12/19, Rn. 121). Mit der Ergänzung des Artikels 117 der Verfassung für Rheinland-Pfalz wird klargestellt, dass das Land Liquiditätskredite der Kommunen übernehmen und so die erforderliche Entlastung herbeiführen kann. Das Land kann damit die Kommunen beim Schuldenabbau wirksam unterstützen. Sollte auf Bundesebene ebenfalls eine Einigung über die Übernahme von Liquiditätskrediten der Kommunen herbeigeführt werden, wird zudem sichergestellt, dass diese Hilfen vollständig den Kommunen zugutekommen, da das Land bereits zuvor eine hälftige Aufteilung herbeigeführt hat. Liquiditätskredite können so auf ihren ursprünglichen Zweck, d. h. die kurzfristige Sicherung von Liquidität, und auf ein entsprechendes Ausmaß zurückgeführt werden. Den rheinlandpfälzischen Kommunen wird dabei eine Perspektive zu einer zukunfts-festen Ausgabenfinanzierung und zu einem nachhaltigen Haushaltsausgleich aufgezeigt. So kann die kommunale Handlungsfähigkeit dauerhaft gesichert werden. Grundlage der Ergänzung des Artikels 117 ist, dass die Regelungen zum strukturellen Haushaltsausgleich des Landes durch die Übernahme kommunaler Liquiditätskredite nicht berührt werden und unangetastet bleiben. Zugleich wird der Kreditbegriff des Artikels 117 konkretisiert. Damit wird der Regelungsspielraum ausgefüllt, der in Artikel 109 Abs. 3 Satz 5 Grundgesetz angelegt ist (siehe die Begründung in BT-Drs. 16/12410, Seite 12). Der Der neue Absatz 4 dient der Klarstellung. Eine Schuldübernahme stellt grundsätzlich keine Einnahme aus Krediten im Sinne von Absatz 1 Satz 1 dar. Denn sie geht nicht mit unmittelbar zahlungswirksamen Vorgängen einher und erweitert nicht die Möglichkeit, Staatsausgaben zu tätigen. Im strukturellen Haushaltsausgleich sind die Zins-und Tilgungszahlungen zu berücksichtigen, die aus der Schuldübernahme resultieren; davon unberührt bleiben Zahlungen zur Umschuldung oder Ablösung von Krediten. 

Die Übernahme der Schulden ist im Übrigen als Aufnahme von Krediten gemäß Absatz 2 zu werten. Künftige Haushalte werden durch eine unbedingte Rückzahlungsverpflichtung vorbelastet und der Schuldenstand erhöht sich. Es bedarf einer gesetzlichen Ermächtigung für diese Kreditaufnahme und die übernommenen Schulden sind in der Haushaltsrechnung beim Land oder bei den juristischen Personen mit Beteiligung des Landes auszuweisen.

B. Zu den einzelnen Bestimmungen

Zu Artikel 1 

Zu Satz 1: Mit der Regelung wird klargestellt, dass das Land Liquiditätskredite der Kommunen übernehmen kann. Das Land kann sich hierzu auch juristischer Personen bedienen, an denen es maßgeblich beteiligt ist. Die Regelung nennt als Stichtag den 31. Dezember 2020. Zum einen wird dieser Zeitpunkt gewählt, um eine einheitliche Ermittlung der zu übernehmenden Liquiditätskredite zu gewährleisten. Zum anderen liegt dieser Stichtag vor der Ankündigung der Schuldübernahme, so dass der relevante Schuldenbestand daraufhin nicht mehr beeinflusst werden konnte. Es reicht aus, dass die Schuld vor dem Stichtag entstanden ist. Die Schuldübernahme kann sich auch auf die nach dem Stichtag erfolgte Prolongation eines Liquiditätskredites beziehen, der vor dem Stichtag aufgenommen wurde. Entsprechend dem Ziel einer notwendigen Unterstützung der mit Liquiditätskrediten stark belasteten Kommunen schließt der Stichtag nicht aus, dass bei der weiteren Ausgestaltung seither eingetretene Verbesserungen der kommunalen Finanzlage angemessen berücksichtigt werden. 

Zu Satz 2: Die Schuldübernahme als solche führt zu keinen unmittelbaren Zahlungen im Landeshaushalt. Sie wird daher im kameralen Haushalt nicht abgebildet. Einnahmen sind grundsätzlich „diejenigen Geldbeträge, die in dem betreffenden Haushaltsjahr voraussichtlich kassenwirksam werden und dem Land als Deckungsmittel zur Haushaltsfinanzierung zufließen" (Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs RheinlandPfalz vom 20. November 1996, VGH N 3/96). An einer solchen Hereinnahme von Geldmitteln in den Landeshaushalt fehlt es im vorliegenden Fall. Es liegen folglich keine Einnahmen aus Krediten im Sinne von Absatz 1 Satz 1 vor. Im strukturellen Haushaltsausgleich sind die Zins-und Tilgungszahlungen zu berücksichtigen, die aus der Schuldübernahme resultieren; davon unberührt bleiben Zahlungen zur Umschuldung oder Ablösung von Krediten. Zu Satz 3 Die Umsetzung und Ausgestaltung bleiben dem Gesetzgeber überlassen, der auch über das Budgetrecht als Kernelement der demokratischen Legitimierung und Gewaltenteilung verfügt. Dies entspricht einem Parlamentsvorbehalt, der sich aus den langfristigen und umfangreichen Verpflichtungen ergibt, die für das Land entstehen können. Haushaltsgrundsätze und die kommunale Selbstverwaltungs-und Finanzausstattungsgarantie sind bei der Umsetzung und Ausgestaltung zu wahren. Bei deren Abwägung und Konkretisierung steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-und Gestaltungsspielraum zu. Dies betrifft insbesondere die Ermittlung der betroffenen Kreditbestände, die Festlegung eines nicht zu übernehmenden Sockelbetrages, die Höhe des Anteils der Schuldübernahme, die Anrechnung von Vermögenswerten und die Abbildung im Haushalt. Der Ermittlungs-und Prüfaufwand soll sich in einem vertretbaren Rahmen bewegen.

Zugleich sollen Vorkehrungen zum Kommunalfinanzrecht getroffen werden, die ein erneutes Aufwachsen des Kreditbestandes verhindern. Zudem soll die Tilgung der übernommenen Kredite verbindlich geregelt werden.“

 

12. Saarland

a) 2015/16: Sperrklausel bei Landtagswahlen; Konnexitätsgrundsatz

Unter dem 7. Oktober 2015 brachten die Fraktionen der CDU und der SPD einen Entwurf zur Änderung der Verfassung ein, der die bisher nur einfachgesetzlich verankerte 5%-Sperrklausel für Landtagswahlen in die Verfassung übernimmt und überdies das Konnexitätsprinzip (Übernahme der Kosten durch das Land für die Erledigung von Aufgaben, die den Kommunen neu übertragen werden) verankert.

Dazu wird dem Art. 66 Absatz 1 saarLV der Satz

„Auf Wahlvorschläge, für die im Land weniger als fünf vom Hundert der gültigen Stimmen abgegeben werden, entfallen keine Sitze.“

angefügt und sollte Art. 120 saarLV so gefaßt werden:

"(1)   Durch förmliches Gesetz können den Gemeinden und Gemeindeverbänden staatliche Aufgaben zur Durchführung übertragen und die Erfüllung von Selbst- verwaltungsaufgaben zur Pflicht gemacht werden. Gleichzeitig sind Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen.

 (2)  Führen Maßnahmen nach Absatz 1 oder die Veränderung bestehender Aufgaben, zu deren Wahrnehmung die Gemeinden oder Gemeindeverbände verpflichtet sind, zu einer wesentlichen Mehrbelastung, so ist auf der Grundlage einer Kostenfolgeabschätzung ein entsprechender finanzieller Ausgleich zu schaffen. Der Ausgleich soll pauschaliert geleistet werden. Ergeben sich nachträglich wesentliche Abweichungen von dieser Kostenfolgeabschätzung, ist der finanzielle Ausgleich für die Zukunft anzupassen. Das Nähere regelt ein Gesetz.“

Unter demselben Datum legte der Ausschuß für Inneres und Sport unter Hinzuziehung des Ausschusses für Justiz, Verfassungs- und Rechtsfragen sowie Wahlprüfung einen - für die Ergänzung des Art. 66 Abs. 1 saarLV einschlägigen - Bericht zur Evaluation der 5 %-Sperrklausel und des Sitzzuteilungsverfahrens vor (LT-Drs. 15/1543).

In erster Lesung (41. Plenarsitzung am 13/14. Oktober; PlPr 15/41, S. 3457 [3471-3484]) wurden der Evaluationsbericht des Ausschusses zustimmend zur Kenntnis genommen sowie der Gesetzentwurf mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen und an den Ausschuß für Justiz, Verfassungs- und Rechtsfragen sowie Wahlprüfung überwiesen.

Der Ausschuß schlug unter dem 30. Juni 2016 die Annahme des Entwurfs mit Änderungen (zum Konnexitätsprinzip) vor (LT-Drs. 15/1879). Dem entsprach das Plenum in zweiter und dritter Lesung am 13. Juli 2016 (PlPr 15/50). Die Änderung wurde am 26. August ausgefertigt und am 8. September verkündet (Gesetz Nr. 1896, ABl. I S. 710). Sie trat am 9. September 2016 in Kraft.

Die Gleichzeitigkeit der Verkündung und des Inkrafttretens der Änderung des Art. 120 LVerf. und der auf sie gestützten Änderung des Kommunalselbstverwaltungsgesetzes (vgl. Art. 3) ist verfassungswidrig (BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Andere Länder verfahren allerdings ebenso (vgl. z.B. oben Nrn. 5 b, 6 f, 8 und 10 b]). Das mag praktisch sein, widerspricht aber der eindeutigen (und ihrerseits schon großzügigen) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 

b) 2018/19: Landesrechtliche Umsetzung der "Schuldenbremse" des Grundgesetzes

Unter dem 26. November 2018 brachte die Regierung des Saarlandes den Entwurf eines (Artikel-)Geseztes zur Umsetzung der grundgesetzlichen Schuldenbremse und zur Haushaltsstabilisierung ein, um die Spielräume zu nutzen, die Art. 109 GG den Ländern läßt (LT-Drs. 16/653). Die Regierung begründete ihr Anliegen so (a.a.O. S. 11):

"Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d) vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2248) wurden die Beschlüsse der Gemein-samen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Föderalismuskommission II) umgesetzt. Durch das Gesetz sind für Bund und Länder neue Regelungen zur Begrenzung der Kreditaufnahme in das Grundgesetz eingefügt worden. Der geänderte Artikel 109 Grundgesetz verpflichtet die Länder, ihre Haushalte grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten aus-zugleichen. Die nähere Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln diese im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Die landesgesetzliche Regelung kann Ausnahmen zur symmetrischen Berücksichtigung konjunktureller Entwicklungen und bei Naturkatastrophen oder in außergewöhnlichen Notsituationen vorsehen. Dabei wird der grundgesetzlichen Schuldenbremse nur dann entsprochen, wenn Einnahmen aus Krediten nicht zugelassen werden. 

Ohne eine landesgesetzliche Regelung zur Umsetzung der grundgesetzlichen Schuldenbremse gelten die Vorgaben des Grundgesetzes unmittelbar. Die Möglichkeit, bei einer ungünstigen konjunkturellen Entwicklung und bei Naturkatastrophen oder außer-gewöhnlichen Notsituationen vorübergehend den Haushaltsausgleich mit Einnahmen aus Krediten zu erreichen, wäre dann nicht gegeben. 

Die Umsetzung der grundgesetzlichen Schuldenregel in das saarländische Landesrecht erfordert Anpassungen in der Verfassung des Saarlandes sowie in der Landeshaushaltsordnung. Detailregelungen erfolgen in einem Ausführungsgesetz. ..."

Die erwähnten "Anpassungen in der Verfassung" bestanden in der Streichung des Absatzes 2 des Art. 108 SVerf. ("Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushalt veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten. Eine Ausnahme ist nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder bei Vorliegen eines außerordnetlichen Bedarfs."). Er stehe "nach Einführung der Schuldenbremse im Widerspruch zu den Regelungen des Grundgesetzes und" sei "wirkungslos". Er entfalle (a.a.O. S. 12 oben zu Art. 1 des Gesetzentwurfs).  

So wurde es denn auch ohne Kontroverse als Art. 1 des Gesetzes Nr. 1961 vom 10. April 2019 (Das Gesetz trägt das Datum des Landtagsbeschlusses; vgl. LT-PlPr 16/26 vom 10. April 2019) beschlossen. Das Gesetz wurde am 7. Juni 2019 ausgefertigt und am 27. Juni 2019 verkündet (ABl. I S. 446). Es trat nach seinem Art. 6 am 1. Januar 2020 in Kraft. 

 

14. Sachsen-Anhalt

a) 2014: Parlamentsreform, Kinderrechte

Am 13. November 2014 hat der Landtag in großer Einmütigkeit das erst unter dem 11. September 2014 von den Fraktionen auf den Weg gebrachte "Gesetz zur Parlamentsreform 2014" in dritter Lesung beschlossen. Neben anderen Gesetzen ändert es auch die Landesverfassung, und zwar einmal, wie der Gesamttitel andeutet, im Bereich des Parlamentsrechts, zum andern, was der Gesamttitel nicht erwarten läßt,  Art. 11 (Rechte der Eltern und Kinder).

Auf der website des Landtages liest sich dies unter der zufriedenen, aber über die Themen nichts verratenden Überschrift "Reformen wie aus einer Hand verabschiedet" so (Hervorhebungen nicht im Original): 

"Der Landtag hat in der November-Sitzungsperiode mit großer Mehrheit ein umfassendes Reformpaket verabschiedet, das unter dem Titel Parlamentsreform geführt wird. Das Regelungspaket führt zur Änderung der Landesverfassung, des Wahlgesetzes, des Volksabstimmungsgesetzes, des Abgeordnetengesetzes, des Fraktionsgesetzes und der Geschäftsordnung des Landtags. Bereits bei der Erstellung und der Annahme von Änderungsanträgen im Ältestenrat hatte es unter den Fraktionen große Einmütigkeit gegeben. Langfristiges Ziel der Reform ist es, den demographischen Wandel auch im und durch den Land-tag zu gestalten, gleichzeitig aber die Stärke der parlamentarischen Demokratie zu gewährleisten. Im Wahlrecht wurde die zu erzielende Zahl von Abgeordneten bei Landtagswahlen verändert, es geht konkret um die Verkleinerung des Landtags: Aus den bisher 91 Abgeordneten werden in der Legislaturperiode ab 2016 zunächst 87, bei der Landtagswahl 2021 sollen nur noch 83 Abgeordnete gewählt werden. Hinzu kommen allerdings – so notwendig – Überhang- und Ausgleichsmandate, die gemäß den gültigen Zweitstimmen auf die Fraktionen verteilt werden. Die Anzahl der Wahlkreise im Land Sachsen-Anhalt wird ebenfalls in zwei Schritten gemindert. Aus den ehemals 45 Wahlkreisen werden 2016 43, 2021 verbleiben 41.

Änderungen in der Landesverfassung

Allem voran schlagen die Änderungen der Verfassung des Landes zu Buche. Sie haben besonderes Gewicht, sind sie doch nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Plenums umzusetzen. Die erste wesentliche Änderung betrifft den Artikel 11– „Eltern und Kinder“. Der veränderte Artikel konzentriert sich nun verstärkt auf die Rechte und das Wohl der Kinder. So heißt es in Absatz 1: „Jedes Kind hat ein Recht auf Achtung seiner Würde als eigenständige Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz der Gemeinschaft vor Gewalt sowie körperlicher und seelischer Misshandlung und Vernachlässigung.“ Der neue Absatz 3 räumt Kindern das Recht auf Erziehung, Bildung und Betreuung sowie Versorgung in einer Tageseinrichtung ein. Kinderarbeit ist nach Absatz 4 verboten. Mit Artikel 47 der Landesverfassung, der die Bildung von Fraktionen im Landtag regelt, findet ein Systemwechsel statt. Durch Absatz 1 wird das Zusammenspiel von Partei und Fraktion präzisiert: „Fraktionen sind Vereinigungen, zu denen sich Mitglieder des Landtages zusammen- schließen können, die derselben Partei angehören oder von derselben Partei als Wahlbewerber aufgestellt worden sind.“ Parteien, die am Wahl-tag die Fünf-Prozent-Hürde überwunden haben, können im Parlament – jetzt unabhängig von der tatsächlichen Zahl ihrer Abgeordneten – eine Fraktion bilden. Für die Entschädigung der Abgeordneten und die Höhe der Kostenpauschale wurde im Artikel 56 eine neue Berechnungsgrundlage eingeführt. Die Höhe der Entschädigung verändert sich in gleichem Maße wie das Bruttoeinkommen von abhängig Beschäftigten; die Veränderung der Kostenpauschale (für die zwei verschiedene Pauschalen zusammen- geführt worden sind) orientiert sich aus der allgemeinen Preisentwicklung in Sachsen-Anhalt. Näheres dazu ist im novellierten Abgeordnetengesetz (§ 6 und § 8) nachzulesen. Einen Systemwechsel zieht auch der Artikel 58 der Verfassung nach sich. Er regelt die Belange der Immunität von Abgeordneten. In seiner Neufassung ist er eingekürzt und präzisiert worden: Grundsätzlich ist wie auch zuvor kein/e Abgeordnete/r vor Strafverfolgung „immun“. Hatte es zuvor jedoch der Genehmigung des Parlaments bedurft, eine Strafverfolgung gegen ein Mitglied des Landtags einleiten zu dürfen, ist diese für die Ermittlungsbehörden nun nicht mehr notwendig. Die Strafverfolgung kann jedoch auf Verlangen des Parlaments ausgesetzt werden, wenn durch sie die parlamentarische Arbeit beeinträchtigt wird.

Änderungen verschiedener Gesetze verabschiedet

Die Anpassungen im Volksabstimmungsgesetz sollen mehr direkte Demokratie ermöglichen und Bürgerinnen und Bürger zu einer stärkeren Einflussnahme auf die Gesetzeslage im Land animieren. Für den Start eines Volksbegehrens sind fortan nur noch 6 000 statt wie bisher 8 000 Unterschriften notwendig. Bevor es schließlich an den Landtag weitergeleitet wird, müssen bei einer Abstimmung künftig nur noch mindestens neun statt elf Prozent der Wahlberechtigten dem Volksbegehren zugestimmt haben. Im Zuge der Reformen gab es auch eine Reihe von Änderungen sowohl in der Geschäftsordnung des Landtags als auch in den Verhaltensregeln beziehungsweise im Abgeordnetengesetz. Beide Bereiche sollen zu mehr Transparenz im Parlamentsgeschehen beitragen: Die Abgeordneten sind zur detaillierten Veröffentlichung von Nebentätigkeiten und Nebeneinkünften verpflichtet, um ihr unabhängiges Agieren nachprüfbar zu machen. Etwaige wirtschaftliche Interessenverknüpfungen müssen beispielsweise bei Beratungen/Entscheidungen im Ausschuss angezeigt werden. Darüber hinaus wird ein neues Lobbyregister eingeführt, durch das erkenntlich werden soll, welche Institutionen von außen wie Einfluss auf die Schaffung von Gesetzen nehmen. Mit dem neugeschaffenen § 45 des Abgeordnetengesetzes rückt die Ausübung des Mandats noch mehr als bisher in den Fokus. Sie steht laut Gesetz im Mittelpunkt der Tätigkeit der Landtagsmitglieder. Nebentätigkeiten beruflicher und anderer Art sind aber ausdrücklich zulässig und auch erwünscht. So wird den Abgeordneten die Chance gegeben, noch teilzeitlich ihrem herkömmlichen Beruf nachzugehen. Nach der umfassenden Reform wird der Landtag selbst den Termin für die Landtagswahl festlegen, der Vorschlag kommt vom Präsidenten. Im früheren Wahlgesetz hatte die Landesregierung im Benehmen mit dem Landtagspräsidenten den Wahltag und die Wahlzeit bestimmt. Der Wochentag wurde bereits gesetzlich festgelegt: Gewählt wird an einem Sonntag.“

Die Änderung wurde am 5. Dezember 2014 ausgefertigt und am 11. Dezember 2014 im Gesetz- und Verordnungsblatt S. 494 veröffentlicht. Sie trat überwiegend zum 1. Januar 2015 in Kraft.

b) 2020: Staatsziele, Nichtdiskriminierung, Parlamentsreform, Schuldenbremse

Unter dem 23. Januar brachten die Fraktionen CDU, Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen - zum Teil auf der Grundlage der Vorarbeiten einer Mitte November 2018 eingesetzten Parlamentsreformkommission - den Entwurf eines "Gesetzes zur Parlamentsreform" (LT-Drs. 7/5550) ein, dessen Artikel 1 die Landesverfassung ändern und ergänzen sollte, und zwar nicht nur im Bereich Parlament, sondern auch hinsichtlich der Staatsziele, der Grundrechte und des Haushaltsrechts.

Mit dem Vorschlag wurden nach den Worten seiner InitiatorInnen (a.a.O. S. 41-42) "gesellschaftliche Entwicklungen in den letzten Jahren aufgegriffen. So werden neue Staatszielbestimmungen aufgenommen für den Klimaschutz, den Tierschutz, für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Land Sachsen-Anhalt sowie eine Klausel, die den Staat und jeden Bürger des Landes Sachsen-Anhalt verpflichtet, die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen. 

Darüber hinaus werden, insbesondere im 3. Hauptteil der Landesverfassung, der die Staatsorganisation beinhaltet, Regelungen getroffen, die Erfahrungen aus den vergangenen fast 30 Jahren nach dem Wiederentstehen des Landes Sachsen-Anhalt aufgreifen. Vor allem werden die Möglichkeiten der Informationsgewinnung für die Mitglieder des Landtages dadurch gestärkt, dass das Frage- und Auskunftsrecht sowie das Recht auf Aktenvorlage jedem einzelnen Abgeordneten zusteht und nicht wie gegenwärtig eine qualifizierten Ausschussminderheit erforderlich ist.

Außerdem werden etwa die Frist zur Bildung der Landesregierung sowie die Begrenzung der Anzahl der Vizepräsidenten des Landtages aufgehoben. Diese Änderungen sollen das jeweilige Parlament in die Lage versetzen, flexibel auf höhere Anforderungen sowie auf komplexer und komplizierter werdende politische Bedingungen zu reagieren. Dies trifft sowohl für Änderungen in der Landesverfassung, als auch im Abgeordnetengesetz und in der Geschäftsordnung des Landtages zu.

Ziel dieser Parlamentsreform ist auch die Stärkung der plebiszitären Elemente. So werden u. a. das Quorum zur Unterstützung eines Volksbegehrens durch die Wahlberechtigten von neun auf sieben Prozent abgesenkt und die Verfahren zur Einleitung einer Volksinitiative oder eines Volksbegehrens vereinfacht und übersichtlicher gestaltet."

Die fällige Neugregelung der "Schuldenbremse" erläuterten die Fraktionen so (a.a.O. S. 49-50): "Im Jahr 2009 wurden die verfassungsrechtlichen Regelungen zur Begrenzung der Kreditaufnahme in Bund und Ländern neu geregelt. Nach Artikel 109 Abs. 3 Grundgesetz (GG) sind die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Abweichend von diesem Grundsatz können Bund und Länder regeln, dass die Auswirkungen der konjunkturellen Entwicklung auf die Einnahmen und Ausgaben im Haushalt symmetrisch, d. h., im Auf- und Abschwung gleichartig berücksichtigt werden dürfen. Darüber hinaus kann eine Ausnahmeregelung vorgesehen werden, die die Handlungsfähigkeit des Staates im Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, gewährleistet. Für die auf dieser Grundlage aufgenommenen Kredite ist eine Tilgungsregelung vorzusehen. Diese Regelungen - als „Schuldenbremse“ bezeichnet - sind von den Ländern ab dem Jahr 2020 einzuhalten.

Die Landesverfassung nimmt dagegen aktuell zur Bestimmung der zulässigen Kreditaufnahme auf die im Haushalt ausgewiesenen Investitionsausgaben Bezug und gestattet eine Ausnahme, um eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwenden. Diese Vorschrift widerspricht seit dem 1. Januar 2020 dem Grundgesetz und hat nach Artikel 31 GG deswegen ihre Gültigkeit verloren. Der Wortlaut der Landesverfassung und die Rechtslage stimmen nicht mehr überein.

Die geltenden Regelungen in den Absätzen 2 und 3 in ihrer jetzigen Form werden gestrichen. Hinzu kommt, dass eine Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung und damit eine Kreditfinanzierung von Ausgaben in wirtschaftlich schlechten Zeiten dem Land nur dann verfassungsgemäß möglich ist, wenn es von der im Grundgesetz vorgesehenen Regelungsermächtigung Gebrauch macht.

Die Neufassung des Absatzes 2 greift die Vorgabe des Grundgesetzes auf und legt fest, dass der Landeshaushalt ab 2020 grundsätzlich ohne Kredite auszugleichen ist. In Absatz 3 wird die Regelungsermächtigung des Artikels 109 Abs. 3 GG aufgegriffen und festgelegt, dass das Land künftig Kredite zum Haushaltsausgleich in den Grenzen der symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen der konjunkturellen Entwicklung auf den Haushalt aufnehmen darf. Zugleich wird die Kreditaufnahme bei Naturkatastrophen und in außergewöhnlichen Notfällen erlaubt. Die Neufassung des Absatzes 3 knüpft unmittelbar an den Wortlaut der diesbezüglichen Regelung des Grundgesetzes an.

Artikel 109 Abs. 3 Satz 3 GG schreibt vor, dass bei Inanspruchnahme der Ausnahmeregelungen zu Kreditaufnahme eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen ist. Diese Vorgabe wird mit Absatz 3 Satz 3 umgesetzt."

Der Ältestentrat des Landtags empfahl unter dem 21. Februar 2020, Artikel 1 des Entwurfs, der die Verfassungsänderungen betraf, unverändert anzunehmen (LT-Drs. 7/5746). So geschah es denn auch (2. Lesung vom 26. Februar 2020, PlPr. 7/94, und 3. Lesung vom 28. Februar 2020, PlPr. 7/96). Das Gesetz wurde am 20. März 2020 ausgefertigt und am 26. März 2020 verkündet (GVBl. S. 64). 

15. Schleswig-Holstein

a) 2014: Grundrechte, Volksabstimmung, Verfassungsprozessuales

Am 8. Oktober 2014 beschloß der Landtag in zweiter Lesung umfangreiche Änderungen der Landesverfassung (LT-PlPr. 18/70, S. 5749-5782). Er folgte den Vorschlägen des 2013 eingesetzten Sonderausschusses (LT-Drs. 18/2095 vom 4. Juli 2014), die der interfraktionelle Entwurf vom selben Tage (LT-Drs. 18/2115) übernommen hatte, und den überwiegend redaktionellen Empfehlungen, auf die sich der Innen- und Rechtsausschuß beschränkt hatte (LT-Drs. 18/2327 vom 8. Oktober 2014).

Die Änderung stellt der Verfassung erstmals eine Präambel (nach ausgiebiger, bisweilen gespenstisch anmutender Diskussion: ohne Gottesbezug - so, als gäbe es keine Schöpfung; vgl. auch unten c)) voran, thematisiert erstmals Inklusion (Art. 7) und digitale Rechte (Artt. 14, 15) und erleichtert Volksabstimmungen. Art. 30 ermächtigt - ermuntert durch BVerfGE 129, 108 (116f.), aber vielleicht doch bundesrechtswidrig - den Landtag u.U., die Landesregierung zu einer Klage gegen den Bund vor dem Bundesverfassungsgericht zu verpflichten.

Die Änderung ist im GVOBl. Nr. 12 vom 27. November 2014, S. 328 veröffentlicht und am 11. Dezember 2014 in Kraft getreten. Die aktuelle Fassung der gesamten Landesverfassung wurde in GVOBl. Nr. 13 vom 11. Dezember 2014, S. 344, bekanntgemacht.

b) 2015/16: Klärung der Parteieigenschaft einer Vereinigung durch das Landesverfassungsgericht

Unter dem 16. Oktober 2015 brachten SPD, Bündnis 90/Die Grünen und SSW den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Landesverfassung und des Landesverfassungsgerichtsgesetzes (LT-Drs. 18/3539) ein, der es Vereinigungen, denen der Landeswahlausschuß die Parteieigenschaft abspricht, noch vor der Wahl ermöglicht, diese Entscheidung durch das Landesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, so daß die Vereinigungen nicht mehr auf das einer Wahl nachfolgende Wahlprüfungsverfahren angewiesen sind. Die vernünftige Regelung folgt einer Neuregelung des Bundes aus dem Jahre 2012.

Die erste Lesung hat am 18. November 2015 (PlPr. 18/102, S. 8625-8636) stattgefunden; der Entwurf wurde an den Innen- und Rechtsausschuß zur weiteren Beratung überwiesen, die am 21. Januar und 10. Februar 2016 stattfand. Eine Anhörung fand am 23. März 2016 statt. Der Ausschuß empfahl die Annahme (LT-Drs. 18/4276 [neu]). Dem folgte das Plenum in zweiter Lesung am 10. Juni 2016 (LT-PlPr. 18/122, S. 8626-8636). Das Gesetz vom 14. Juni 2016 finden Sie in GVOBl. S. 361.

c) 2016 I: Kein Platz für "Gott" in der Landesverfassung

Das Thema Gottesbezug in der Landesverfassung (vgl. oben a)) beschäftigt weiterhin. Eine von 39.000 gültigen Stimmen unterstützte Volksinitiative  (Art. 41 Abs. 1 Satz 3 LVerf. verlangt mindestens 20.000) fordert den Landtag auf, in die Präambel einen - von ihr nicht vorformulierten - Gottesbezug aufzunehmen (LT-Drs. 18/3648 vom 3. Dezember 2015; zur Erreichung des Quorums und zur Zulässigkeit vgl. Innen- und Rechtsausschuß, Bericht und Beschlußempfehlung vom 25. November 2015, LT-Drs. 18/3633, und Plenarbeschluß [gemäß Art. 41 Abs. 3 LVerf.] vom 18. Dezember 2015, LT-PlPr. 18/107, S. 9070 [zu Sammeldrucksache 18/3665). Sollte der Landtag sich nicht dazu entschließen können, die Anregung aufzunehmen, wäre es für die Initiative kaum sinnvoll, die Durchführung eines Volksbegehrens zu beantragen (vgl. Art. 42 Abs. 1 Satz 1 LVerf.). Wohin sollte es denn führen, nachdem man den Gottesbezug nicht ausformuliert hat? Auch deswegen überrascht es nicht, daß die Initiatoren dem Landtag Zeit einräumen, sich Gedanken über eine Formulierung des Gottesbezuges zu machen.

Abgeordnete haben nun unter dem 18. April 2016, dem letzten Tag der Viermonatsfrist nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 LVerf., einen fraktionsübergreifenden Entwurf zur Änderung der Landesverfassung vorgelegt (LT-Drs. 18/4107; 18/4107 [neu] - jetzt von 31 Abgeordneten unterstützt), den der Landtag (18/42) in seiner Plenarsitzung am 29. April 2016 in erster Lesung kontrovers beraten und in den Ausschuß überwiesen. Der Entwurf leitet die Präambel der Landesverfassung mit den Worten ein: "In Achtung der Verantwortung, die sich aus dem Glauben an Gott oder aus anderen universellen Quellen gemeinsamer Werte ergibt, hat der Landtag ...".  

Das ist besser als das gegenwärtige betretene Schweigen der Verfassung, aber doch ein recht kümmerlicher Formelkompromiß: Sie scheinen von einer Verantwortung zu sprechen, die der Landtag nicht selbst spürt und trägt, wenn auch "achtet". Sie stellen neben den Glauben an Gott andere "Quellen", die sie, wohl in Sorge um den Kompromiß, nicht namhaft machen, und suchen beides, Glauben und Quellen, durch das Wort "gemeinsame" zu verknüpfen und anzugleichen. Auf derart Weichgespültes kann die Verfassung gut verzichten, und daß Kirchen und Religionsgemeinschaften hier Pate gestanden haben mögen, macht es nicht besser. 

Andere Landesverfassungen haben weniger Scheu, von "Gott" (zentral oder beiläufig) zu sprechen (Baden-Württemberg: Präambel, Artt. 12 Abs. 1, 48, 78; Bayern: Präambel, Art. 131 Abs. 2; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 44 Abs. 3; Niedersachsen: Präambel, Art. 31; Nordrhein-Westfalen: Präambel, Artt. 7 Abs. 1, 25 Abs. 1, 53, 80; Rheinland-Pfalz: Präambel, Artt. 33, 100 Abs. 1; Saarland: Artt. 30, 89; Sachsen: Artt. 61, 92 Abs. 2 Satz 2; Sachsen-Anhalt: Präambel, Art. 66 Abs. 2; Thüringen: Präambel).

Die erste Lesung am 29. April 2016 (LT-PlPr. 18/119, S. 9889-9905) erweckte den Eindruck, als sei es nicht ganz ausgeschlossen, für den Entwurf die notwendigen 46 Stimmen oder mehr zu gewinnen. Die Vorlage wurde an den Innen- und Rechtsausschuß überwiesen; nach Beratungen und einer Anhörung konnte er sich nicht zu einer Beschlußempfehlung durchringen. In der zweiten Lesung am 22. Juli 2016 scheiterten alle drei Entwürfe, dem Kompromißentwurf fehlte nur eine Stimme. Der Vorgang ist umfänglich mit allen links auf der Seite des Landtags http://www.landtag.ltsh.de/plenumonline/archiv/wp18/44/debatten/10_17.html geschildert.

d) 2016 II: Zwölfjährige (einmalige) Amtszeit der Richter des Landesverfassungsgerichts

Unter dem 9. September 2016 brachten die Fraktionen von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie der Abgeordneten des SSW einen Entwurf zur Änderung der Landesverfassung und des Landesverfassungsgerichtsgesetzes ein (LT-Drs. 18/4622). Art. 51 Abs. 3 Satz 2 LVerf. soll auf die Regelung beschränkt werden, daß der Landtag die Mitglieder des Landesverfassungsgerichts mit zwei Dritteln seiner Stimmen gewählt werden. Eine Aussage über die Amtszeit (bisher 6 Jahre) und die Möglichkeit einer Wiederwahl (bisher einmal möglich) ist nicht mehr vorgesehen, wird also dem einfachen Gesetzgeber überlassen. Die entsprechende Neuregelung im Landesverfassungsgerichtsgesetz sieht eine einmalige Amtszeit von 12 Jahren (und keine Wiederwahlmöglichkeit) vor. Das entspricht der Regelung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes.

In erster Lesung behandelte das Plenum den Entwurf am 22. September. Es überwies ihn an den Innen- und Rechtsausschuß. Er beschloß am 28. September, den Entwurf durch den Wissenschaftlichen Dienst des Landtages prüfen zu lassen. Eine mündliche Anhörung fand am 10. November 2016 statt. Der Ausschuß beschloß auf Anregung, beim Mecklenburg-Vorpommerschen Landesverfassungsgericht zu erkunden, welche Erfahrungen man dort mit der (einmaligen) zwölfjährigen Amtszeit gemacht habe. In der Anhörung wurde deutlich, daß der Anlaß der Änderung der Amtszeit unklar war, daß aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung (und ihre Verlegung ins einfache Gesetz) bestanden.

Unter dem 4. November 2016 hatte die Fraktion der Piraten einen Änderungsantrag (Umdruck 18/6826) eingebracht, der offenbar ihren Gesetzentwurf von 2013 (LT-Drs. 18/1445) ablösen soll und ebenfalls Gegenstand der Anhörung war. Er will die zwölfjährige Amtszeit und den Ausschluß der Wiederwahl auch in die Verfassung aufnehmen und  sieht im Landesverfassungsgerichtsgesetz vor, daß dem Personalvorschlag des Ausschusses an das Plenum der öffentliche Aufruf vorausgeht, "daß geeignete Personen ihr Interesse bekunden mögen." Die Angehörten sahen letzteres übereinstimmend als eine Chance für den Aussschuß an, auch solche qualifizierten Personen in seine Überlegungen einzubeziehen, an die er von sich aus vielleicht nicht gedacht hätte. Offen blieb, welche Folgen dies möglicherweise für das weitere Auswahlverfahren haben könnte oder müßte. 

Redaktionell fehlerhaft sieht Art. 4 beider Entwürfe vor, daß das Gesetz insgesamt am Tag nach seiner Verkündung in Kraft tritt. Das bedeutet, daß Art. 1, der im Ergebnis die Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers enthält, die Dauer des Richteramtes und die Frage der Wiederwahl eigenständig zu regeln, und Art. 2 Nr. 2 (Änderung des § 6 LVerfGG), der von dieser Ermächtigung Gebrauch macht, gleichzeitig verkündet werden und in Kraft treten sollen. Dies widerspricht - ebenso wie die entsprechende Praxis anderer Länder (vgl. z.B. oben Nrn. 5 b, 6 f, 8, 10 b, 12 a) - der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der mindestens die Verkündung (besser noch: die Ausfertigung und Verkündung) der Norm, die von einer Ermächtigung Gebrauch macht, nach dem Inkrafttreten der Ermächtigungsnorm liegen muß (vgl. insbesondere BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]), so daß Art. 2 Nr. 2 (soweit er die Verfassungsänderung voraussetzt) verfassungswidrig und nichtig wäre, sollte er so beschlossen werden. Den Landtagspräsidenten sowie den Innen- und Rechtsausschuß hatte ich noch vor der Anhörung auf diesen Punkt aufmerksam gemacht.  

Der Innen und Rechtsausschuß empfahl daraufhin dem Landtag sachgerecht, beide Änderungen von einerander zu trennen und zudem den Ministerpräsidenten zu ersuchen, die einfachgesetzliche Änderung nicht vor dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung auszufertigen (LT-Drs. 18/4932 vom 7. Dezember 2016).

Den Entwurf der Fraktion der Piraten empfiehlt er abzulehnen (LT-Drs. 18/4933 vom 7. Dezember 2016).

Das Plenum folgte am 15. Dezember 2016 (48. Plenartagung 14.-16. Dezember) allen Empfehlungen des Innen- und Rechtsausschusses mit den notwendigen Mehrheiten. Das Gesetz wurde am 19. Dezember ausgefertigt und am 29. Dezember verkündet (GVOBl. S. 1008). Es trat am 30. Dezember 2016 in Kraft.

Sachgerecht (vgl. oben) wurde das Gesetz zur Änderung des Landesverfassungsgerichtsgesetzes erst danach ausgefertigt und verkündet: Ausfertigung am 9. Januar 2017, Verkündung am 12. Januar 2017, Inkrafttreten am 13. Januar 2017 (GVOBl. 2017 S. 2).

e) 2021: Notausschuß des Landtages für Katastrophen- und Pandemiefälle

Unter dem 6. November 2020 brachten 4 Fraktionen und die Abgeordneten des SSW einen Entwurf  zur Änderung der Verfassung ein, der (in einem neuen Art 47a) einen Notausschuß des Landtages vorsah, der zusammentreten sollte, wenn in einem durch Naturkatastrophen u.ä. ausgelösten Notfall an sich der Landtag zusammentreten müßte, es aber nicht kann oder nicht beschlußfähig wäre (LT-Drs. 19/2558 - ohne Begründung). Die erste Lesung am 20. November 2020  (LT-PlPr 19/100) überwies die Vorlage an den Innen- und Rechtsausschuß, der unter dem 25. März 2021 anstelle des recht knappen Art. 47a einen sehr viel ausführlicheren und präziseren neuen Art. 22a vorschlug (LT-Drs. 19/2777). Das Plenum schloß sich dem am 26. März 2021 an (LT-PlPr 19/116). Das Gesetz wurde am 20. April 2021 ausfertigt und am 14. Mai 2021 verkündet (GVOBl. S. 438). Es trat am 15. Mai 2021 in Kraft.

16. Thüringen

a) 2016/2017: Fakultatives Gesetzesreferendum

Im Juni 2016 brachte die (oppositionelle) CDU-Fraktion eine Initiative zur Einführung eines allgemeinen, d.h. nicht bereichsspezifischen, fakultativen Gesetzesreferendums ein (LT-Drs. 6/2283). Eine ähnliche Initiative legte im Februar 2017 die Piratenfraktion dem Landtag Schleswig-Holstein vor (vgl. oben Nr. 15 e).

Die CDU-Fraktion schlug dem Thüringer Landtag vor, in Art. 82 LVerf. nach dessen Absatz 7 einen neuen Absatz 8 einzufügen:

"(8) Auf Verlangen von mindestens 50.000 der nach Artikel 46 Abs. 2 wahl- und stimmberechtigten Bürger innerhalb von 100 Tagen nach der Verkündung eines Gesetzes ist dieses Gesetz dem Volk zur Entschei­dung vorzulegen. Absatz 2 und Absatz 3 Satz 2 gel­ten entsprechend.“

Ziemlich wortkarg begründete sie ihren Vorschlag so:

„Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll es der Bevölkerung künftig grundsätzlich ermöglicht werden, über vom Landtag verabschiedete Gesetze abschließend zu entscheiden. Die Einführung dieses Instru­ments gewährt ergänzend zu den in der Verfassung bereits vorgesehe­nen direktdemokratischen Mitwirkungsformen im Bereich der Gesetz­gebung (Volksbegehren und Volksentscheid) erstmals die Möglichkeit der unmittelbaren Mitbestimmung des Volkes über verabschiedete Ge­setze. Hierdurch kann bewirkt werden, dass der parlamentarische Ge­setzgeber sich bei Gesetzesvorhaben noch mehr als bislang am Willen des Volkes orientiert.“

Nachdem die Bundesrepublik bisher Vergleichbares nicht kennt (Das Referendum in Bremen betrifft nur Privaitisierungen, das Referendum in Hamburg - wie aktuell auch in Berlin angestrebt - nur Änderungen von Volksgesetzen durch das Parlament), hätte man durchaus weiter ausholen dürfen. 

In erster - kontroverser - Lesung beschloß das Plenum am 23. Juni 2016 die Überweisung an den Innen- und Kommunalausschuß (federf.) und den Ausschuß für Migration, Justiz und Verbraucherschutz (PlPr. 6/53, S. 4412-4427).

Unter dem 19. August 2016 brachte die CDU-Fraktion alsdann einen Entwurf zur Änderung des (einfachen) Gesetzes ein, der die durch die angestrebte Verfassungsänderung erforderlichen Anpassungen und Konkretisierungen enthält (LT-Drs. 6/2541). In erster Lesung am 1. September 2016 (LT-PlPr. 6/60, S. 4885-4902) überwies das Plenum auch diese Vorlage an die beiden genannten Ausschüsse. 

Beide Ausschüsse sprachen sich nach Beratung (am 22. September 2016 bzw. am 3. November 2016) für ein Anhörungsverfahren aus. Die Anhörung fand am 19. Januar 2017 statt. Stellungnahmen und Meinungsäußerungen zum Gesetzentwurf, die bis zum 5. Januar 2017 eingingen, finden Sie auf der Diskussionsseite des Landtages: https://forum-landtag.thueringen.de/dokument/gesetze-zur-einfuehrung-von-fakultativen-referenden. Die auf der website genannten Vorlagen und Ausschußprotokolle sind nicht aufrufbar; das Geheimhaltungsbedürfnis scheint beachtlich.

Die Initiative verlief im Sande. Ausschuß-Berichte und -Empfehlungen erschienen - ausweislich der Dokumentation auf der website des Landtages - nicht; dementsprechend fand auch keine weitere Lesung im Plenum statt.. 

Inhaltlich überrascht, daß der Entwurf nicht regelt,

  • ob das Gesetz ungeachtet der Möglichkeit des Referendums in Kraft treten kann, wie vom Gesetzgeber vorgesehen (Eindeutig demgegenüber der dem schleswig-holesteinischen Landtag vorgelegte und am 24. März 2017 in zweiter Lesung abgelehnte Entwurf der dortigen Piratenfraktion; vgl. oben Nr. 15 e);
  • ob das Gesetz, wenn überhaupt, auch in dringlichen Fällen suspendiert sein soll;
  • welche Quoren für den Volksentscheid gelten sollen. 

Alle drei Themen gehören unbedingt in die Verfassung und sollten nicht dem einfachen Gesetz überlassen werden. 

b) 2017/2018: Weiterer Ausbau der direkten Demokratie

Unter dem 4. Dezember 2017 ergriffen die Fraktionen Die Linke, der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen ihrerseits die Initiative für einen weiteren Ausbau der direkten Demokratie. Sie schlugen Änderungen der Artt. 46, 68 und 82 LVerf. vor, insbesondere um den Finanzvorbehalt bei Volksbegehren zu ändern, die Quoren bei Volksbegehren und Volksentscheid abzusenken und den Bürgerantrag zum Einwohnerantrag auszuweiten (LT-Drs. 6/4806). Die Fraktionen begründeten ihr Anligen im Kern so (a.a.O. S. 2-3):

"Seit der ersten Reform der direkten Demokratie in Thüringen gab es in anderen Ländern teils erhebliche Weiterentwicklungen in der Ausgestaltung der Verfahrensregeln, in der Rechtsprechung zu diesen Verfahrensregeln sowie im Hinblick auf deren praktische Anwendung.

Dieser Gesetzentwurf verfolgt die Auffassung, dass eine Umgestaltung des Haushaltsvorbehalts mit der verfassungsrechtlichen Ewigkeitsgarantie nach Artikel 83 Abs. 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen vereinbar ist. Die Formulierung "zum Landeshaushaltsgesetz" als Ausschlussgrund für Volksbegehren ist nach dem Urteil des Berliner Landesverfassungsgerichts vom 6. Oktober 2009 (VerfGH 143/08) so auszulegen, dass nur der im laufenden Haushaltsvollzug befindliche jeweilige Landeshaushalt beziehungsweise das ihn betreffende Landeshaushaltsgesetz vom Zugriff durch Volksbegehren ausgenommen ist. Nur für diesen laufenden Haushalt hat das Parlament als Haushaltsgesetzgeber sein Budgetrecht schon so konkret fassbar ausgeübt, dass seine Gesetzgebungskompetenz mit einem Finanzvorbehalt vor unzulässigen Beeinträchtigungen durch die direkt-demokratische Volksgesetzgebung der Bürgerinnen und Bürger geschützt werden muss. Finanzielle Dispositionen als indirekte Auswirkungen von direkter Sachgesetzgebung auf zukünftige noch nicht vom Parlament konkretisierte Haushalte sind dagegen nach der Berliner Verfassungsrechtsprechung ungehindert möglich. Diesem Gedanken folgt auch der Gesetzentwurf.

Hinsichtlich der Quoren bei Volksbegehren und Volksentscheid gibt es in anderen Ländern mittlerweile Modelle mit deutlich niedrigeren Schwellen. Daher sollte es Thüringen wagen, auch diese für die Entwicklung und Anwendung der direkten Demokratie positive Modernisierung aus anderen Ländern zu übernehmen. Eine Halbierung der bisherigen Quoren ist daher sinnvoll und dennoch moderat. Das bedeutet: Bei freier Sammlung müssen zukünftig fünf Prozent der Stimmberechtigten unterschreiben statt zehn Prozent. Bei der Amtseintragung sind es zukünftig vier Prozent statt acht Prozent.

Einwohnerinnen und Einwohner Thüringens ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die derzeit noch kein Wahlrecht zum Landtag haben, sollen die Möglichkeit haben, Themen zur Diskussion an den Landtag heranzutragen. Deshalb sieht der vorliegende Gesetzentwurf vor, den bisherigen Bürgerantrag zu einem Einwohnerantrag zu erweitern und das Unterschriftenquorum für dieses modernisierte Instrument auf 10.000 Unterschriften zu senken. Dieser neue Einwohnerantrag trägt Themen zur Debatte an den Landtag heran, lässt dem Landtag aber die alleinige Entscheidungsbefugnis. Daher stößt der Umbau des Instruments auch auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ausländerwahlrecht im Jahr 1990 angeführten Gegenargumente treffen im vorliegenden Fall gar nicht zu.

Ebenfalls mit Blick darauf, dass mit dem Bürgerantrag beziehungsweise nun neuen Einwohnerantrag lediglich Themen zur Debatte in den Landtag eingebracht werden, dieser aber in seinen Entscheidungen autonom bleibt, ist es aus systematischen Gründen konsequent, die Ausschlusstatbestände gemäß Artikel 68 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen für den Bürgerantrag zu streichen. Klarstellend sollte in Artikel 68 ergänzt werden, dass sich Einwohneranträge auch auf Themen beziehen dürfen, die der Landtag als Antrag auf Bundesratsinitiative an die Landesregierung stellen beziehungsweise beschließen darf.

Da der Einwohnerantrag sich auf Debattenanregungen beschränkt, kann er sich auch von der Bindung an das geltende Wahl- beziehungsweise Stimmberechtigungsalter lösen. Er kann somit zu einem sinnvollen Instrument für frühzeitiges demokratisches Engagement werden. Daher ist es sinnvoll, Jugendlichen schon ab Vollendung des 14. Lebensjahres das Recht auf Beteiligung an einem Einwohnerantrag auf Landesebene zu geben. Bei der Neuformulierung sollten auch in Thüringen lebende Menschen berücksichtigt werden, die keinen gemeldeten Wohnsitz haben.

Als zusätzlichen Baustein zur Weiterentwicklung der Demokratie auf Landesebene greift der vorliegende Gesetzentwurf auch die Absenkung des Mindestalters zur Ausübung des aktiven Wahlrechts auf Landesebene auf. Die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre ermöglicht Jugendlichen noch früher die aktive, selbstbestimmte Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen sowohl für Wahlen als auch für Abstimmungen."

Nach der ersten Beratung im Plenum am 13. Dezember 2017 (PlPr. 6/103) führte der Innen- und Kommunalausschuß am 19. April 2018 eine öffentliche Anhörung durch. Beschlußempfehlung und -bericht sowie weitere Plenarberatungen sind auf der website des Landtages nicht nachgewiesen.

Auch diese Initiative verlief (wie die der CDU; vgl. oben sub a) also im Sande - kein gutes Zeichen für den Willen oder die Kraft der Fraktionen, sich im Interesse der Bevölkerung und ihrer aktiven Mitwirkung an der Politik zwischen den Wahlen lagerübergreifend zu verständigen.  

c) 2020/2021: Direkte Demokratie, Staatsziele, Staatsorganisationsrecht

Mehr als ein Jahr lang mühten sich die Regierungsfraktionen Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen um die Unterstützung der oppositionellen CDU-Fraktion für drei Initiativen zur Änderung der Landesverfassung, die sie 2020 eingebracht hatten (LT-Drs. 7/158 vom Januar 2020 - Direkte Demokratie; LT-Drs. 7/897 vom Juni 2020 - Staatsziele; LT-Drs. 7/ vom November 2020 - elektrronische Ausfertigung und Verkündung von Rechtsakten). Die CDU-Fraktion schickte ihrerseits im September 2020 zwei Initiativen ins Rennen (LT-Drs. 7/1628 - Staatorganisationsrecht, darunter eine Vervollständigung des für die Kommunen so wichtigen Konnexitätsprinzips; LT-Drs. 7/1629 - Ehrenamt und Gleichheit). Das Paket, das zu schnüren im Kern alle bereit waren, scheiterte nach Presseberichten vom 13. Juli 2021 daran, daß man sich auf alles außer der strikten Konnexität verständigen konnte. Ein weiteres – man ist versucht zu sagen: inzwischen (zwar nicht exklusiv, aber doch) typisch thüringisches – verfassungsrechtliches Trauerspiel. Mittrauernd verzichte ich diesmal auf die Verlinkung der einschlägigen Dokumente.  

17. Grundgesetz

a) 2014: Art. 91b Abs. 1 GG – Förderung von Wissenschaft und Forschung durch den Bund

Art. 91b Abs. 1 GG, der Bund und Länder ermächtigt, in Fällen überregionaler Bedeutung die Förderung von Wissenschaft und Forschung zu vereinbaren, soll dahin erweitert werden, daß anders als bisher künftig auch Einrichtungen (und nicht nur Vorhaben) an Hochschulen gefördert werden können; vgl. den Entwurf der Bundesregierung nebst der Stellungnahme des Bundesrates und der Gegenäußerung der Bundesregierung zu ihr in BT-Drs. 18/2710 vom 2. Oktober 2014 sowie die Anträge BT-Drs. 18/588 und 18/2747 von Bündfnis 90/Die Grünen bzw. der Linken.

Am 3. November 2014 hörte der BT-Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung dazu Sachverständige an. Darüber unterrichtet der Rundbrief des Bundestages vom selben Tage so:

"Berlin: (hib/ROL) Die von der Bundesregierung angestrebte Aufhebung des Kooperationsverbotes des Bundes mit den Ländern in der Wissenschaft stößt bei Experten auf ein positives Echo. Einigen der Sachverständigen ging dies während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am Montag zum „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)“ (18/2710) jedoch nicht weit genug, sie forderten eine Aufhebung auch für den Bildungsbereich. Neben dem Gesetzentwurf der Bundesregierung lagen der Anhörung Anträge der Fraktionen Die Linke (18/588) und Bündnis 90/Die Grünen (18/2747) zugrunde.Max-Emanuel Geis von der Universität Erlangen-Nürnberg riet dringend davon ab, im Rahmen eines Gesamtkonzeptes die Bildung mit zu integrieren. Das wäre auch zeitlich eine „Diskussion ad infinitum“ und auch „dogmatisch“ würde sich der Wissenschaftsbereich vom Bildungsbereich unterscheiden. Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), betonte die geplante Aufhebung als „notwendigen ersten Schritt“. Die Stärke des Hochschulsystems sei die Qualität und die Exzellenz in der Vielfalt. So könnten künftig zentrale bildungspolitische Ziele verfolgt werden, für die den Ländern allein die Finanzkraft fehle. Klaus Klemm von derUniversität Duisburg-Essen machte aber auch deutlich, dass das Gesetz lediglich die Spitze stärke. Durch die Grundgesetzänderung werde thematisch nicht die frühkindliche Bildung, der Ganztagesbereich von Schulen, die Inklusion, der Bereich für Ausbildung, und die benötigten Schulplätze für Flüchtlinge angegangen. Professor Wolfgang Löwer vom Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn warnte davor, die Verfassungsänderung auch für die Schulen durchzuführen. Aus staatsrechtlicher Sicht würde die Mitfinanzierung der Schulen durch den Bund die föderale Struktur verändern. Im Bildungsbereich solle man lieber über eine Neuregelung der Finanzströme zwischen Bund und Ländern nachdenken. Thomas May, Generalsekretär des Wissenschaftsrates (WR), sagte, dass die Länder auch aufgrund ihrer unterschiedlichen finanziellen Leistungsfähigkeit überfordert sein werden, ihr Wissenschaftssystem aus eigener Kraft zukunftssicher zu finanzieren.Joybrato Mukherjee, Vizepräsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) machte auf die internationalen Herausforderungen aufmerksam, vor denen die Hochschulen stünden. Aufstrebende Bildungsnationen wie Brasilien, China, Indien und Russland hätten ihre Ausgaben für den Wissenschaftsbereich massiv erhöht. Auch Staatssekretär Marco Tullner (CDU) vom Ministerium für Wissenschaft und Wirtschaft Sachsen-Anhalt und Vertreter der Kultusministerkonferenz (KMK), begrüßte im Hinblick auf die internationale Konkurrenz den Gesetzentwurf und dankte dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Leistungen der letzten Jahre insgesamt. „Das ist eine gemeinsame Anstrengung und die Erfolge können sich ja durchaus sehen lassen“, sagte der Vertreter der KMK und der LänderMargrit Seckelmann vom Deutschen Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer begrüßte das Gesetz als einen guten Schritt in die richtige Richtung. Da es keine Spitze ohne Breite gebe, plädierte sie für mehr Kooperation von Bund und Ländern in der Bildung. Auch Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), plädierte für eine weitergehende Änderung des Artikels 91b und sprach von einem „Kooperationsgebot“. Sie forderte, in den Gesetzentwurf den Bildungsbereich mit aufzunehmen."

Am 13. November 2014 beschloß der Bundestag in zweiter Lesung das Gesetz mit großer Mehrheit. Über die Plenardebatte berichtet die website des Bundestages so:

"Kooperation von Bund und Ländern in der Wissenschaft: Mit 482 Ja-Stimmen bei 54 Nein-Stimmen und 56 Enthal-ungen hat der Bundestag am 13. November in namentlicher Abstimmung den Artikel 91b des Grundgesetzes (Bildungspla-nung und Förderung der Forschung) geändert. Nach Artikel 79 Absatz 2 des Grundgesetzes sind für Grundgesetzänderun-gen Zweidrittelmehrheiten sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat erforderlich. Der Gesetzentwurf der Bundesregie-rung (18/2710) wurde auf Empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18/3141) unverändert angenommen. In zweiter Lesung hatte die Linksfraktion dagegen gestimmt, die Grünen hatten sich enthalten. Durch die Neufassung des Artikels 91b Absatz 1 des Grundgesetzes soll ermöglicht werden, dass Bund und Länder bei der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre in Fällen überregionaler Bedeutung umfassend zusammenarbeiten können. Vor allem soll es diese erweiterte Kooperation erlauben, neben Vorhaben auch Einrichtungen der Hochschulen langfristig zu fördern. Auch sollen die nationalen und internationalen Perspektiven durch die Möglichkeit einer gemeinsa-men Grundfinanzierung der Hochschulen durch Bund und Länder gestärkt werden. Die Regierung sieht darüber hinaus Perspektiven für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Mit der Föderalismusreform II war im Jahr 2006  ein „Kooperationsverbot“ von Bund und Ländern auf diesem Gebiet in das Grundgesetz eingeführt worden, das nun teilweise rückgängig gemacht wird. Gegen das Votum der Linken lehnte das Parlament einen Antrag dieser Fraktion (18/588) ab, das „Kooperationsverbot“ abzuschaffen und eine Gemeinschaftsauf-gabe „Bildung“ im Grundgesetz zu verankern. Bei Enthal-tung der Linken scheiterten auch die Grünen mit einem Antrag (18/2747), das „Kooperationsverbot“ zu kippen und eine Zusammenarbeit von Bund und Ländern „für bessere Bildung und Wissenschaft“ zu ermöglichen. Mit 538 Nein-Stimmen bei 54 Ja-Stimmen lehnte der Bundestag einen Änderungsantrag der Linken (18/3161) ab, wonach die Kooperationsmöglich-keit auch auf den Bereich der Bildung ausgedehnt werden soll. Mit 482 Nein-Stimmen bei 56 Ja-Stimmen und 54 Enthal-tungen scheiterten die Grünen mit einem Änderungsantrag (18/3162), wonach und Länder auf der Basis von Vereinbarun-gen zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklung des Bildungswesens zusammenarbeiten können sollten. Bei Enthaltung der Grünen fand ein Entschließungsantrag der Linken (18/3164) keine Mehrheit, in dem eine Grund-gesetzänderung zugunsten einer gemeinsamen Finanzierung wichtiger Bildungsaufgaben vorgeschlagen worden war."

Der Bundesrat hat am 19. Dezember 2014 dem Gesetzesbeschluß zugestimmt (BR-Drs. 570/14). Die Änderung wurde am 23. Dezember 2014 ausgefertigt und am 31. Dezember 2014 verkündet. Sie trat am 1. Januar 2015 in Kraft.

b) 2016/17 I: Länderfinanzausgleich ab 2020

Am 14. Dezember 2016 beschloß das Bundeskabinett auf der Grundlage der zuvor zwischen Bund und Ländern ausgehandelten Verständigung über den Länderfinanzausgleich ab 2020 einen Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c, 107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f, 143g) = BR-Drs. 769/16 vom 15. Dezember 2016 und einen begleitenden Entwurf zur Änderung einfachgesetzlicher Regelungen (Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des bundesstaaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushaltsrechtlicher Vorschriften) = BR-Drs. 814/16.

In der Pressemitteioung des Bundesministeriums für Finanzen vom selben Tage heißt es dazu:

"Beziehungen zwischen Bund und Ländern werden modernisiert

Die Finanz- und Verwaltungsbeziehungen zwischen Bund und Ländern werden künftig umfassend neu geregelt. Die Länder werden zur Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zusammen ab dem Jahr 2020 in Höhe von etwas über 9,7 Mrd. Euro jährlich finanziell entlastet. Gleichzeitig wird die Aufgabenerledigung im Bundesstaat in wichtigen Bereichen modernisiert und die Rolle des Bundes gestärkt. Nummer 26 Dazu hat das Bundeskabinett am 14. Dezember 2016 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes sowie den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushaltsrechtlicher Vorschriften beschlossen. Mit den beiden Gesetzentwürfen werden der Beschluss der Regierungschefinnen und Regierungschefs von Bund und Ländern vom 14. Oktober 2016 sowie die Einigung vom 8. Dezember 2016 über die Konkretisierung in den Gesetzentwürfen umgesetzt.

Der Entlastungsbetrag von etwas über 9,7 Mrd. Euro basiert auf der aktuellen Steuerschätzung vom November 2016 für das Jahr 2020. Die Schätzung entspricht inhaltlich unverändert dem Verhandlungsergebnis vom 14. Oktober 2016. Der damals kommunizierte Betrag von rund 9,5 Mrd. Euro bezog sich auf das Jahr 2019 und basierte zudem auf der Steuerschätzung vom Mai 2016.

Ein Großteil der Länderentlastung ab 2020 erfolgt über den bundesstaatlichen Finanzausgleich. Die geltenden Regelungen des Finanzausgleichs laufen nach aktueller Rechtslage im Jahr 2019 aus. Zum anderen enthält der Entlastungsbetrag die Fortsetzung von bereits heute geltenden B Z W. ähnlich geltenden Regelungen wie den Entflechtungsmitteln (künftig als Umsatzsteuerfestbetrag in gleicher Höhe), der Gemeindeverkehrsfinanzierung, den Finanzhilfen für Seehäfen, den Sanierungshilfen für Bremen und Saarland anstelle der heutigen Konsolidierungshilfen sowie den besonderen Hilfen für die ostdeutschen Länder, die an die Stelle des Ende 2019 wegfallenden Solidarpakts II treten.

Durch die Neuregelung wird Rechtssicherheit und Planungssicherheit für Bund und Länder geschaffen: 

  • Der Länderfinanzausgleich im engeren Sinne wird in seiner derzeitigen Form ebenso abgeschafft wie der Umsatzsteuervorausgleich.
  • Die Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer erfolgt zukünftig grundsätzlich nach Maßgabe der Einwohnerzahl. Die unterschiedliche Finanzkraft der Länder wird durch Zu- und Abschläge zum angemessenen Ausgleich der Finanzkraftunterschiede berücksichtigt. Die nähere Ausgestaltung dieses Ausgleichs erfolgt in enger Anlehnung an den bisherigen Finanzausgleich unter den Ländern.
  • Zur besonderen Entlastung des Saarlands und der Freien Hansestadt Bremen kann der Bund künftig Sanierungshilfen gewähren. Die Länder ergreifen gleichzeitig Maßnahmen zum Abbau der übermäßigen Verschuldung sowie zur Stärkung der Wirtschafts- und Finanzkraft.
  • Daneben werden die Voraussetzungen für die Weitergewährung der Finanzhilfen des Bundes in den Bereichen „Seehäfen“ und „Gemeindeverkehrsfinanzierung“ geschaffen. Die Änderungen des Grundgesetzes sehen vor, dass der Bund den Ländern Finanzhilfen ab 2020 in Höhe von rd. 330 Mio. Eurojährlich gewährt. 

Außerdem sind durch die Gesetzentwürfe weitreichende Maßnahmen zur Verbesserung der Aufgabenerledigung im Bundesstaat vorgesehen:

  • Der Stabilitätsrat wird gestärkt und soll ab 2020 auch die Einhaltung der Schuldenbremse durch Bund und Länder überwachen. Dabei wird er sich an europäischen Vorgaben orientieren. Dies stärkt den Stabilitätsrat.

  • Der Bund erhält die alleinige Verantwortung für Planung, Bau, Betrieb, Erhaltung, Finanzierung und vermögensmäßige Verwaltung der Bundesautobahnen. Er kann sich zur Erledigung dieser Aufgaben einer Gesellschaft privaten Rechts bedienen. Ziel der Regelungen ist die Beseitigung  der bestehenden erheblichen Reibungsverluste durch eine Entflechtung von Landes- und Bundeszuständigkeiten. Die Schaffung von deutlich effizienteren Strukturen sichert  die Zukunftsfähigkeit des Verkehrsnetzes. Das unveräußerliche Eigentum am Streckennetz und der Gesellschaft privaten Rechts wird im Grundgesetz festgeschrieben, d.h. das Eigentum liegt vollständig beim Bund.
  • Für eine zielgerichtete und effiziente Förderung von Investitionen in gesamtstaatlich bedeutsamen Bereichen erhält der Bund mehr Einwirkungsrechte bei Finanzhilfen. Künftig werden die Arten der zu fördernden Investitionen und die Grundzüge der Ausgestaltung der Länderprogramme zur Verwendung der Finanzhilfen durch eine bundesrechtliche Regelung mit Zustimmung des Bundesrates oder durch Verwaltungsvereinbarung geregelt.
  • Des Weiteren wird eine Mitfinanzierungskompetenz des Bundes für bedeutsame Investitionen finanzschwacher Kommunen im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur eröffnet, um eine gezieltere Förderung insbesondere finanzschwacher Kommunen zu ermöglichen. Der Bund wird dafür den seit 2015 existierenden Kommunalinvestitionsförderungsfonds um weitere 3,5 Mrd. Euro aufstocken.
  • Darüber hinaus werden die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Voraussetzungen für die Einrichtung eines verbindlichen, bundesweiten Portalverbunds geschaffen, über den alle Bürger einfach und sicher auf die Online-Anwendungen der öffentlichen Verwaltung von Bund und Ländern zugreifen können. Bund und Länder werden verpflichtet, alle ihre Verwaltungsleistungen online anzubieten. Hierfür ist eine Übergangsfrist von fünf Jahren vorgesehen. Danach soll der Gang zur Behörde nicht mehr erforderlich sein, wenn der Nutzer dies nicht möchte. Ausgenommen sind lediglich Verwaltungsleistungen, die sich nicht für die Onlineabwicklung eignen (z.B. Abholung des Personalausweises). Von dem Gesetz sollen Bürgerinnen und Bürger genauso profitieren wie Unternehmen. ▪ Schließlich werden die Kompetenzen des Bundes in der Steuerverwaltung insbesondere im Bereich der Informationstechnik gestärkt und Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofs bei Mischfinanzierungen in der Verfassung verankert. 
  • Schließlich werden die Kompetenzen des Bundes in der Steuerverwaltung insbesondere im Bereich der Informationstechnik gestärkt und Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofs bei Mischfinanzierungen in der Verfassung verankert."

Der Bundesrat hat zu dem Entwurf in seiner Sitzung am 10. Februar 2017 im ersten Durchgang Stellung genommen. Er begrüßt das Vorhaben grundsätzlich (und, soweit es der vorangegangene Bund-Länder-Übereinkunft entspricht, nicht überraschend). Gleichzeitig regt er eine Reihe von Änderungen an (BR-Drs. 769/16 [Beschluß]). Entwurf und Stellungnahme liegen unter dem 13. Februar 2017 in der BT-Drs. 18/11131 vor. Die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates wurde am 15. Februar 2017 (BT-Drs. 18/11185) nachgereicht. Die erste Lesung im Bundestag fand am 16. Februar 2017 statt, die 2. und 3. Lesung auf der Grundlage der Berichte und Empfehlungen des Haushaltsausschusses (BT-Drs. 18/12588, 18/12589) am 1. Juni 2017 (BT-PlPr. 18/237). Der Bundesrat stimmte am 2. Juni 2017 zu. Das Gesetz wurde am 13. Juli 2017 ausgefertigt und am 19. Juli verkündet (BGBl. I S. 2347). Es trat am 20. Juli 2017 in Kraft.

 c) 2016/2017 II: Art. 105 GG Grundsteuer

Unter dem 21. Dezember 2016 lag dem Bundestag eine Initiative des Bundesrates (mit Stellungnahme der Bundesregierung) vor, die durch Änderung des Art. 105 GG eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für die Grundsteuer schaffen möchte (BT-Drs. 18/10751). In "Heute im Bundestag" heißt es (unter dem 6. Januar 2017) dazu zusammenfassend:

"Der Bund soll die Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer erhalten. Dies fordert der Bundesrat in dem von ihm eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Artikels 105 des Grundgesetzes (18/10751). Ziel des Gesetzes ist es, dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer und damit auch für die zur Grundsteuer gehörenden Bewertungsfragen ausdrücklich zu übertragen. 

Wie der Bundesrat erläutert, wollen die Länder eine Reform der Grundsteuer auf Grundlage eines Bundesgesetzes erreichen. Dabei soll ein völlig neues Bewertungsverfahren geschaffen werden. Ob dem Bund dafür die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zustehe, werde teilweise angezweifelt, heißt es in der Begründung. Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes sei aber wünschenswert, um die Vollzugs- und Befolgungskosten in Grenzen zu halten. Mit der Änderung des Grundgesetzes werde diese Kompetenz ausdrücklich übertragen. Die Länder sollen nach dem Willen des Bundesrates die Kompetenz zur Festlegung der Steuermesszahlen bei der Grundsteuer erhalten."

Die Initiative hat sich mit dem Ablauf der 18. Wahlperiode vorerst erledigt. Im Blick auf die seinerzeit bevorstehende (und am 10. April 2018 ergangene) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Einheitsbewertung von Grundstücken war sie im Bundestag nicht weiter behandelt worden.

d) 2017: Art. 21 GG – keine staatliche Finanzierung verfassungsfeindlicher Parteien 

Den Antrag des Bundesrates, die Verfassungswidrigkeit der NPD gemäß Art. 21 Abs. 2 GG festzustellen, wies das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 17. Januar 2017 zurück. Die Partei habe nicht das von Art. 21 Abs. 2 GG vorausgesetzte Potential, ihre verfassungsfeindlichen Ziele umzusetzen. Polizei- und Strafrecht reichten aus, um die Partei im Zaum zu halten. Und, fügte der Präsident bei der Verkündung (nicht aber das Gericht in den Urteilsgründen oder in seiner Pressemitteilung) hinzu, es sei Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die verfassungsfeindliche Organisation weiterhin finanziell fördere.

Den Wink nahmen drei Länder zum Anlaß, im Bundesrat aktiv zu werden. Das Saarland und Rheinland-Pfalz reichten unter dem 31. Januar 2017 Entschließungsanträge ein (BR-Drs. 95/17, 99/17). Niedersachsen legte unter dem 2. Februar 2017 den Entwurf eines entsprechenden Gesetzes vor (BR-Drs. 113/17). Danach soll Art. 21 GG so ergänzt werden:

Dem Absatz 1 soll als Satz 5 hinzugefügt werden: „Eine Teilfinanzierung der allgemeinen Tätigkeit der Parteien aus staatlichen Mitteln ist zulässig.“ und dem Absatz 3 als Satz 2 „Parteien, die Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland verfolgen, können auf Grund eines Gesetzes von der staatlichen Teilfinanzierung der Parteien ausgeschlossen werden.“ 

Weitere Artikel sehen Änderungen des Parteiengesetzes („Parteien, die Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland verfolgen, sind von der Teilfinanzierung ausgeschlossen.“), der Verwaltungsgerichtsordnung (Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts) und des Einkommensteuergesetzes vor.

Die Klarstellung im neuen Satz 5 des Absatzes 1 ist überfällig, sofern man die Finanzierung der Parteien aus Steuermitteln überhaupt für angemessen hält. Der neue Satz 2 des Absatzes 3 ist mißlungen, weil er den Unterschied zu Absatz 2 nicht erkennen läßt. Dazu hätte die vom Gericht frisch ersonnene (und dem deutlichen Wortlaut und urpsrünglichen Sinn des Absatzes 2 widersprechende) Potential-Hürde in den Absatz 2 aufgenommen werden müssen. Mißlungen ist Satz 2 auch, weil er eine Ermächtigung und kein Gebot (das dann erst das Parteiengesetze enthalten soll) enthält; denkt Niedersachsen, daß der einfache Gesetzgeber sich auch einmal dafür entscheiden könnte, verfassungsfeindliche Parteien auch in Zukunft - so wie derzeit - zu finanzieren?

Insgesamt (und unabhängig von seinem Inhalt) verstößt der Entwurf gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Verfassungsänderung verkündet und in Kraft getreten sein muß, ehe die einfachgesetzlichen Regelungen, die auf dieser Verfassungsänderung beruhen (hier: Artt. 2-4 des Entwurfs), ausgefertigt und verkündet werden (BVerfGE 34, 9 [22-27]; 123, 267 [301]). Das läßt sich einfach heilen, indem der Entwurf in zwei Teile aufgespalten wird, die - selbst wenn sie gleichzeitig beschlossen werden, so doch - nacheinander verkündet werden und in Kraft treten; das Sekretariat des Innenausschusses hat einen entsprechenden Hinweis erhalten.

In seiner 953. Sitzung (am 10. Februar 2017) verabschiedete der Bundesrat auf der Grundlage der beiden Entschließungs-Anträge einstimmig einen Beschluß (BR-Drs. 95/17 [Beschluß]) und überwies er den Gesetzentwurf an den Innenausschuß (federführend) und den Rechtsausschuß zur weiteren Beratung.

Unter dem 16. Februar 2017 hat Niedersachsen das erwähnte redaktionelle Versehen beseitigt und zwei getrennte Entwürfe (Drs. 153/17 zur Grundgesetzänderung und Drs. 154/17 zur Änderung einfacher Gesetze) vorgelegt.

Nach Beratungen in den Ausschüssen (vgl. BR-Drs. 153/1/17 und 154/1/17) legten alle Länder unter dem 10. März 2017 je einen gemeinsamen Antrag zur Änderung des Grundgesetzes (BR-Drs. 153/2/17) und zu einem Begleitgesetz (BR-Drs. 154/2/17) vor, denen der Bundesrat in seiner 954.Sitzung vom 10. März 2017 einmütig zustimmte (153/17 [Beschluß]); 154/17 [Beschluß]). 

Der Entwurf einer Grundgesetzänderung sieht nun zentral als neue Absätze 3 und 4 des Art. 21 GG vor:

„(3) Parteien, die Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland verfolgen, sind von einer staatlichen Teilfinanzierung oder steuerlichen Begünstigung ausgeschlossen.

(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer Partei nach Absatz 2 sowie den Ausschluss einer Partei von einer Teilfinanzierung aus staatlichen Mitteln nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ 

Beide Ideen - Ausschluß von der Finanzierung, nicht bloße Ermächtigung zum Ausschluß, sowie Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, nicht des Bundesverwaltungsgerichts - sind zu begrüßen.

Die beiden Gesetzentwürfe des Bundesrates wurden unter dem 26. April 2017 dem Bundestag vorgelegt (BT-Drs. 18/12100 und 18/12101). Die sehr bemerkenswerte (um nicht zu sagen: etwas zickige) Stellungnahme der Bundesregierung zu den Entwürfen a.a.O. lautete: 

"Die gesetzliche Ausgestaltung des Parteienrechts einschließlich des Rechts der Parteienfinanzierung wird nach der Staatspraxis vom Deutschen Bundestag auf der Grundlage eigener Initiativen wahrgenommen. Die Bundesregierung enthält sich daher einer Bewertung." 

Der Bundestag hat über die Entwürfe des Bundesrates – und zwei Entwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD (seit dem 17. Mai als BT-Drs. 18/12357 und BT-Drs. 18/12358 von der website des Bundestages abrufbar; zuvor hatte das Bundesinnenministerium "Formulierungshilfen" in die Welt jenseits des Netzes gesetzt) – in erster Lesung am 19. Mai 2017 (BT-PlPr. 18/235) beraten und sie an den Innenausschuß überwiesen. Der Innenausschuß führte am 29. Mai 2017 eine Anhörung durch und empfahl am 21. Juni 2017, die Fraktionsentwürfe anzunehmen und die Bundesratsentwürffe (unabhängig vom Maß der Übereinstimmung) für erledigt zu erklären (BT-Drs. 18/12846). Dem folgte der Bundestag in 2. und 3. Lesung am 22. Juni 2017 (BT-PlPr. 18/240). 

Der Bundesrat stimmte am 7. Juli 2017 (BR-Drs. 508/17 [B]) zu. Das den Art. 21 GG ändernde Gesetz wurde am 13. Juli 2017 ausgefertigt und am 19. Juli 2017 verkündet (BGBl. I S. 2346). Es trat am 20. Juli 2017 in Kraft.

Die einfachgesetzlichen Folgeänderungen wurden – wie es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört – nach dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung ausgefertigt und verkündet (Gesetz vom 14. August 2017, BGBl. I S. 3122).

e) 2019 I: Artt.104b, 104c, 104d, 125c, 143e GG

Unter dem 18. Juli 2018 hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 104c, 104d, 125c, 143e) - BT.-Drs. 19/3440 (Entwurf, Stellungnahme des Bundesrates, Gegenäußerung der Bundesregierung) - im Bundestag eingebracht, der Finanzhilfen des Bundes für die Gemeinden und Länder erleichtern bzw. ermöglichen soll. Im einzelnen geht es - in den zusammenfassenden Worten des Nachrichtendienstes des Deutschen Bundestages (hib) vom 23. Juli 2018 um dies:

"Berlin: (hib/HLE) Der Bund will den Kommunen bei der Verbesserung der Bildungsinfrastruktur und beim Bau von neuem bezahlbaren Wohnraum stärker helfen. Dafür sollen bestehende Vorschriften es Grundgesetzes, die eine solche Mitfinanzierung behindern oder sogar ausschließen, geändert werden. Die Bundesregierung hat dazu den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Artikel 104c, 104d, 125c und 143e - (19/3440) eingebracht. Durch Aufhebung der Beschränkung der Finanzhilfekompetenz des Bundes zur Mitfinanzierung von Investitionen auf finanzschwache Kommunen in Artikel 104c soll die Möglichkeit des Bundes erweitert werden, Länder und Kommunen bei ihren Investitionen in die kommunale Bildungsinfrastruktur, insbesondere Ganztagsschul- und Betreuungsangebote, Digitalisierung und berufliche Schulen zu unterstützen. "Die Bildungsinfrastruktur muss aufgrund der gewachsenen Herausforderungen gemeinsam von Bund und Ländern verbessert werden", appelliert die Regierung. Die IT-Infrastrukturen müssten ebenso verbessert werden wie die ganztätige Bildung und Betreuung von Kindern im Grundschulalter. 

Durch Aufnahme eines zusätzlichen Artikels 104d in das Grundgesetz soll dem Bund die Möglichkeit gegeben werden, den Ländern zweckgebunden Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen der Länder und Kommunen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus zu gewähren. Dabei werde auf die Vorgabe einer Befristung und degressiven Ausgestaltung verzichtet. Die Unterversorgung mit bezahlbarem Wohnraum habe sich zu einem gesamtstaatlichen Problem entwickelt", begründet die Regierung ihren Vorstoß. 

Eine dritte Grundgesetzänderung betrifft den Artikel 125c. Dadurch soll die Möglichkeit einer sofortigen Erhöhung und Dynamisierung der Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz geschaffen werden. Damit könnten Bundesprogramme zu den Schienenwegen aufgehoben, geändert oder neu aufgelegt werden. In Artikel 143e soll eine Öffnungsklausel im Bereich der Bundesfernstraßenverwaltung hinsichtlich Planfeststellung und Plangenehmigung ergänzt werden. 

Der Bundesrat verlangt in seiner Stellungnahme eine Flexibilisierung und Vereinfachung des Mitteleinsatzes bei der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" sowie eine Reduzierung des Anteils der Kommunen an bestimmten Sozialleistungen. In ihrer Gegenäußerung sagt die Bundesregierung zu, die Änderungswünsche bei der Gemeinschaftsaufgabe zu prüfen. Andere Wünsche der Länder werden abgelehnt."

Die erste Lesung im Bundestag fand am 28. September 2018 statt (BT-PlPr. 19/53, S. 5689-5710). Von der Opposition zeigten sich Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und die FDP nicht grundsätzlich abgeneigt. Das Plenum überwies die Vorlagen zur Beratung an den Haushaltsausschuß, der am 8. Oktober 2018 eine öffentliche Anhörung durchführte. Über sie berichtet der Nachrichtendienst des Bundestages (hib) mit diesen Worten: 

"Die von der Bundesregierung geplanten Änderungen im Grundgesetz, um etwa Finanzhilfen des Bundes im Bereich der Bildungsinfrastrukturen sowie beim sozialen Wohnungsbau zu ermöglichen, sind am Montagmittag während einer öffentlichen Anhörung im Haushaltsausschuss auf ein geteiltes, teils sehr kritisches Echo gestoßen. Außer zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/3440) nahmen die geladenen Experten und Verbandsvertreter zu Anträgen der AfD (19/4543) und Linken (19/13) sowie einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen FDP und Bündnis 90/Die Grünen (19/4556) Stellung. Die Anträge beziehen sich auf die Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bildungsbereich. 

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht unter anderem vor, dass durch eine Änderung des Artikels 104c Grundgesetz der Bund künftig den Ländern Mittel für "für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen" von Kommunen und Ländern "im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur" gewähren können soll. Die Bundesregierung will damit die Voraussetzungen schaffen, den sogenannten Digitalpakt Schule umzusetzen. Diese Finanzhilfen sollen befristet und degressiv ausgestaltet werden. Diese Einschränkung ist für den von der Bundesregierung vorgeschlagenen neuen Artikel 104d nicht vorgesehen. Diese Norm soll dem Bund ermöglichen, Kommunen beim sozialen Wohnungsbau finanziell unter die Arme zu greifen. Gegenstand des Gesetzentwurfes sind zudem die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs in den Kommunen sowie eine Änderung mit Bezug zur Neuordnung der Zuständigkeiten bei den Bundesautobahnen. 

Zustimmend äußerte sich in der Anhörung Verena Göppert vom Deutschen Städtetag. Die Bildung sei eine gesamtstaatliche Aufgabe, es sei daher richtig, dass der Bund über Finanzhilfen unterstützen kann. "Wir sehen den Bund mit in der Pflicht", sagte Göppert. Der Vorschlag der Bundesregierung sei gut und richtig. Hans-Günter Henneke vom Deutschen Landkreistag sprach sich hingegen gegen die Vorschläge der Bundesregierung aus. Finanzhilfen seien nicht der richtig Weg, vielmehr müssten die Kommunen finanziell grundsätzlich besser ausgestattet werden. 

Ähnlich argumentierte Thomas Lenk (Universität Leipzig). Tatsächlich sei die Primärverteilung der Staatseinnahmen reformbedürftig. Lenk schlug vor, die Umsatzsteuerverteilung vertikal und horizontal anzugehen. Letzteres sei nötig, da nach dem aktuellen Modus der horizontalen Verteilung wirtschaftsstarke Kommunen bevorteilt würden. 

Der Bundesrechnungshof schlug vor, im Artikel 104b Absatz 2 Grundgesetz, die Zusätzlichkeit der Bundesmittel festzuschreiben. Damit solle verhindert werden, dass der Bund durch die Finanzhilfen Ersatzinvestition leiste und die Länder keine eigenen Mittel aufbringen müssten. Auch der Rechnungshof betonte, dass die Verteilung der Steuereinnahmen gegebenenfalls ein gangbarer Weg sei, um die Länder für die Erfüllung ihrer Aufgaben entsprechend auszustatten. 

Ulrich Vosgerau (Universität zu Köln) bezweifelte in der Anhörung, ob die vom Bundesrechnungshof geforderte Vorgabe umgesetzt werden könne. Grundsätzlich warnte Vosgerau vor "verfassungswidrigem Verfassungsrecht". Zwar möge die von der Bundesregierung vorgeschlagene Reform "gerade noch" verfassungsgemäß sein. Aber der eingeschlagene Weg, dem Bund bei einer eigentlich den Ländern obliegenden Aufgabe zunehmende Mitspracherechte einzuräumen, könne laut Vosgerau auf längere Sicht gegen die in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz normiere Ewigkeitsgarantie verstoßen. 

Christian Seiler (Eberhard Karls Universität Tübingen) sah hingegen nicht, dass die vorgeschlagenen Änderungen Gefahr laufen würden, verfassungswidrig zu sein. Es müssten aber die Auswirkungen der Änderungen im Blick behalten werden. Seiler warnte mit Verweis auf das Bundesstaatsprinzip darauf, dass Mischfinanzierungen "demokratisch bedenklich" seien. Eine Verflechtung von Zuständigkeiten laufe demnach der klaren Zuweisung von Verantwortung zuwider. Seiler verwies ebenfalls auf die Möglichkeiten, im Sinne der Artikel 106 und 107 Grundgesetz an der Steuerverteilung zu arbeiten. Eine Gemeinschaftsaufgabe - statt der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Finanzhilfen - im Bildungsbereich sei allerdings die "schlechteste Lösung", da die Verantwortungszuweisung dann unklar sei, sagte Seiler.

Ulrich Häde (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)) betonte ebenfalls, dass Finanzhilfen des Bundes eigentlich Ausnahmen bleiben sollten. Eine degressive und befristete Ausgestaltung sei sinnvoll. Dies berühre aber nicht die Verfassungsmäßigkeit der vorgeschlagenen Änderungen. Hier sei noch "viel Spielraum", sagte Häde. 

Johannes Hellermann (Universität Bielefeld) sagte, Kurzfristigkeit sei bei Investitionshilfen des Bundes nicht erforderlich. Die unbefristete Ausgestaltung, die die Bundesregierung im neuen Artikel 104d Grundgesetz vorschlägt, sei daher in Ordnung. Mit Blick auf die Frage, ob der Bund mit den vorgeschlagenen Änderungen zu viele Kompetenzen im Bildungsbereich erlange, sagte Hellermann, dass die Änderung im 104c Grundgesetz zwar einen größeren Einfluss für den Bund bedeuten würde. Allerdings wäre eine Änderung im Artikel 91b Grundgesetz, der die Zusammenarbeit von Bund und Ländern "in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre" regelt, ein größerer Eingriff in den Aufgabenbereich der Länder. 

Für eine stärke Rolle des Bundes im Bildungsbereich sprach sich Berthold Wigger (Karlsruher Institut für Technologie) aus. Die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderungen gingen nicht weit genug. Der Bund müsse sich dauerhaft und über die Infrastruktur hinaus finanziell in den Bereich einbringen. Mit nationalen Bildungsstandards könne zudem ein "wohlfahrtsfördernder Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern" erreicht werden, schrieb Wigger in seiner Stellungnahme.

Kai Maaz (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung) sprach sich für ein "partizipatives Steuerungsmodell" im Bildungsbereich aus. Die Verantwortung solle zwar letztlich bei den Ländern verbleiben, Bund und Länder müssten aber gemeinsam die Rahmenbedingungen schaffen. Zeitlich befristete Hilfen seien dabei nicht zielführend. Für die Herausforderungen, die sich aus Digitalisierung, Inklusion und Disparitäten im Bildungsbereich ergeben würden, brauche es neue Konzepte, da sie aktuell in "Form eines Fleckenteppichs" bearbeitet würden, forderte Maaz.

Katja Rietzler (Institut für Makroökonomie der Hans-Böckler-Stiftung) verwies auf den milliardenschweren Investitionsstau in den Kommunen. Um diesen zu überwinden, brauche es eine dauerhafte und sichere Finanzierung. In ihrer Stellungnahme schlug Rietzler unter anderem vor, dass der Bund einen Teil der Kassenkredite hochverschuldeter Kommunen übernehmen könne. Um Länder und Kommunen finanziell besser auszustatten, sei zudem eine näherungsweise Integration des Solidaritätszuschlags in die Einkommenssteuer denkbar, statt ihn abzuschaffen, heißt es in der Stellungnahme."

Am 28. November 2018 faßte der Haushaltsausschluß seine Beschlüsse, über die der Nachrichtendienst des Bundestages am selben Tag so berichtete:

"Berlin: (hib/SCR) Der Haushaltsausschuss hat am Mittwochnachmittag den Weg für wesentliche Änderungen in der Finanzverfassung des Grundgesetzes bereitet. Mit Stimmen der Vertreter der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen beschloss der Ausschuss Änderungen im Grundgesetz, die Finanzhilfen im Bildungsbereich sowie beim sozialen Wohnungsbau erweitern beziehungsweise ermöglichen sollen. Weitere Änderungen beziehen sich auf die Gemeindeverkehrswegefinanzierung sowie Bundesautobahnen. Die Vertreter der AfD-Fraktion stimmten gegen den Entwurf. Die abschließende Beratung ist für Donnerstagmorgen geplant. Für die Änderungen ist eine absolute Zweidrittelmehrheit nötig. Der Bundesrat ist bei den Grundgesetzänderungen zustimmungspflichtig [recte: Die Grundgesetzänderungen bedürfen der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.]. 

Gegenüber dem Entwurf der Bundesregierung (19/3440) beschloss der Ausschuss auf [der] Grundlage eines gemeinsamen Änderungsantrages von Koalition, FDP und Grünen eine weitergehende Fassung des Artikels 104c Grundgesetz. Künftig soll der Bund demnach den Ländern "zur Sicherstellung der Qualität und der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie mit diesen verbundene besondere unmittelbare Kosten der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren" können. Neu sind dabei die Zielsetzung ("Sicherstellung der Qualität und der Leistungsfähigkeit") sowie die Einbeziehung der zusätzlichen Kosten. Bisher erlaubt der Artikel 104c Grundgesetz Finanzhilfen des Bundes an die Länder "für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen der finanzschwachen Gemeinden (Gemeindeverbände) im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur". Der Regierungsentwurf sah vor, die Finanzhilfen durch Hinzunahme der Länder und die Streichung des Wortes "finanzschwach" zu erweitern.

Anlass der von der Bundesregierung angestrebten Verfassungsänderungen ist das Vorhaben der Koalition, über den sogenannten "Digitalpakt Schule" mehrere Milliarden Euro in die digitale Infrastruktur in Schulen zu investieren. Die Mittel sollen dabei über ein Sondervermögen "Digital Infrastruktur" des Bundes an die Länder fließen. Den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung des Sonder[ver]mögens (19/4720) beschloss der Ausschuss ebenfalls mit Stimmen von Koalition, FDP, Grünen und Linken bei Ablehnung der AfD. 

Teil der von Koalition, FDP und Grünen vorgeschlagenen und beschlossenen Änderungen ist zudem ein Zusätzlichkeits-Kriterium im Artikel 104b Absatz 2 Satz 5 Grundgesetz. Damit soll sichergestellt werden, dass die Länder bei künftigen Finanzhilfen die Mittel des Bundes "in jeweils mindestens gleicher Höhe durch Landesmittel für den entsprechenden Investitionsbereich" ergänzen. Im Artikel 125c Grundgesetz wird dazu ein neuer Absatz 3 eingefügt, nach dem dieses Kriterium nur auf Regelungen zu Finanzhilfen zutrifft, die nach dem 31. Dezember 2019 in Kraft treten. Bestehende Finanzhilfen oder im kommenden Jahr in Kraft tretende sind davon nicht betroffen. 

Inhaltlich überwiegend unverändert blieb die Neuregelung zum sozialen Wohnungsbau. Durch Aufnahme eines zusätzlichen Artikels 104d Grundgesetz soll dem Bund die Möglichkeit gegeben werden, den Ländern zweckgebunden Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen der Länder und Kommunen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus zu gewähren. In der Ausschussfassung wird nun darauf verwiesen, dass bei diesen Finanzhilfen auch das Zusätzlichkeits-Kriterium greifen soll. 

Unverändert blieb die Änderung im Artikel 125c Grundgesetz. Dadurch soll die Möglichkeit einer sofortigen Erhöhung und Dynamisierung der Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz geschaffen werden. Damit könnten Bundesprogramme zu den Schienenwegen aufgehoben, geändert oder neu aufgelegt werden. In Artikel 143e soll zudem eine Öffnungsklausel im Bereich der Bundesfernstraßenverwaltung hinsichtlich Planfeststellung und Plangenehmigung ergänzt werden. Auch diese Norm blieb im Ausschuss unverändert."

Die zweite und dritte Lesung fanden am 29. November 2018 statt (PlPr. 19/68, S. 7694-7720). Für die Änderungen stimmten 580 von 670 Abstimmenden (87 Nein-Stimmen, 3 Enthaltungen). Ausgereicht hätten 473 Stimmen (Zweidrittel von 709).  

Aus der Sicht des Bundesrates (https://www.bundesrat.de/DE/plenum/bundesrat-kompakt/18/973/41.html;jsessionid=B13AF2B9CB4CF242EEDA4A23AAEDE53C.1_cid349?nn=11765712#top-41) geht es um Folgendes:

"Grundgesetzänderung für Finanzhilfen an die Länder 

Es geht um sehr viel Geld: Der Bundesrat entscheidet am 14. Dezember 2018 über die Grundgesetzänderung, die es dem Bund ermöglicht, die Länder vermehrt bei Bildung und sozialem Wohnungsbau zu unterstützen. Der Bundestag hat die auf einen Regierungsentwurf zurückgehende Verfassungsänderung in namentlicher Abstimmung am 29. November 2018 beschlossen und dabei um einige Aspekte ergänzt. 

Umfassende Bildungsoffensive

Ziel der Bildungsoffensive ist der Ausbau des Digital- und Ganztagsangebots der Schulen. Um es dem Bund zu ermöglichen, die Länder dabei unabhängig von ihrer Finanzsituation zu unterstützen, wird Artikel 104 c Grundgesetz geändert. 

Investitionen in Sach- und Personalkosten

Bis zuletzt umstritten war im Bundestag, wie weit die mit der Grundgesetzänderung verbundene Lockerung des Kooperationsverbots gehen soll: ob der Bund nur in Sach- oder auch in Personalkosten investieren darf. Entgegen dem ursprünglichen Regierungsentwurf beschlossen die Parlamentarier, dass auch Investitionen in Schulpersonal und Qualität möglich sein sollen. Genauer: Der Bund darf Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie unmittelbar damit verbundene Kosten im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren, um die Qualität und Leistungsfähigkeit des Bildungswesens sicherzustellen. 

Länder sollen sich zur Hälfte der Kosten beteiligen

Ebenfalls kurzfristig geändert hat der Bundestag Artikel 104 b Grundgesetz: Hierdurch soll sichergestellt werden, dass sich die Länder zu 50 Prozent an den Kosten beteiligen, wenn der Bund ihnen Finanzhilfen gewährt. 

Zielgerichtete Investitionen in bezahlbaren Wohnraum

Der neue Artikel 104d Grundgesetz ermöglicht zweckgebundene Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau. Zwar kann der Bund die Länder über die so genannten Entflechtungsmittel auch derzeit schon bei der sozialen Wohnraumförderung unterstützen. Diese Gelder müssen aber gerade nicht zweckgebunden verwendet werden. 

Änderung der Gemeindeverkehrswegefinanzierung

Außerdem ändert das Gesetz Artikel 125 c Grundgesetz. Damit wird eine sofortige Erhöhung und Dynamisierung der Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ermöglicht. Hierdurch können Bundesprogramme zu Schienenwegen aufgehoben, geändert oder neu aufgelegt werden. 

Bauplanung für Fernstraßen

Schließlich sichert der Gesetzesbeschluss verfassungsrechtlich ab, dass ein Land Planfeststellungsverfahren für einen Autobahnbau auf Antrag auch selbst übernehmen kann. Diese Gesetzesänderung war im Zuge der Neuregelung der Bund-Länderfinanzbeziehung 2017 einfachgesetzlich beschlossen worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte das Gesetz jedoch nicht unterzeichnet, da er für die Regelung eine Verfassungsänderung erforderlich hielt."

Die Ministerpräsidenten der Länder haben am 5. Dezember 2018 beschlossen, ihnen nicht zuzustimmen, sondern den Vermnittlungsausschuß anzurufen. Stein des Anstoßes sind insbesondere die auf Empfehlung des Haushaltsausschusses des Bundestages vom Bundestag beschlossene Änderung des Art. 104b Abs. 2 Satz 5 GG ( „Die Mittel des Bundes sind in jeweils mindestens gleicher Höhe durch Landesmittel für den entsprechenden Investitionsbereich zu ergänzen; sie sind befristet zu gewähren und hinsichtlich ihrer Verwendung in regelmäßigen Zeitabständen zu überprüfen.“ ) und die Verknüpfung der Zustimmung des Bundesrates zur Beabsichtigten Grundgesetzänderung mit der abschlußreifen Bund-Länder-Vereinbarung zur Bundes-Finanzierung der Digitalisierung der Schulen ("DigitalPakt Schule"). Die Länder sehen anders als der Bund keine rechtliche Notwendigkeit, die Vereinbarung von einer Grundgesetzänderung abhängig zu machen.

Dementsprechend hat der Bundesrat in seiner 973. Sitzung am 14. Dezember 2018 einstimmig beschlossen, den Vermittlungsausschuß anzurufen. Auf seiner website heißt es dazu am selben Tage:

"Bundesrat schickt Grundgesetzänderung in den Vermittlungsausschuss

Die vom Bundestag beschlossene Grundgesetzänderung zur Lockerung des Kooperationsverbots geht in den Vermittlungsausschuss. Einstimmig sprachen sich die Länder am 14. Dezember 2018 dafür aus, das Gesetz grundlegend überarbeiten zu lassen. Vorangegangen war eine umfangreiche Debatte. 

Heftige Kritik: an der vorgesehene Kostenbeteiligung

Auf heftige Kritik der Länder stößt, dass der Bundestag Artikel 104 b Absatz 2 Grundgesetz kurzfristig neugefasst hat: Die Regelung soll sicherstellen, dass sich die Länder zu 50 Prozent an den Kosten beteiligen, wenn der Bund ihnen Finanzhilfen gewährt. Außerdem schreibt sie vor, dass die Verwendung der Mittel regelmäßig überprüft wird. 

Bildungsinvestitionen in Sach- und Personalkosten

Ebenfalls strittig ist die Frage, wie weit die Lockerung des Kooperationsverbotes gehen soll. Entgegen dem ursprünglichen Regierungsentwurf hatte der Bundestag beschlossen, dass der Bund auch in Schulpersonal und Qualität investieren darf. Danach sieht der geänderte Artikel 104 c Grundgesetz nunmehr vor, dass der Bund Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie unmittelbar damit verbundene Kosten im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren darf, um die Qualität und Leistungsfähigkeit des Bildungswesens sicherzustellen. 

Weitere Änderungen

Darüber hinaus regelt der Gesetzesbeschluss, dass der Bund den Ländern zweckgebundene Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau gewähren kann und ermöglicht eine sofortige Erhöhung und Dynamisierung der Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. 

Zeitlicher Fahrplan noch offen

Das Vermittlungsverfahren beginnt im kommenden Jahr. Ein genauer Termin für die erste Sitzung des gemeinsamen Gremiums von Bundestag und Bundesrat steht derzeit noch nicht fest."

Bereits am 20. Februar 2019 verständigte sich der Vermittlungsausschuß auf einen Kompromiß, den er wie folgt umschrieb (https://www.vermittlungsausschuss.de/SharedDocs/pm/2019/003.html):

"Verhandlungserfolg Vermittlungsausschuss erzielt Einigung zur Grundgesetzänderung

Bund und Länder haben sich auf eine Grundgesetzänderung zur Gewährung von Finanzhilfen insbesondere im Bildungsbereich geeinigt. Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat beschloss am 20. Februar 2019 einen Kompromissvorschlag.

Danach könnte der Bund den Ländern künftig Finanzhilfen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren. Auch unmittelbar damit verbundene und befristete Aufgaben der Länder und Gemeinden könnten nach der vorgeschlagenen Neufassung des Artikels 104c des Grundgesetzes finanziert werden. Die im Bundestagsbeschluss von Dezember 2018 enthaltene und umstrittene Formulierung, die Finanzhilfen „zur Sicherstellung der Qualität und der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens“ zu gewähren, wurde gestrichen. 

Kontrollrechte geklärt

Bei den bis zuletzt streitigen Kontrollrechten des Bundes über die Verwendung der Gelder erreichte der Vermittlungsausschuss ebenfalls eine Einigung. Nach seinem Vorschlag dürfte die Bundesregierung im Bildungsbereich von den Ländern Berichte und anlassbezogen die Vorlage von Akten verlangen, um die zweckentsprechende Mittelverwendung zu gewährleisten. Im Übrigen bleiben die in dem Bundestagsbeschluss enthaltenen Kontrollrechte unverändert.

50:50 Regelung gestrichen

Ein weiterer Aspekt des Kompromissvorschlages betrifft die finanzielle Beteiligung der Länder an den künftigen Bundesprogrammen im Bildungsbereich, sozialen Wohnungsbau und zur Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Hierzu bestimmt der vorgeschlagene Artikel 104b des Grundgesetzes, dass die Mittel des Bundes zusätzlich zu eigenen Mitteln der Länder bereit gestellt werden. Der vom Bundestag beschlossene Gesetzestext sah vor, dass sich die Länder immer in gleicher Höhe wie der Bund beteiligen müssen. 

Der derzeit amtierende Vorsitzende, Hermann Gröhe, MdB, erklärt dazu:

„Der Vermittlungsausschuss hat seine Verhandlungsfähigkeit wieder einmal bewiesen. In kurzer Zeit haben wir ein gutes Ergebnis erzielt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Kompromiss in Bundestag und Bundesrat die notwendige Zweidrittelmehrheit findet. Besonderer Dank gilt den beiden Verhandlungsführern, Frau Staatsministerin Doris Ahnen, Rheinland-Pfalz, und Andreas Jung, MdB, die es geschafft haben, in nur drei Sitzungen der vom Vermittlungsausschuss eingesetzten Arbeitsgruppe wesentliche Kompromisslinien auszuloten. Damit können nun die vorgesehenen Milliarden aus dem Bundeshaushalt schon bald fließen und den Schulen in unserem Lande zu Gute kommen.“

Noch erforderlich: Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat

Der Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses muss nun noch von Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit bestätigt werden. Der Bundestag soll bereits morgen entscheiden. Der Bundesrat wird in seiner nächsten Sitzung am 15. März 2019 über den Einigungsvorschlag abstimmen. "

Bereits einen Tag später stimmte der Bundestag dem Kompromißvorschlag zu. Auf der homepage  (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw08-de-grundgesetz-aenderung/594524) liest sich das so:

"Der Bundestag hat am Donnerstag, 21. Februar 2019, der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat (19/7940) zur Änderung der Finanzverfassung des Grundgesetzes zugestimmt. In namentlicher Abstimmung votierten 574 Abgeordnete für den Kompromissvorschlag, 74 Abgeordnete lehnten ihn ab. Vor der namentlichen Abstimmung wurde über die fünf einzelnen Änderungsvorschläge abgestimmt. Sie wurden jeweils mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gegen das Votum der AfD-Fraktion angenommen. Für die namentliche Schlussabstimmung war im Bundestag, wie immer bei Grundgesetz-Änderungen, eine Zweidrittelmehrheit von 473 Stimmen erforderlich. 

Der Vermittlungsausschuss hatte sich in seiner Sitzung am Mittwoch, 20. Februar, auf einen Kompromiss zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/3440) geeinigt, durch den die Artikel 104c, 104d, 125c und 143e des Grundgesetzes geändert werden. Da aufgrund des Vermittlungsvorschlags auch der Artikel 104b geändert wird, erhält das Gesetz den neuen Namen „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 104b, 104c, 104d, 125c, 143e)“.

Bund soll Finanzhilfen gewähren können

Nach dem Einigungsvorschlag kann der Bund den Ländern künftig Finanzhilfen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren. Auch unmittelbar damit verbundene und befristete Aufgaben der Länder und Gemeinden können nach der Neufassung des Artikels 104c des Grundgesetzes finanziert werden. 

Die im Bundestagsbeschluss von Dezember 2018 enthaltene und umstrittene Formulierung, die Finanzhilfen „zur Sicherstellung der Qualität und der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens“ zu gewähren, wurde gestrichen.

Kontrollrechte geklärt

Bei den bis zuletzt streitigen Kontrollrechten des Bundes über die Verwendung der Gelder erreichte der Vermittlungsausschuss ebenfalls eine Einigung. Nach seinem Vorschlag darf die Bundesregierung im Bildungsbereich von den Ländern Berichte und anlassbezogen die Vorlage von Akten verlangen, um die zweckentsprechende Mittelverwendung zu gewährleisten. 

Im Übrigen bleiben die in dem Bundestagsbeschluss enthaltenen Kontrollrechte unverändert.

50:50 Regelung gestrichen

Ein weiterer Aspekt des Kompromisses betrifft die finanzielle Beteiligung der Länder an den künftigen Bundesprogrammen im Bildungsbereich, sozialen Wohnungsbau und zur Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Hierzu bestimmt der vorgeschlagene Artikel 104b des Grundgesetzes, dass die Mittel des Bundes zusätzlich zu eigenen Mitteln der Länder bereit gestellt werden. Der vom Bundestag beschlossene Gesetzestext sah vor, dass sich die Länder immer in gleicher Höhe wie der Bund beteiligen müssen.

Der derzeit amtierende Vorsitzende des Vermittlungsausschusses, der CDU-Bundestagsabgeordnete Hermann Gröhe, hat dazu erklärt: „Der Vermittlungsausschuss hat seine Verhandlungsfähigkeit wieder einmal bewiesen. In kurzer Zeit haben wir ein gutes Ergebnis erzielt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Kompromiss in Bundestag und Bundesrat die notwendige Zweidrittelmehrheit findet. Besonderer Dank gilt den beiden Verhandlungsführern, Frau Staatsministerin Doris Ahnen, Rheinland-Pfalz, und Andreas Jung, MdB, die es geschafft haben, in nur drei Sitzungen der vom Vermittlungsausschuss eingesetzten Arbeitsgruppe wesentliche Kompromisslinien auszuloten. Damit können nun die vorgesehenen Milliarden aus dem Bundeshaushalt schon bald fließen und den Schulen in unserem Lande zu Gute kommen.“

AfD-Antrag auf Absetzung abgelehnt

Vor der Abstimmung, die ohne Aussprache vorgesehen war, hatte die AfD-Fraktion beantragt, den Tagesordnungspunkt abzusetzen, weil wesentliche Inhalte des Kompromissvorschlags nicht zuvor in einer Bundestagsdebatte verhandelt worden seien. Der Parlamentarische Geschäftsführer Dr. Bernd Baumann verwies auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Dezember 2018 zur Biersteuer. Der Antrag wurde mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgewiesen.

Auch Dr. Götz Frömming (AfD) sagte, der Gesetzentwurf unterscheide sich substanziell von dem zunächst im Bundestag verabschiedeten Gesetz, zu dem der Bundesrat den Vermittlungsausschuss angerufen hatte. „Kungelrunden“ seien das Gegenteil von dem, was das Grundgesetz meine, sagte Frömming. Der Bürger könne seine Kontrollfunktion nun nicht wahrnehmen.

„AfD hat sich nicht zu Wort gemeldet“

Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Stefan Müller, erinnerte daran, dass es zwei Vermittlungsrunden im Vermittlungsausschuss gegeben habe und eine Arbeitsgruppe gebildet worden sei, in der sich die AfD nicht zu Wort gemeldet habe. Es hätte die Möglichkeit gegeben, Bedenken im Vermittlungsausschuss vorzutragen.

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, verwies darauf, dass die AfD der erforderlichen Fristverkürzung, um den Kompromissvorschlag am 21. Februar im Bundestag abstimmen zu können, mit Zustimmung der AfD zustande gekommen sei. Die SPD wolle, dass der soziale Wohnungsbau in Deutschland finanziert und Schulen auf den neuesten Sand gebracht werden können.  

„Guter Tag für die Bildung in Deutschland“

Dr. Marco Buschmann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, nannte das Vermittlungsergebnis markiere einen guten Tag für die Bildung in Deutschland. Man wolle nicht nur in Beton und Kabel, sondern auch in Know-how und Köpfe investieren. Die FDP bekenne sich zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der Schulen. Der Kompromiss sei ein „Erfolg unseres Verfassungslebens“.

Dr. Gesine Lötzsch (Die Linke) begrüßte ebenfalls die Einigung. Gewinner seien die Kinder und Eltern. Die „Bildungsbremse“ des 2006 eingeführten Kooperationsverbots von Bund und Ländern in der Bildung müsse endlich gelöst werden. Der Bundestag müsse dafür sorgen, dass Geld für die Schulen wirklich bei den Schulen und Geld für sozialen Wohnungsbau beim sozialen Wohnungsbau ankommt. Die beschlossenen fünf Milliarden Euro für den Digitalpakt würden nicht ausreichen, sagte Lötzsch.

Britta Haßelmann, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, sagte, die AfD versuche, Parlament und Verfassungsorgane verächtlich zu machen. An diesem Verfahren sei nichts „unsauber“. Mit dem Kompromiss habe man die Frage eines modernen Bildungsföderalismus ein Stück weitergebracht. Der Kompromiss sei „breit getragen“.

Zwei-Drittel-Mehrheiten erforderlich

Der Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses muss von Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit bestätigt werden. Der Bundesrat wird in seiner nächsten Sitzung am 15. März 2019 über den Einigungsvorschlag abstimmen."

Die Änderung konnte mit den erforderlichen Mehrheiten verabschiedet werden. Sie wurde am 28. März 2019 ausgefertigt und am 3. April verkündet (BGBl. I S. 404). Sie trat am 4. April 2019 in Kraft.

f) 2019 II: Art. 72, 105, 125b GG – konkurrierende Zuständigkeit für die Grundsteuer mit Abweichungskompetenz der Länder

Unter dem 25. Juni 2019 legten die Fraktion der CDU/CSU und der SPD  den Entwurf einer Grundgesetzänderung vor (BT-Drs. 19/11084), um der nach der Nichtigerklärung des Grundsteuergesetzes durch das Bundesverfassungsgericht notwendigen Reform der Grundsteuer eine verläßliche Ermächtigungsgrundlage zu verschaffen:

Die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die notwendige Reform des Grundsteuer- und des Bewertungsgesetzes werde nicht einheitlich beantwortet. Es würden unterschiedliche Auffassungen zur Frage der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung der Grundsteuer zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im Bundesgebiet nach der seit dem 16. November 1994 geltenden Fassung des Artikels 72 Absatz 2 Grundgesetz (GG) vertreten. Artikel 125a Absatz 2 GG räume dem Bund lediglich eine begrenzte Änderungskompetenz des fortgeltenden Bundesrechts unter Beibehaltung der wesentlichen Elemente ein, erlaube aber keine grundlegende Neukonzeption der Materie. Um die Gesetzgebungskompetenz des Bundes unzweifelhaft abzuisichern, erhalte der Bund mit der Grundgesetzänderung uneingeschränkt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Grundsteuer. Zeitgleich werde den Ländern über eine Ergänzung in Artikel 72 Absatz 3 GG eine umfassende abweichende Regelungskompetenz eröffnet. Die Grundsteuer biete sich aufgrund der Immobilität des Steuerobjekts und des bereits in der Verfassung vorhandenen kommunalen Hebesatzrechts dafür an, die Steuerautonomie der Länder zu stärken.

Dementsprechend sah der Entwurf vor, die Grundsteuer ausdrücklich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zu unterstellenen, ohne daß der Bund auf die Erfüllung der Voraussetzungen des Artikels 72 Absatz 2 GG angwiesen ist. Um den Ländern die Befugnis zu umfassenden abweichenden landesrechtlichen Regelungen einzuräumen, wird den Ländern für die Grundsteuer das Recht zu abweichenden Regelungen nach Artikel 72 Absatz 3 GG eingeräumt.

Die Bundesregierung folgte wenig später mit einem identischen Entwurf (BR-Drs. 327/19 = BT-Drs. 19/3454), der auf Empfehlung des Finanzausschusses vom 17. Oktober 2019 (BT-Drs. 19/14157) für erledigt erklärt wurde. Der Bundesrat hatte keine Einwendungen, so daß das Gesetz am 18. Oktober 2019 in 2. und 3. Beratung beschlossen werden konnte (BT-PlPr. 19/119, S. 14691-14707, 14708). Der Text wurde am 15. November ausgefertigt und am 20. November 2019 verkündet (BGBl. I S. 1546). Gemäß seinem Art. 2 trat er am 21. November 2019 in Kraft.

Die Änderungen lauten:

"1. In Artikel 72 Absatz 3 Satz 1 Nummer 6 wird der Punkt am Satzende durch ein Semikolon ersetzt und [der Nummer 6] wird folgende Nummer 7 angefügt: 

„7. die Grundsteuer“. 

2. Artikel 105 Absatz 2 wird wie folgt geändert: 

a) Folgender Satz wird vorangestellt: 

„Der Bund hat die konkurrierende Gesetzgebung über die Grundsteuer.“ 

b) In Satz 2 werden die Wörter „Der Bund“ durch das Wort „Er“ ersetzt. 

3. Dem Artikel 125b wird folgender Absatz 3 angefügt: 

„(3) Auf dem Gebiet des Artikels 72 Absatz 3 Satz 1 Nummer 7 darf abweichendes Landesrecht der Erhebung der Grundsteuer frühestens für Zeiträume ab dem 1. Januar 2025 zugrunde gelegt werden.“"

g) 2020: Art. 104a Abs. 3, 143h – Auftragsverwaltung; einmalige Ausgleichszahlung des Bundes an die Gemeinden (Corona)

Der unter dem 30. Juni 2020 eingebrachte Entwurf der Regierungsfraktionen (BT-Drs. 19/20595) sah folgende Ergänzungen des Grundgesetzes vor:

  1. Dem Artikel 104a Absatz 3 wird folgender Satz angefügt:

„Bei der Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird das Gesetz im Auftrage des Bundes ausgeführt, wenn der Bund drei Viertel der Ausgaben oder mehr trägt.“ 

  1. 2. Nach Artikel 143g wird folgender Artikel 143h eingefügt: 

„Artikel 143h Als Folgewirkung der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 gewährt der Bund im Jahr 2020 einmalig einen pauschalen Ausgleich für Mindereinnahmen aus der Gewerbesteuer zugunsten der Gemeinden und zu gleichen Teilen mit dem jeweiligen Land. Der Ausgleich wird von den Ländern an die Gemeinden auf Grundlage der erwarteten Mindereinnahmen weitergeleitet. Bestehen in einem Land keine Gemeinden, so steht der Ausgleich durch den Bund dem Land zu. Der den Ländern vom Bund zum Ausgleich geleistete Betrag berücksichtigt zusätzlich Auswirkungen der Mindereinnahmen gemäß Satz 1 auf Zu- und Abschläge sowie auf Zuweisungen gemäß Artikel 107 Absatz 2. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Der Ausgleich bleibt bei der Bemessung der Finanzkraft nach Artikel 107 Absatz 2 unberücksichtigt. Artikel 106 Absatz 6 Satz 6 gilt entsprechend.“

Zur Begründung hieß es (a.a.O. S. 1-2):

„Der Bund beabsichtigt, die Kommunen mit Wirkung ab dem Jahr 2020 finanziell zu entlasten. Zum einen dauerhaft durch eine höhere Beteiligung an den Ausgaben für die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Zum anderen als einmalige gezielte Hilfe anlässlich der COVID-19-Pandemie. Derzeit beteiligt sich der Bund auf der Grundlage des Artikels 104a Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) höchstens mit 49 Prozent an den bundesweiten Ausgaben für die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1 SGB II (§ 46 Absatz 5 Satz 2 SGB II). Die Begrenzung der Beteiligung auf unter 50 Prozent vermeidet, dass für die Ausführung des Gesetzes nach Artikel 104a Absatz 3 Satz 2 GG die Rechtsfolge der Bundesauftragsverwaltung eintritt. Der Bund soll die Möglichkeit erhalten, sich künftig bis unterhalb der Grenze von 75 Prozent an den Ausgaben für die Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1 SGB II zu beteiligen, ohne dass das Gesetz insoweit in Bundesauftragsverwaltung ausgeführt würde. Hierzu muss eine Ausnahme zur Regelung des Artikels 104a Absatz 3 Satz 2 GG geschaffen werden, gemäß der ein Geldleistungsgesetz im Auftrage des Bundes ausgeführt wird, wenn der Bund die Hälfte der Ausgaben für Geldleistungen oder mehr trägt. Aufgrund der COVID-19-Pandemie sind erhebliche Mindereinnahmen auch bei der den Gemeinden zustehenden Gewerbesteuer zu erwarten, die die Erfüllung der kommunalen Aufgaben im Bereich der örtlichen Daseinsvorsorge unmittelbar und signifikant beeinträchtigen. Eine Beteiligung des Bundes an dem gebotenen kurzfristigen Ausgleich des bundesweiten starken Einbruchs der Steuereinnahmen der Gemeinden ist erforderlich, um die öffentliche Daseinsvorsorge und die kommunalen Investitionen als unverzichtbare Grundlage für den wirtschaftlichen Aufholprozess zur Überwindung der Folgen der Pandemie zu gewährleisten. Der Bund hat bisher keine verfassungsrechtliche Kompetenz für die Gewährung eines einmaligen, gezielten Ausgleichs von Mindereinnahmen der Gemeinden bei der Gewerbesteuer. Im zweistufigen Bundesstaat sind die Kommunen grundsätzlich Teil der Länder. Der Bund soll daher mittels einer einmalig anwendbaren Ausnahmeregelung ermächtigt werden, sich angesichts der massiven Gewerbesteuermindereinnahmen aufgrund der COVID-19-Pandemie finanziell unmittelbar an den erforderlichen Maßnahmen der Länder zur Entlastung ihrer Kommunen zu beteiligen. Die grundsätzliche Verantwortung der Länder für die Gewährleistung einer angemessenen Finanzausstattung ihrer Kommunen bleibt davon unberührt; die Ausnahmeregelung kann daher, über diesen konkreten Fall hinaus, nicht auf andere Sachverhalte angewandt werden.“

Auf Empfehlung des Haushaltsausschusses (BT-Drs. 19/22586) vom 16. September 2020 nahm der Bundestag den Entwurf in zweiter und dritter Lesung am 17. September 2020 in unveränderter Form an und erklärte er zugleich den wortgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 19/21753) für erledigt (BT-PlPr. 19/176 S. 22180-22188, 22195).

Der Bundesrat stimmte am 18. September 2020 zu (BR-Drs. 540/20 [B]). Das am 29. September 2020 ausgefertigte Gesetz wurde am 7. Oktober 2020 verkündet (BGBl. I S. 2048) und trat am 8. Oktober 2020 in Kraft.

Art. 143h GG trat am 31. Dezember 2020 bereits wieder außer Kraft (Art. 2 Satz 2 des Änderungsgesetzes).


h) 2021: Art. 6 Abs. 2 – Kinderrechte?

Unter dem 22. Januar 2021 hat die Bundesregierung den Entwurf einer Ergänzung des Art. 6 Abs. 2 GG um ausdrückliche Kinderrechte (BR-Drs. 54/21 = BT-Drs. 19/28138) eingebracht:

„Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“ 

Der Text kommt spät, und seine Formulierungen sind hölzern, kümmerlich und rückschrittlich; unsere Kinder haben Besseres verdient. Was soll es auf Kinderrechte zu verweisen, statt sie zu regeln? Was soll es zu sagen, das Kindeswohl sei "angemessen zu berücksichtigen", statt ihm Vorrang vor allem andern einzuräumen (etwas besser insofern die Entwürfe von Bündnis 90/Die Grünen BT-Drs. 19/10552 von 2019 [Die ungehörige Verschleppung durch den Bundestag ist ein eigenes Thema] und der FDP BT-Drs. 19/28440 von 2021)?

Zu Recht hat der Bundesrat in seiner Sitzung am 26. März 2021 nach deutlichen Worten aus Thüringen und Hamburg keine Stellungnahme beschlossen (BR-PlPr. 1002 S. 116-118), zu Recht hat sich die Opposition im Bundestag geweigert, der Koalition die verfassungsändernde Mehrheit im Parlament zu verschaffen (Verlautbarung der Bundesjustizministerin vom 8. Juni 2021). Eine weitere Blamage zum Ende der Legislaturperiode bleibt dem Parlament damit erspart.


i) 2022 I: Art. 87a Abs. 1a GG – Sondervermögen Bundeswehr

Der russische Überfall der Ukraine verstärkte auch die Sorge um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. Die Mängel der Ausrüstung der Bundeswehr wurden seit langem beklagt, aber nicht behoben. Das soll sich nun ändern. Die finanzielle Grundlage soll ein auf den neuen Absatz 1a des Art. 87a GG gestütztes Sondervermögen Bundeswehr liefern (Regierungsentwurf, BT-Drs. 20/1410 vom 13. April 2022):

„(1a) Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten. Auf die Kreditermächtigung sind Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 115 Absatz 2 nicht anzuwenden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz."

Mit verfassungsändernder Mehrheit, die der CDU/CSU-Fraktion zu verdanken war, hat der Bundestag in zweiter und dritter Beratung am 3. Juni 2022 zugestimmt (BT-PlPr. 20/42, S. 4222); der Bundesrat folgte am 10. Juni 2022 (BR-Drs. 262/22 [B]).

Ob für die mit dem Sondervermögen bewirkte Abweichung von der Schuldenbremse das Grundgesetz geändert werden mußte, war angesichts des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG, der Abweichungen u.a. im Falle von "außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen können", bereits gestattet, nicht ganz unumstritten. Rechtssicherer und klarer ist die ausdrückliche Verfassungsänderung allemal.

Gleichzeitig ist das das Nähere bestimmende Bundesgesetz beschlossen worden (Regierungsentwurf BT-Drs. 20/1409 vom 13. April 2022; BT-Haushaltsausschuß Anhörung am 9. Mai 2022, StenPr 20/13, und Beschlußempfehlung/Bericht, BT-Drs. 20/2090 vom 1. Juni 2022; zweite und dritte Beratung am 3. Juni 2022, BT-PlPr. 20/42, S. 4335; Zustimmung des Bundesrates am 10. Juni 2022, BR-Drs. 263/22 [B]). 

Hoffen wir, daß trotz der Gleichzeitigkeit der beiden Gesetzgebungsverfahren in ihren abschließenden Phasen daran gedacht wird, daß Art. 87a Abs. 1a GG verkündet und in Kraft getreten sein muß, ehe das auf ihn gestützte Gesetz berkündet (besser noch: ausgefertigt) wird (vgl. zuletzt BVerfGE 123, 267 [301]). 2017 (vgl. oben d) drohte das, übersehen zu werden, und manche Länder wissen noch heute nichts davon.

Die Hoffnung wurde nicht enttäuscht: Die Grundgesetzänderung wurde am 28. Juni ausgefertigt und am 30. Juni 2022 verkündet (BGBl. I S. 968). Sie tritt am 1. Juli 2022 in Kraft (vgl. Art. 2). Am selben Tag wurde das Ausführungsgesetz ausgefertigt. Am 6. Juli 2022 wurde es verkündet (BGBl I S. 1030). Die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts  an die Chronologie von Ermchtigung und Gebrauchmachen von ihr wurden also gerade eben noch eingehalten. Es ist nicht leicht zu sehen, warum seine Aufertigung nicht vorsorglich auf den 2. Juli verschoben wurde..

Jetzt gilt die Hoffnung der Schnelligkeit, Sachgemäßheit und Kostenangemessenheit der Nachrüstung der Bundeswehr.

j) 2022 II: Art. 82 Abs. 1 GG – Verkündung von Gesetzen und Verordnungen des Bundes

Das Gesetz vom 19. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2478) – verkündet am 23. Dezember, in Kraft seit dem 24. Dezember – faßt Art. 82 Abs. 1 GG teilweise neu und ergänzt ihn vor allem durch die Ermächtigung zur elektronischen Verkündung von Bundesgesetzen:

 „(1) Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Das Bundesgesetzblatt kann in elektronischer Form geführt werden. Rechtsverordnungen werden von der Stelle, die sie erlässt, ausgefertigt. Das Nähere zur Verkündung und zur Form von Gegenzeichnung und Ausfertigung von Gesetzen und Rechtsverordnungen regelt ein Bundesgesetz.“ 

Das Nähere im Sinne des neuen Satzes 4 regelt das Gesetz vom 20. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2752) – verkündet am 28. Dezember, in Kraft seit dem 1. Januar 2023.

Die Initiative ging von der Bundesregierung aus (Entwurf vom 6. Mai 2022, BR-Drs. 197/22 = BT-Drs. 20/2729 vom12. Juli 2022). Satz 2 war in ihr noch nicht enthalten; allerdings deckte sie auch ohne ihn (implizit) die elektronische Verkündung. Aber der BT-Ausschuß für Inneres und Heimat regte dann doch an, ihre Möglichkeit ausdrücklich in der Verfassung festzuschreiben (Beschlußempfehlung vom 2022, BT-Drs. 20/4699, S. 4):

"Mit der Änderung soll ausdrücklich klargestellt werden, dass der vorgesehene Ausgestaltungsvorbehalt des einfachen Gesetzgebers die Umstellung auf eine ausschließlich elektronische Führung des Bundesgesetzblattes umfasst." 

Solche Sorgen möchte man haben.

Das Bemerkenswerteste an der Entwurfsbegründung der Bundesregierung ist das erneuerte Bekenntnis zur sog. Prüfungszuständigkeit des Bundespräsidenten (BT-Drs. 20/2729, S. 7):

"Für die Gegenzeichnung und die Ausfertigung beschränkt sich der Ausgestaltungsvorbehalt auf die Form, weil nur insoweit Regelungsbedarf besteht. Der sonstige Bedeutungsgehalt, insbesondere die dem Bundespräsidenten vor der Ausfertigung obliegende Kompetenz zur Prüfung eines Gesetzes (vgl. BVerfGE 131, 47 <53>, BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019 – 2 BvQ 59/19 , Rn. 21*), ist auch in Zukunft allein der Verfassung** zu entnehmen." 

*= BVerfGE 152, 51 RN 21. Warum die Bundesregierung nicht auch diese Entscheidung nach der amtlichen Sammlung zitiert, weiß ich nicht. 

**Weise schweigt die Bundesregierung zum Umfang der präsidialen Prüfungskompetenz und zum Ort, an dem die Verfassung sie womöglich regelt. Nicht alle erinnern sich heute noch daran, daß Art. 93 Abs. 3 (= Abs. 2 a.F.) mit den Wörtern "... wird ... tätig" einen Hinweis enthält – neben Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG natürlich.